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ASIEN/687: Hamid Karsai dient sich dem Lager der Abzugsgegner an (SB)


Instinktsicher für die stärkste Fraktion und den eigenen Vorteil


Hamid Karsai, einst von den Besatzungsmächten im Rahmen der Petersberger Konferenz in einem Willkürakt als Staatsoberhaupt Afghanistans eingesetzt und im vergangenen Jahr durch eine hochgradig manipulierte Wahl im Präsidentenamt bestätigt, steht und fällt als Kollaborateur par excellence mit der Präsenz der westlichen Streitkräfte. Folglich sucht und findet er Gründe für deren langfristige Stationierung in seinem Land, indem er ihnen gewisse Erfolge zugute hält, ihre zentrale Mission jedoch für nicht annähernd erfüllt erklärt. Daß er mit gespaltener Zunge spricht, liegt auf der Hand, muß er doch unausgesetzt zwischen den Interessen seiner Landsleute und denen der Besatzer lavieren, um sich beiden Seiten anzudienen und für unverzichtbar zu erklären. Unterdessen baut er in einem System rivalisierender Fraktionen, die sich nur der Form nach als geschlossenes Staatsgebilde darstellen, seine Hausmacht unermüdlich aus, was ihn zwangsläufig in immer neue Konflikte mit allen anderen Akteuren stürzt. Für einen Statthalter, dem in den westlichen Hauptstädten phasenweise offenes Mißtrauen entgegenschlägt und der in weiten Teilen Afghanistans verhaßt ist, hat er sich bemerkenswert lange in seiner Position behauptet. Wenn man Karsai eine Fähigkeit attestieren will, so ist dies in erster Linie sein Talent, zwischen Skylla und Charybdis auf einem Schlingerkurs stets nach dem Gestirn des eigenen Vorteils navigierend bislang keinen Schiffbruch erlitten zu haben.

Er streckte seine Fühler nach den Taliban aus und brachte die Einbeziehung moderaterer Fraktionen des Widerstands in mögliche Friedensverhandlungen ins Gespräch. Auch traf er mit Chinesen, Russen und Iranern zusammen, um deren Interessen auszuloten und sich neuer Bündnispartner zu versichern. Karsai läßt mithin nichts unversucht, in alle erdenklichen Richtungen zu sondieren und sich Faustpfänder zu verschaffen, um sich in seiner prekären Existenz als bloße Marionette der westlichen Besatzer aufzuwerten.

"Es muß eine Überprüfung der Strategie im Kampf gegen den Terrorismus geben. Denn die Erfahrung der letzten acht Jahre zeigt, daß der Kampf in den Dörfern Afghanistans außer der Produktion von Verlusten in der Zivilbevölkerung wirkungslos war." [1] Man wäre fast geneigt, diesen Worten bedingte Gültigkeit zuzugestehen, kämen sie nicht aus dem Munde des afghanischen Präsidenten. Daß er am Sonntag in einem Gespräch mit Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) der Aufstandsbekämpfung der NATO ein derart schlechtes Zeugnis ausgestellt hat, ist keineswegs der Absicht geschuldet, zu einem Ende der Intervention aufzurufen. Ganz im Gegenteil hat Karsai schon zuvor die Ankündigung Obamas, im Juli 2011 eine bisher nicht präzisierte Zahl von US-Soldaten aus Afghanistan abziehen zu wollen, als "eine moralische Ermutigung für die Feinde unseres Landes" scharf kritisiert. Er drängt darauf, daß das Okkupationsregime auf lange Sicht eine schützende Hand über ihn hält, wobei er sich als Sachwalter der Zivilbevölkerung geriert, um seinen Ruf im eigenen Land aufzupolieren.

Offenbar hat Karsai bereits vor einiger Zeit in einem Brief an Barack Obama, der bislang nicht veröffentlicht worden ist, eine gründliche Überprüfung der militärischen Strategie angemahnt. Vor Wochenfrist bekräftigte er bei einem Treffen mit dem Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats, John F. Kerry, seine Forderung, die Ziele, den Schwerpunkt und die Strategie der Kriegsführung einer ernsthaften Überprüfung zu unterziehen. Terrorismusbekämpfung ohne klare Definition, wer Feind und wer Freund ist, die in den Häusern und Dörfern Afghanistans stattfindet, statt die Wurzeln des Terrorismus und seine Unterstützer anzugreifen, sei zum Scheitern verurteilt. Den Mißerfolg führt Karsai auf zwei wesentliche Elemente zurück, nämlich die anhaltenden Verluste unter der Zivilbevölkerung und die fehlende Konzentration auf die "sicheren Schlupfwinkel" der Taliban, die er in Pakistan verortet.

Wie nicht anders zu erwarten, stützt Karsai die Doktrin des "Antiterrorkriegs", indem er eine bestimmte, im Kern landesfremde und Afghanistan feindlich gesonnene Gruppierung als Gegner vorhält, während er zugleich die Existenz eines afghanischen Widerstands gegen die Besatzungsmächte leugnet und den herrschenden Guerillakrieg verschleiert. Die Präsenz der Besatzungsmächte zu begrüßen und zugleich zivile Opfer der daraus resultierenden Kriegsführung gegen die Bevölkerung zu beklagen, ist ein Widerspruch in sich. Der ist freilich nicht auf Karsais Mist gewachsen, sondern dem strategischen Entwurf entsprungen, die dauerhafte Besetzung, Destabilisierung und Fragmentierung des Nahen und Mittleren Ostens als Kampf gegen den "Terrorismus", Akt der Befreiung, Aufbaumission und Demokratisierung auszuweisen.

Die aktuellen verbalen Ausfälle des afghanischen Präsidenten dürften zudem dem drängenden Bedürfnis geschuldet sein, von der wieder einmal intensiv diskutierten Korruption in Kabuler Regierungskreisen abzulenken. Wie die New York Times am Sonnabend im Brustton der Empörung schrieb, habe der vor wenigen Tagen von Karsai seines Postens enthobene stellvertretende Generalstaatsanwalt Afghanistans, Fasel Ahmed Faqirjar, schwere Beschuldigungen erhoben. Demnach hatte man Ermittlungsverfahren gegen mindestens 25 amtierende oder ehemalige Funktionsträger eingeleitet, darunter 17 Regierungsmitglieder, fünf Provinzgouverneure und mindestens drei Diplomaten. Karsai und Generalstaatsanwalt Mohammed Ishaq Aloko hätten jedoch die Ermittlungen behindert, worauf lediglich gegen drei der Verdächtigten Anklage erhoben worden, und kein einziger Fall vor Gericht gekommen sei.

Wenngleich es zum Standardrepertoire opportuner Kritik an den afghanischen Verhältnissen gehört, die dort grassierende Korruption zu beklagen, sind Einlassungen dünn gesät, die sich mit deren Herkunft und dem Korruptionsbegriff als solchem befassen. Interventionsmächte haben sich seit Jahrzehnten der verschiedenen Volksgruppen bedient, um aus herrschenden Widersprüchen Kapital zu schlagen und auf dem Wege der Spaltung Kontrolle zu erwirtschaften. Die raschen Anfangserfolge der US-Streitkräfte im Afghanistankrieg verdankten sich der Indienstnahme von Kriegsherrn und anderen lokalen Machthabern, die auch in den folgenden Jahren von den Besatzungsmächten installiert und gefördert wurden. Der proklamierte Aufbau eines einheitlichen und demokratischen Staatswesens fand nie statt, ja die Besatzungsmächte verhinderten ihn sogar gezielt durch ihre Vorgehensweise. Wenn beispielsweise der Bruder des Präsidenten auf der Lohnliste der CIA steht und zugleich den Drogenhandel in der Region Kandahar kontrolliert, ist dies integraler Bestandteil des Systems, von dem sich die westlichen Mächte die Sicherung ihres Zugriffs versprechen. Man kann es durchaus Korruption nennen, wenn der Staatschef seinen Clan schützt und alimentiert, doch sollte man dies im Kontext der afghanischen Gesellschaft bewerten, deren Beschaffenheit von den Besatzungsmächten in hohem Maße geprägt ist.

Hamid Karsai sucht mit seinem ausgeprägten Instinkt für die jeweils stärksten Kräfte offenbar Rückendeckung im Lager führender US-Militärs, die Obamas Abzugsplänen nahezu unverhohlen widersprechen. Die Redewendung von der "moralischen Ermutigung" der Taliban durch die Ankündigung des Abzugs verwendete zuvor bereits General James Conway, Befehlshaber der Marines. Der im Ruhestand befindliche US-General Jack Keane gab Karsai sogar ausdrücklich recht. Seines Erachtens habe Obamas Politik "Schaden in der Region angerichtet, weil sie ganz eindeutig unsere Gegner ermutigt und Skeptizismus in den Köpfen unserer Freunde gesät hat".

General David H. Petraeus, als Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen in Afghanistan derzeit Speerspitze der Intervention, hat soeben seine neuen Richtlinien fertiggestellt, die unter dem Strich einen raschen Abzug als kontraproduktiv ausweisen, ohne den von der US-Regierung proklamierten Termin dabei offen in Frage zu stellen. Die Formulierungskünste des Generals und seines Teams sind nicht zuletzt der Beschwichtigung an der Heimatfront geschuldet, der man nun das Konstrukt schmackhaft zu machen versucht, man wolle nach wie vor zügig, aber nicht zu abrupt abziehen. Indessen hindert niemand die Kräfte des Widerstands daran, in jene Regionen einzuziehen, welche die Besatzungstruppen verlassen haben. Das ist die durchgängige Erfahrung, die in Militärkreisen offen eingeräumt wird. Daher beschwört man einmal mehr den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte, die jedoch auch nach neun Jahren Besatzung nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft das Feld zu behaupten. [2]

Petraeus weiß folglich nichts wirklich Neues zu berichten, weshalb er die sattsam bekannten Fakten in gefälligen Worthülsen serviert. So sollen die Truppen der Alliierten die Verantwortung nicht schlagartig, sondern Schritt für Schritt an die einheimische Armee und Polizei übergeben. Manche Einheiten könnten nach erfolgter Sicherung der ihnen zugeteilten Regionen ganz abgezogen werden, andere mit modifizierten Missionen in Afghanistan betraut werden, wirbt der Oberbefehlshaber für eine Flexibilität des Einsatzes, welche die unveränderte Problemlage verschleiern soll.

Wie die Autoren der Richtlinien zur Transition einräumen, komme man in Afghanistan nur langsam voran und habe erst wenige Regionen befriedet. Auch deuten Vertreter von US-Regierung und Pentagon an, daß der Entwurf von General Petraeus mit dem offiziellen Zeitplan des Abzugs in Konflikt geraten könnte. Zugleich wird man nicht müde zu betonen, daß der Oberbefehlshaber die volle Unterstützung des Verteidigungsministeriums genieße und den Kurs der Obama-Administration keineswegs verändere. Es komme eben darauf an, die Prinzipien und Vorgehensweisen der Transition zu präzisieren, erklärte ein hochrangiger NATO-Offizier in Kabul. Die Schrittfolge des Abzugs hänge schließlich von den Bedingungen ab, und diesem Umstand trage man mit den Richtlinien Rechnung.

Daß der Abzug von den Bedingungen abhänge, also de facto nicht im voraus terminiert werden dürfe, ist indessen die Sprachregelung, mit der führende US-Militärs gegen die Pläne Obamas opponieren und einer langfristigen Okkupation das Feld bereiten. Im November wird Petraeus beim NATO-Treffen in Lissabon sein Konzept der Transition gestaffelt nach Regionen und Fristen vorstellen, während Weißes Haus, Pentagon und Außenministerium die NATO-Partner unterdessen verstärkt für die politisch unverfängliche Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte gewinnen wollen. Auf diese Weise hofft man offenbar, die zunehmend kriegsmüde Bevölkerung in den Herkunftsländern der Besatzungsmächte ruhigzustellen und den schleichenden Übergang in eine Form der Transition zu bewerkstelligen, die immer weniger mit dem von Obama angekündigten Abzug gemein hat.

Anmerkungen:

[1] "Nichts als tote Zivilisten". Afghanistan: Karsai kritisiert NATO-Strategie der militärischen Aufstandsbekämpfung (31.08.10)
junge Welt

[2] Petraeus Finishes Rules for Afghan Security Transition (30.08.10)
New York Times

1. September 2010