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ASIEN/629: Kontroverse um die Sicherheit von Pakistans Atomwaffen (SB)


Kontroverse um die Sicherheit von Pakistans Atomwaffen

Seymour Hersh sorgt mit Enthüllungsbericht wieder für Aufregung


Mit seinem jüngsten Artikel für die Zeitschrift New Yorker zum Thema der Sicherheit des pakistanischen Atomwaffenarsenals hat Amerikas führender Enthüllungsjournalist Seymour Hersh erneut für eine internationale Kontroverse gesorgt. Kaum, daß am 8. November der Artikel "Defending the Arsenal - In an unstable Pakistan, can nuclear warheads be kept safe?" ("Das Arsenal verteidigen - Kann in einem instabilen Pakistan die Sicherheit der Atomsprengköpfe garantiert werden?") auf der Website des New Yorker erschienen war, da hagelte es bereits Dementis. Die US-Botschafterin in Pakistan, Anne Patterson, gab eine Erklärung heraus, in der es hieß, die Behauptung Hershs, zwischen Washington und Islamabad existierten "heimliche Vereinbarungen", um im Falle eines Putsches durch islamistische Militärs oder einer Machtübernahme durch muslimisch-fundamentalistische Kräfte die pakistanischen Atomwaffen für den Westen sicherzustellen und eventuell außer Landes zu schaffen, sei "vollkommen falsch". "Die USA haben keine Absicht, Atomwaffen oder -material Pakistans zu beschlagnahmen", so Patterson. Ebenfalls am selben Tag betonte Premierminister Yousuf Raza Gilani auf einer Pressekonferenz, die Regierung in Islamabad werde "nichts" unternehmen, was die nationale Sicherheit Pakistans einschließlich die seiner Atomwaffen "kompromittieren" könnte.

Die Schnelligkeit und die Inbrunst, mit der die Vertreter Islamabads und Washingtons auf den Hersh-Artikel reagierten, machen deutlich, daß es sich hier um ein Thema von höchster Brisanz handelt. Seit den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 hat das Alptraumszenario der pakistanischen Atomwaffen in den Händen von Kräften, die Osama Bin Ladens Al-Kaida-"Netzwerk" nahestehen, in den Erörterungen westlicher Sicherheitskreise seinen festen Platz. Dafür gibt es nicht wenige Pakistaner, die im "Antiterrorkrieg" Washingtons einen Vorwand sehen, ihr Land von Afghanistan aus zu destabilisieren, damit sich der Westen über kurz oder lang des Problems der "islamischen Atombombe" entledigen könne.

Angesichts der hysterischen Stimmung nach den erschütternden Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Arlington sah sich Pakistans damaliger Präsident Pervez Musharraf zu einem Auftritt am 30. September 2001 beim US-Fernsehnachrichtensender CNN veranlaßt. Im Interview mit dem Star-Moderator Larry King stellte General Musharraf fest: "Unsere Armee ist die disziplinierteste der Welt, und es gibt keine Chance, daß dort der Extremismus einziehen könnte. Ich mache mir wegen dieses Untergangszenarios keine Sorgen."

Nichtsdestotrotz gab kurz danach, am 27. Oktober und damit 20 Tage nach Beginn des Afghanistankrieges, der heutige US-Vizepräsident Joseph Biden in seiner damaligen Funktion als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Senats bei einem Auftritt vor dem einflußreichen Council of Foreign Relations (CFR) in New York bekannt, daß in den höchsten politischen und militärischen Kreisen in Washington über Wege diskutiert werde, wie zu verhindern wäre, daß bei einem Putsch islamistischer Militärkreise in Pakistan die Atomwaffen Islamabads in die "falschen Hände" gerieten. Gleich am Tag darauf wartete Seymour Hersh im New Yorker unter Verweis auf einen ranghohen Informanten im US-Militärapparat mit der sensationellen Geschichte auf, Mitglieder der israelischen Eliteeinheit 262, auch Sayeret Matkal genannt, trainierten seit einigen Wochen in den USA mit den amerikanischen Spezialstreitkräften zusammen. Washington und Tel Aviv bereiteten sich "intensiv" auf den möglichen Sturz Musharrafs vor, in welchem Fall einem gemeinsamen amerikanisch-israelischen Sonderkommando die Aufgabe zufiele, das Atomwaffenarsenal Pakistans sicherzustellen und außer Landes zu schaffen, so damals Hersh.

In seinem jüngsten, sehr umfassenden Bericht zitiert Hersh einen ehemaligen US-Geheimdienstbeamten dahin gehend, daß jene Sondereinheit, die seit Jahren die Demontage und Beschlagnahmung der pakistanischen Atomsprengköpfe trainiere, seit einiger Zeit ihren Blick auf die Zündvorrichtungen konzentriere, weil diese kein radioaktives Material enthalten und unter den zu erwartenden schwierigen Umständen leichter zu entwenden wären. Demnach gehöre zur Planung auch die Einschätzung, wie viele solcher Zündvorrichtungen in ein Transportflugzeug vom Typ C-17 paßten. Nach Angaben eines von Hersh zitierten Beraters des US-Verteidigungsministeriums wurde in diesem Frühsommer im Pentagon die entsprechende Notfallplanung aktiviert, nachdem man einen dringenden Hinweis der US-Geheimdienste erhalten hatte, daß eine - nicht näher beschriebene - "Komponente des pakistanischen Atomwaffenarsenals abhanden gekommen war". Das für einen solchen Fall gebildete Geheimkommando, das aus Vertretern der CIA, des FBI und des Energieministeriums besteht, seit einiger Zeit von einer Einheit des auf Anti-Terror-Operationen spezialisierten Joint Special Operations Command (JSOC) und innerhalb von vier Stunden nach Erhalt des entsprechenden Befehls vom Luftwaffenstützpunkt Andrews im Bundesstaat Maryland starten können soll, hatte schon Dubai erreicht, als sich herausstellte, daß das ganze ein Fehlalarm war und man die ganze Operation abbrechen konnte.

Inwieweit die amerikanische Spezialtruppe ihre Mission erfolgreich hätte durchführen können, ist jedoch fraglich. Aus dem, was Hersh berichtet, scheint zu folgen, daß Islamabad seit dem Rücktritt Musharrafs im letzten Jahr und der Übernahme des Amtes des Präsidenten durch Ali Asif Zardari, den Witwer Benazir Bhuttos, Washington einen größeren Einblick als je zuvor in seinen Atomwaffenkomplex gewährt hat. An den Gesprächen, welche die Eingangs erwähnten "heimlichen Vereinbarungen" nach sich gezogen hätten, haben nach Angaben Hershs neben dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, Admiral Michael Mullen, und dem pakistanischen Generabstabschef General Parvaz Kayani auch Vertreter der CIA sowie der Außen-, Energie- und Verteidigungsministerien der USA teilgenommen. Dessen ungeachtet scheint es sich hier eher um einen Informationsaustausch als um konkrete gemeinsame Planungen für den Fall des versuchten Griffs der Islamisten nach der pakistanischen Atombombe zu handeln.

Hersh selbst zitiert zahlreiche entweder ehemalige oder heute noch aktive Geheimdienstler, Militärs und Politiker aus Pakistan und den USA, darunter Zardari, Musharraf und Mullen, deren Ausführungen allesamt davon Zeugnis ablegen, daß das Mißtrauen der Pakistaner gegenüber den Absichten der Amerikaner viel zu tief verwurzelt ist, als daß erstere die eigenen Atomwaffen im Notfall von letzteren vor den Islamisten "sicherstellen" ließen. Für die Pakistaner sind ihre Atomwaffen das Abschreckungsmittel, mit dem man den übermächtigen Nachbarn Indien auf Abstand hält. Im Fall eines erneuten Krieges um Kaschmir will man in Rawalpindi, dem Sitz der pakistanischen Streitkräfte, auf gar keinen Fall, daß die Amerikaner Islamabads Handlungsspielraum einschließlich der Drohung mit nuklearer Vergeltung gegenüber Neu-Delhi einschränken - zumal, wie man weiß, Indien und die USA seit dem letzten Jahr in Sachen Atomtechnologie enge Partner sind. Hinzu kommt, daß das pakistanische Militär der Meinung ist, selbst vollkommen in der Lage zu sein, für die Sicherheit seiner "Kronjuwelen" sorgen und sich gegen irgendwelche "islamistischen Umtriebe" schützen zu können. Laut Musharraf haben die Pakistaner in den letzten Jahren ein weitverzweigtes, unterirdisches Tunnelsystem gebaut, um ihre Atomwaffen nicht nur vor dem Blick der US-Spionagesatelliten, sondern auch noch vor eventuellen feindlichen Raketenangriffen optimal zu schützen. Insgesamt sollen rund 20.000 Personen in der pakistanischen Atomindustrie - zivil und militärisch - beschäftigt sein. Alle werden permanent auf ihre ideologische Tauglichkeit überprüft.

Hersh zeigt in seinem Artikel viel Verständnis für die momentan extrem schwierige Lage Pakistans. Weil die NATO in Afghanistan gegenüber den aufständischen Paschtunen zusehends an Boden verliert, führt die CIA immer mehr Raketenangriffe im Grenzgebiet durch, während dort die pakistanischen Streitkräfte verstärkt gegen die Taliban vorgehen - siehe die Großoffensiven in Bajaur, im Swat-Tal und jüngst in Südwasiristan. Unter dieser Entwicklung leidet die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten im besonderen, die Pakistaner jedoch insgesamt, weil die Kämpfe und die Anschläge der Taliban der Wirtschaft des Landes den Garaus machen. Diese Entwicklung ist es, die vielen Pakistanern, darunter auch Mitgliedern der Streitkräfte, das Gefühl vermittelt, daß der "Antiterrorkrieg" der USA ein anti-islamistischer Kreuzzug ist, und die sie in die Arme der Radikalislamisten treibt - und die Gefahr der Atombombe "in den falschen Händen" überhaupt Wirklichkeit werden lassen kann.

9. November 2009