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ASIEN/627: Hamid Karsai bleibt trotz NATO afghanischer Präsident (SB)


Hamid Karsai bleibt trotz NATO afghanischer Präsident

Afghanistans Souveränität durch den Sieg Karsais gestärkt


Mit Bestürzung reagierten im Westen Politiker und Medienkommentatoren auf den Sieg Hamid Karsais bei den afghanischen Präsidentenwahlen. Überraschend hatte die Wahlkommission am 2. November Karsai zum Sieger erklärt, nachdem am Tag davor der Zweitplatzierte bei der ersten Wahlrunde am 20. August, Abdullah Abdullah, seinen Verzicht auf die Teilnahme an der für den 7. November geplanten Stichwahl erklärt hatte. Der ehemalige Außenminister führte als Grund für den Rückzug seiner Kandidatur die Befürchtung an, daß auch die zweite Wahlrunde von massiven Wahlmanipulationen begleitet sein würde.

Man könnte den Eindruck bekommen - vermutlich sollte man es auch -, daß die zur Schau gestellte Enttäuschung des Westens über die Wiederwahl Karsais damit zu tun hätte, daß sich dieser dem Willen des armen, gebeutelten, angesichts schwerer Drohungen der Taliban mutigen afghanischen Wahlvolkes und dem geschichtlichen Siegesmarsch der Demokratie widersetzt hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Nach Informationen der UN-Wahlbeobachtungsmission gab es Wahlmanipulationen sowohl seitens des Karsai- als auch des Abdullah-Lagers. Während eine Million Stimmen für Karsai gefälscht waren, waren es bei Abdullah 300.000. Nachdem diese ungültigen Stimmen abgezogen worden waren, stellte es sich heraus, daß der amtierende Präsident einen Stimmenanteil von 50 Prozent, sein Widersacher dagegen von lediglich 34 Prozent erhalten hatte.

Während in der Berichterstattung die Tricksereien hauptsächlich Karsais mokiert werden, ignoriert man die noch schwerer wiegende Tatsache - ginge es wirklich um den Willensausdruck des afghanischen Volkes -, daß ausländische Mächte, allen voran die USA und ihre Verbündeten Frankreich und Großbritannien massiv und auf selbstherrliche Weise Einfluß auf die Präsidentenwahl in Afghanistan zu nehmen versucht haben. Ohne Rücksicht auf die afghanische Verfassung wurde der Urnengang auf Drängen Washingtons um drei Monate verschoben, damit die von US-Präsident Barack Obama im März entsandten 21.000 Soldaten Zeit für die Verlegung an den Hindukusch hatten. Rein rechtlich gesehen, war während dieser Zeit Karsais Präsidentschaft illegitim - woran bezeichnenderweise diejenigen, die heute soviel Aufhebens um die "Legitimität" der neuen Regierung in Kabul machen, nichts auszusetzen hatten.

Über ein Jahr lang wurde in der westlichen Presse an Karsai herumgemäkelt, er tue zuwenig gegen die Korruption. Mit dem Argument, die grassierende Korruption in Afghanistan sei ein wesentlicher Faktor für das Erstarken der Taliban, konnte man vom Mißerfolg der selbsternannten "mächtigsten Militärallianz der Weltgeschichte" im Kampf gegen die Männer um Mullah Omar, Jalaluddin Haqqani und Gulduddin Hekmatyar ablenken, indem man den armen Karsai für jede Fehlentwicklung beim "Wiederaufbau" verantwortlich machte. Gleichzeitig verfolgte man die These, Karsai habe sich verbraucht, Afghanistan benötige einen neuen Hoffnungsträger und die NATO einen neuen "Partner" im Kampf gegen die Taliban und ihre Helfershelfer von Osama Bin Ladens Al-Kaida-"Netzwerk".

Solche Argumente, die sich wie ein roter Faden durch zahlreiche Zeitungsartikel ziehen, sind ebenso verlogen, wie sie durchsichtig sind. Abdullah kann man höchstens dem Durchschnittsmedienkonsumenten im Westen als "neues Gesicht" verkaufen, in Afghanistan dagegen wissen doch alle, daß dieser in den achtziger Jahren an der Seite des Mudschaheddin-Anführers Ahmed Shah Masoud am Kampf gegen die Sowjetarmee teilnahm, als Führungsmitglied der Nordallianz in den späteren Bürgerkrieg verwickelt war und nach dem Sturz der Taliban Karsai einige Zeit als Außenminister gedient hat.

Im Leitartikel der heutigen Ausgabe der New York Times zum Thema des abrupten Endes der afghanischen Präsidentenwahl hieß es unter der Überschrift "President Karzai's Second Term", die erste Amtszeit des afghanischen Präsidenten habe sich durch "Mißmanagement und Korruption" ausgezeichnet, der ehemalige CIA-Kontaktmann müsse "alles tun, um sein Volk - und die übrige Welt - davon zu überzeugen, daß er ihr Vertrauen" verdiene. Was "Mißmanagement und Korruption" betrifft, so sollten die USA zuerst vor der eigenen Tür kehren. Wie die Nachrichtenagentur Reuters am 2. November unter Berufung auf die Commission on Wartime Contracting, ein vom Kongreß ins Leben gerufenes Kontrollgremium, berichtete, erweist sich das US-Verteidigungsministerium als unfähig, eine genaue Anzahl der in Afghanistan für private Auftragsfirmen tätigen Mitarbeiter zu präsentieren. Laut CENTCOM sind es 74.000 und damit deutlich mehr als die 65.000 Soldaten. Und dieselbe New York Times, die heute Karsai dringend empfiehlt, seinen Verteidigungsminister General Abdul Rashid Dostum fallenzulassen, damit dieser als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden kann, feiert seit Wochen den ISAF-Oberkommandierenden General Stanley McChrystal als "Zen-Krieger" - ungeachtet der Tatsache, daß dieser von Menschenrechtsorganisationen für Folter und Hinrichtungsaktionen während seiner Zeit als Leiter der US-Spezialstreitkräfte im Irak verantwortlich gemacht wird.

Besonders kraß ist die Forderung der New York Times, der alte und neue Präsident Afghanistans möge sich von seinem Bruder Ahmed Wali Karsai trennen, weil dieser ein "großer Mitspieler" im Opiumhandel sein soll. Am 28. Oktober hatte die New York Times mit der spektakulären Enthüllung aufgewartet, Ahmed Wali Karsai stehe seit Jahren auf der Gehaltsliste der CIA, für die er "verschiedene Dienstleistungen" erbringe. Während alle nun auf Karsais Bruder herumhacken, kommt natürlich bei der New York Times, der Obama-Regierung oder im Kongreß niemand auf die Idee zu fragen, ob die Verbindung der CIA zu einem der größten Opiumhändler Afghanistans bedeutet, daß dort der US-Auslandsgeheimdienst ebenfalls in das Drogengeschäft verwickelt ist. Der Grund, warum man diese Frage nicht stellt, ist, daß man die Antwort bereits entweder ahnt oder kennt und sie lieber nicht an die große Glocke hängen möchte. Wie der langjährige indische Diplomat M. K. Bhadrakumar in der Asia-Times-Online-Ausgabe vom 3. Oktober berichtet, hat zwei Tage zuvor in Reaktion auf besagten NYT-Artikel über Ahmed Wali Karsai der afghanische Minister für Drogenbekämpfung, General Khodaidad Khodaidad, "Afghanistans am besten gehütetes Geheimnis: die Rolle der ausländischen Soldaten beim Drogenschmuggel" gelüftet und den NATO-Truppen aus den USA, Großbritannien und Kanada vorgeworfen, in den Gebieten, wo diese stationiert sind, die Opiumproduktion zu "besteuern". Man kann davon ausgehen, daß in den armen Landstrichen Südafghanistans diese Steuer nicht in Bargeld, sondern in Ware entrichtet wird.

Auch wenn er teilweise zu unsauberen Methoden gegriffen hat, kann es sich Hamid Karsai anrechnen, die Wiederwahl zum afghanischen Präsidenten trotz der ständigen medialen Torpedierungsversuche aus Washington, London und Paris gewonnen und damit erstmals aus dem Schatten derjenigen getreten zu sein, die ihn 2002 als Interimsregierungschef eingesetzt und 2004 als ersten "demokratisch gewählten" Präsidenten Afghanistans gefeiert haben. Karsai war in Ungnade gefallen, weil er es sich nicht nehmen ließ, der Empörung seiner Landsleute über die vielen zivilen Opfer der per Drohne durchgeführten Raketenangriffe der CIA und der US-Streitkräfte Ausdruck zu verleihen, und weil er bereits letztes Jahr, als sich der Vormarsch der Taliban richtig bemerkbar machte, für Friedensverhandlungen mit den Religionsschülern von einst einsetzte. Angeblich kam es daraufhin unter Vermittlung Riads und Islamabads zu ersten Sondierungsgesprächen zwischen Vertretern Karsais und Mullah Omars in Saudi-Arabien.

Die Probleme der Korruption und des schleppenden Wiederaufbaus in Afghanistan können erst wirklich angegangen werden, wenn die Waffen schweigen. Das wissen Karsai und die Warlords, die ihn umgeben. In einem Positionspapier, das die Taliban im vergangenen März über den Afghanistan-Experten Christoph Hörstel in Umlauf gebracht haben, hieß es, man strebe die Wiedereinführung der strengen Regeln von früher wie das Verbot der Musik oder des Schulbesuchs für Mädchen nicht mehr an, sondern verlange in erster Linie den Abzug aller ausländischen Soldaten. Würde diese Bedingung erfüllt werden, wäre man bereit, mit Karsai und den Kräften der früheren Nordallianz eine für alle gerechte Friedensordnung auszuhandeln. Und weil die führenden US-Generäle wie David Petraeus und Stanley McChrystal ihrerseits eine Eskalation des Krieges in Afghanistan anstreben, sollte vermutlich Karsai - der ähnlich den meisten Taliban Paschtune ist - durch den Tadschiken Abdullah ersetzt werden. Nur daß es diesmal mit der angestrebten "demokratischen Revolution" an der Wahlurne nicht geklappt hat. Karsai, der durch seinen Wahlsieg immerhin einen Teil der Souveränität Afghanistans erstritten hat, indem er sich erfolgreich gegen die fremdländische Diffamierungskampagne gegen seine Person zur Wehr setzte, sollte in den kommenden Wochen und Monaten vor eventuellen Attentatsversuchen und "Unglücken" - etwas im Straßenverkehr oder bei Hubschrauberflügen - auf der Hut sein.

3. November 2009