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ASIEN/690: Unruhen in Kaschmir bringen Indien in Mißkredit (SB)


Unruhen in Kaschmir bringen Indien in Mißkredit

Größte Demokratie der Welt wird dem eigenen Anspruch nicht gerecht


Im Schatten der gigantischen Ölpest im Golf von Mexiko, der zunehmenden Kämpfe zwischen NATO und Taliban in Afghanistan, der Flutkatastrophe in Pakistan, des Abzugs der letzten "Kampftruppen" der USA aus dem Irak und der erneuten Aufnahme von Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern ist es in den letzten Wochen im indischen Teil Kaschmirs zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Ordnungskräften und Demonstranten gekommen, die inzwischen rund 100 Menschen das Leben gekostet haben und die in sich das Potential bergen, den südasiatischen Subkontinent dermaßen zu destabilisieren, daß es zu einem Krieg zwischen den Nuklearmächten Indien und Pakistan kommt. Nach den bisher schwersten Ausschreitungen am 13. September hat die Regierung in Neu-Delhi über das Kaschmirtal eine totale Ausgangsperre verhängt. Alle Flüge in die Unruheprovinz hinein und von dort heraus wurden zum erstenmal seit zehn Jahren gestrichen. Wie es weitergeht, weiß derzeit niemand.

Der Kaschmir-Disput geht auf die Teilung des britischen Indiens in eine hauptsächlich von Moslems bewohnte Islamische Republik Pakistan und eine mehrheitlich von Hindus bewohnte Republik Indien im Jahr 1947 zurück. Wäre es nach dem Willen der Bevölkerung Kaschmirs, die mehrheitlich muslimischen Glaubens ist, gegangen, wäre das damalige Fürstentum Jammu und Kaschmir bei dem Abzug der Briten Pakistan zugeschlagen worden. Doch der damalige Maharadscha Hari Singh, ein Sikh, entschied sich für den Anschluß an Indien. Nach Bekanntwerden des umstrittenen Entschlusses versuchten die neuen Armeen Indiens und Pakistans soviel von der Provinz zu besetzen, wie sie konnten. Wo die beiden Streitmächte aufeinandertrafen, verläuft die sogenannte Line of Control (LoC), die seitdem de facto als Staatsgrenze gilt.

1948 haben die Vereinten Nationen die Durchführung einer Volksbefragung über die Staatszugehörigkeit Jammu und Kaschmirs angeregt (In dem südlich von Kaschmir liegenden Jammu stellen die Hindus die Mehrheit). Dies hat die Regierung in Neu-Delhi verweigert und statt dessen den südöstlich der LoC liegenden, größten Teil von Kaschmir zusammen mit Jammu in die indische Bundesrepublik integriert. Nordwestlich der LoC gehört die Autonomieregion "Asad Kaschmir" oder "freies Kaschmir" zu Pakistan. Dreimal - 1965, 1971 und 1999 - haben Indien und Pakistan Krieg um Kaschmir geführt, ohne daß es zu einer nennenswerten Veränderung des Verlaufs der LoC gekommen wäre.

Seit 1989 liefern sich islamistische Militante, die vom pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence Directorate unterstützt werden, mit den indischen Sicherheitskräften in Jammu und Kaschmir einen sogenannten Konflikt niedriger Intensität, der schon zweimal - nach den schweren Selbstmordanschlägen im Dezember 2001 auf das Parlament in Neu-Delhi und im November 2008 auf mehrere Prachtgebäude in Mumbai - die Streitkräfte Indiens und Pakistans an den Rand eines Atomkrieges geführt hat. Seit 1990 herrscht in Kaschmir ein Ausnahmezustand, der den Sicherheitskräften weitreichende Befugnisse einräumt und deshalb der Zivilbevölkerung verhaßt ist. Rund 45.000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, sind in den beiden letzten Jahrzehnten im indischen Teil Kaschmirs gewaltsam ums Leben gekommen. Folglich machten sich viele Menschen Hoffnungen, als Barack Obama 2008 bei seiner Bewerbung um das Amt des US-Präsidenten öffentlich ankündigte, sich um eine endgültige Beilegung des Dauerstreits um Kaschmir zu bemühen. Die Inder waren aber strikt gegen die Einmischung der USA und haben Obama nach dessen Einzug ins Weiße Haus im Januar 2009 durch die Androhung, das von George W. Bush angeleierte, umstrittene Atomabkommen zwischen Neu-Delhi und Washington platzen zu lassen, dazu gebracht, seine Kaschmir-Initiative gänzlich zu vergessen und sich auf die Af-Pak-Problematik zu konzentrieren.

Mehr als die Zurückweisung des Hilfsangebots Obamas rächt sich nun für Indien die Tatsache, daß man 2007 die Verhandlungen mit der Regierung des damaligen pakistanischen Präsidenten General a. D. Pervez Musharraf, welche die Schaffung einer Autonomieregion Kaschmir unter gemeinsamer indisch-pakistanischer Verwaltung und den Abzug Zehntausender Sicherheitskräfte als Paradigmenwechsel in den pakistanisch-indischen Beziehungen und ersten großen Schritt hin zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums beider Staaten vorsahen, nicht abgeschlossen hat. Seit im Juni bei einer Demonstration in der Kaschmir-Hauptstadt Srinagar ein Schuljunge von einem von der Polizei abgeschossenen Tränengasbehälter am Kopf tödlich getroffen wurde, kommt die Provinz nicht mehr zur Ruhe. Fast täglich wird gegen die Gewalt der Polizei und Armee sowie für die Selbstbestimmung der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs demonstriert (Entgegen den von Islamabad erzeugten Eindruck wollen die meisten Menschen in Kaschmir einen eigenständigen Staat und keinen Anschluß an Pakistan; im südlicher gelegenen Jammu will die Mehrheit bei Indien bleiben).

Zur einer drastischen Eskalation der Auseinandersetzungen in Kaschmir kam es am Wochenende des 11. und 12. September, an dem die diesjährige muslimische Fastenzeit Ramadan zu Ende ging und das in der internationalen Berichterstattung im Zeichen der Trauerfeierlichkeiten um den neunten Jahrestag der Flugzeuganschläge von New York und der Drohung des fundamentalistischen Pfarrers Terry Jones aus Florida, mehrere hundert Exemplare des Korans als Protest gegen den "Radikalislamismus" zu verbrennen. Die Drohung von Jones, die doch nicht in die Tat umgesetzt wurde, führte in einigen Ländern der islamischen Welt wie zum Beispiel Afghanistan zu heftigen Protesten. In Kaschmir ließ ein am 12. September ausgestrahlter Bericht des iranischen Fernsehsenders Press TV, in den USA wäre es in den zurückliegenden Stunden doch noch zu der einen oder anderen öffentlichen Schändung des Korans durch chauvinistische Superpatrioten gekommen, die ohnehin angespannte Situation außer Kontrolle geraten.

Am 13. September kam es in den Städten Srinagar, Anantnag, Tangmarg, Pampore und Sopore zu Straßenprotesten. Regierungsgebäude und eine christliche Schule wurden in Brand gesetzt. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei kamen 19 Menschen ums Leben. Mehr als 90 Verletzte wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Neu-Delhi sah sich gezwungen, eine totale Ausgangsperre zu verhängen. Premierminister Manmohan Singh von der Kongreßpartei rief zur Ruhe und Besonnenheit auf und erklärte die Bereitschaft seiner Regierung zu einem "Dialog", mittels dessen Neu-Delhi und die Vertreter der politischen Parteien in Kaschmir eine "ehrbare und dauerhafte Lösung" finden könnten. Das Cabinet Committee on Security (CCS) rief für den 15. September zu einem Krisentreffen der Spitzen aller im Parlament von Neu-Delhi vertretenen Parteien auf. Doch bei diesem Treffen sind keine brauchbaren Vorschläge zur Lösung der Krise herausgekommen, was vermutlich auf die Weigerung der oppositionellen, hindu- nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), den Moslems in Kaschmir nennenswerte Zugeständnisse zu machen, zurückgeht. In Kaschmir hielt die Gewalt an. Während in Neu-Delhi diskutiert wurde, kamen ungeachtet der Ausgangsperre bei Protesten in der Stadt Mendhar vier Demonstranten ums Leben. Sie wurden von den Sicherheitskräften erschossen.

15. September 2010