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AFRIKA/2074: Südliches Afrika - von Erfolgen der Hungerbekämpfung abgekoppelt (SB)


Erfolg der "Statistricker"? Bereits 1990 weltweit weniger Hunger als angenommen

UN-Organisationen verbessern angeblich ihre Methoden zur Hungererfassung, räumen aber Unsicherheiten ein



Die Vereinten Nationen haben die Zahl der Menschen, die chronisch nicht ausreichend zu essen haben, auf "nur" noch 868 Millionen (bei rund zwei Milliarden Mangelernährten) heruntergerechnet. Ob tatsächlich weniger Menschen Hunger leiden als bislang angenommen, ist insofern fraglich, als daß aus der Sicht der Statistiker die Datengrundlage zwar verbessert wurde, aber nach wie vor deutliche Beschränkungen aufweist.

Die neuen Berechnungsmethoden sind noch immer ungenügend, räumen die an der Veröffentlichung des Berichts "The State of Food Insecurity in the World 2012" [1] beteiligten Organisationen FAO, WFP und IFAD [2] ein. Und zwar, wie an dieser Stelle ergänzt werden muß, keineswegs hinsichtlich geringfügiger Faktoren, die dem weltweiten Hunger zugrundegelegt werden, sondern mehrerer zentraler Felder. So heißt es in dem Bericht: "Die Einschätzungen zur Unterernährung geben nicht vollständig die Hungerfolgen des Preisanstiegs der Jahre 2007, 2008 und die wirtschaftliche Abschwächung einiger Länder seit 2009 wieder, insbesondere nicht den gegenwärtigen Preisanstieg."

Das galt den Angaben zufolge auch für die früheren Berechnungsmethoden, insofern hätte sich in dieser Hinsicht nichts geändert. Die Unsicherheit besitzt Kontinuität.

Auch würden andere Indikatoren benötigt, um ein ganzheitliches Erfassen von Unterernährung und Ernährungsunsicherheit zu erhalten, die Berechnungen sollten nicht nur auf der Basis der Nährwerte durchgeführt werden, schlagen die Autoren vor. Darüber hinaus erklären sie, daß der größte Teil der bislang unterschätzten Erfolge in der Hungerbekämpfung zeitlich vor dem globalen Preisanstieg für Grundnahrungsmittel in den Jahren 2007, 2008 eintrat und sich der Fortschritt in der Hungerbekämpfung seitdem zunächst verlangsamt und inzwischen eingependelt hat.

Die Aussichten sind also gar nicht so rosig, wie es manche Tageszeitungen mit auf Beruhigung der Leserschaft zielenden Überschriften wie "Hunger in der Welt noch groß - Aber Hoffnungszeichen" (Welt Online) [3] glauben machen wollen.

Zumal die in dem Bericht bis zum Jahr 1990 zurückgerechneten "Fortschritte" nur im globalen Maßstab, nicht aber für Afrika südlich der Sahara gelten. Dort nimmt die Zahl der Hungernden überdurchschnittlich zu - ob nach alter oder neuer Berechnungsmethode, macht keinen Unterschied. Demnach stieg der Anteil der Unterernährten in den Subsaharastaaten binnen zwanzig Jahren von 17,0 Prozent im Zeitraum 1990-92 auf 27,0 Prozent im Zeitraum 2010-12; die Zahl der Unterernährten wuchs von 170 auf 234 Millionen. Keine andere Weltregion hat einen so großen Sprung in Richtung Hunger vollzogen wie die Staaten des südlichen Afrikas!

Doch zugleich berichtet die Weltbank, daß ungeachtet der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise das Wirtschaftswachstum in Afrika mit rund fünf Prozent konstant hoch bleibt [4]. Was immer hier mit "Wachstum" gemeint sein soll, für die ärmsten der Armen, auf dem Land oder in den Städten, die sich keine Nahrung leisten können, gilt das offensichtlich nicht. Die Armut hat den Mittelstand erreicht.

Es waren nicht die Hungerleider aus Niger, DR Kongo oder Somalia, die 2007, 2008 auf die Straße gingen und wegen der gestiegenen Nahrungsmittelpreise protestierten, sondern vorwiegend Stadtbewohner in Ländern wie Senegal oder Kamerun, die gezwungen waren, ihre Nahrungszufuhr von drei Mahlzeiten pro Tag auf zwei oder eine zu reduzieren. Seitdem sind die Preise für Grundnahrungsmittel nicht nennenswert gefallen, einige Erzeugnisse haben die früheren Rekordmarken sogar übertroffen. Der Nahrungsnotstand vor einigen Jahren, der in Dutzenden Ländern zu Unruhen geführt hat und auch eine der Quellen ist, aus dem sich der sogenannte arabische Frühling speiste, ist nach wie vor virulent.

Bereits im Titel und gleich zu Beginn ihres neuen Berichts schreiben die UN-Organisationen, daß zur Verringerung von Hunger und Unterernährung wirtschaftliches Wachstum notwendig sei, aber daß das allein nicht genüge. Das mag aus ihrer Sicht zutreffen, schränkt aber die Analysemöglichkeiten von vornherein ein. Der Wachstumsbegriff ist eng verbunden mit einer bestimmten Wirtschaftsweise, die hier faktisch als alternativlos dargestellt wird. Warum ein solches Bekenntnis?

Bei wissenschaftlichen Publikationen ist es üblich, daß sich die Autorinnen oder Autoren zu einen möglichen Interessenkonflikt äußern. Es könnte ja sein, daß sie beispielsweise Drittmittel von einem Unternehmen erhalten, das von ihrer Forschungstätigkeit profitiert. Bei den UN-Institutionen hingegen ist das nicht üblich, obgleich ihre Expertisen zur Grundlage politischer Entscheidungen genommen werden. Nun sind die FAO und andere UN-Organisationen auf die finanziellen Mittel der Geberländer und generell deren Unterstützung angewiesen. Würden sie sich nicht prinzipiell zum Wirtschaftswachstum bekennen, müßten sie damit rechnen, daß ihnen künftig Steine in den Weg gelegt werden. Wenn jetzt von der FAO und ihren Partnerorganisationen vorangestellt wird, daß Wirtschaftswachstum wichtig ist, wird dadurch alternativen Konzepten der Hungerbekämpfung eine Absage erteilt.

Hier soll nicht geleugnet werden, daß ein abrupter Stopp des Wirtschaftswachstums gravierende Verarmungsfolgen nach sich ziehen würde. Ein vorweggeschicktes Bekenntnis zum Wirtschaftswachstum in einem Hungerbericht jedoch, der eigentlich überparteilich sein sollte, bedeutet, daß die Möglichkeit, das Wirtschaftswachstum an sich als Quelle des Mangels identifizieren zu können, von vornherein ausgeschlossen wird.

In diesem Zusammenhang könnte es nützlich sein, sich zu vergegenwärtigen, daß die Hungernden und Mittellosen von der Wirtschaft, deren Fahne von den UN-Organisationen hochgehalten wird, gar nicht als Nachfragefaktor gerechnet werden. Wo keine Mittel sind, besteht im ökonomischen Verständnis keine Nachfrage, die gestillt werden könnte. Dadurch fällt der eklatante Bedarf der Hungernden an Nahrungsmitteln weitgehend aus dem Fokus der Ökonomie. Abhilfe der Not zu schaffen bleibt somit von vornherein Aufgabe der öffentlichen Hand oder von Hilfsorganisationen.

Ein Vergleich der alten mit den neuen Methoden, wie sie beim Verfassen des Berichts "The State of Food Insecurity in the World 2012" verwendet wurde, läßt die Unsicherheiten hinsichtlich des tatsächlichen Ausmaßes des Hungers nicht verschwinden. So heißt es, daß lediglich Nährwerte berechnet, nicht aber andere Aspekte der Ernährung berücksichtigt wurden. In der Fachliteratur wird es als "versteckter Hunger" bezeichnet, wenn die Ernährung ungenügend ist, obgleich der reine Nährwert ausreichen müßte.

Dabei handelt es sich ebenso um eine Einschränkung wie, daß die Verfasser des Berichts eigenen Angaben nach von einem "Minimum der Nährwertzufuhr" ausgegangen sind, "obgleich viele arme und hungrige Menschen wahrscheinlich ein Leben führen, bei dem sie anstrengende körperliche Arbeit verrichten". Das bedeutet, daß bei der Berechnung der Zahl der Hungernden nicht ein möglicher Trend berücksichtigt würde, bei dem eine wachsende Zahl von Menschen immer größere Anstrengungen unternimmt, um sich Nahrung zu beschaffen. Selbstverständlich würde auch der umgekehrte Fall nicht erfaßt, wenn also die Menschen zunehmend weniger körperliche Arbeit verrichteten. Letzteres dürfte allerdings eher nicht der Wirklichkeit entsprechen (auch wenn diese Einschätzung durch keine Statistik belegt wird.)

Der neue Hungerbericht der Vereinten Nationen weist trotz des Bemühens um einen erweiterten Ansatz nach wie vor signifikante Unsicherheiten auf. Keine Unsicherheit dagegen besteht darin, daß die Subsaharastaaten zu den Verlierern der globalen Ordnung gehören. Die höheren Einnahmen aus dem Verkauf von Ressourcen für den Weltmarkt kommen nicht bei denen an, die dringend darauf angewiesen sind.


Fußnoten:

[1] FAO, WFP and IFAD (2012): The State of Food Insecurity in the World 2012. Economic growth is necessary but not sufficient to accelerate reduction of hunger and malnutrition. Rome, FAO. (Im Internet abrufbar unter: http://www.fao.org/docrep/016/i3027e/i3027e.pdf)

[2] FAO - Food and Agriculture Organization (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation)
WFP - World Food Programme (Welternährungsprogramm)
IFAD - International Fund for Agricultural Development (Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung)

[3] http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article109706508/Hunger-in-der-Welt-noch-gross-Aber-Hoffnungszeichen.html

[4] http://de.nachrichten.yahoo.com/wirtschaftswachstum-afrika-erweist-stabil-164219569--finance.html

16. Oktober 2012