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ASIEN/775: Afghanistan-Besatzung der NATO in der Krise (SB)


Afghanistan-Besatzung der NATO in der Krise

Ausbildung afghanischer Soldaten bis auf weiteres eingestellt



2009 haben der damalige US-Verteidigungsminister und Ex-CIA-Direktor Robert Gates, der damalige Vorsitzende der Vereinigten Stabchefs Admiral Michael Mullen, der damalige CENTCOM-Chef und heutige CIA-Chef General David Petraeus und der damalige ISAF-Oberkommandeur General Stanley McChrystal ihren militärisch wie außenpolitisch völlig unerfahrenen neuen Präsidenten Barack Obama dazu überredet, eine Verdreifachung der Zahl der amerikanischen Soldaten in Afghanistan von rund 35.000 auf mehr als 100.000 zu genehmigen. Petraeus und McChrystal, die damals völlig über Gebühr wegen ihrer Irakkriegserfahrung von den US-Medien als wahre Genies in Sachen Aufstandsbekämpfung gefeiert wurden, versprachen Obama, innerhalb von 18 Monaten die Taliban "an den Verhandlungstisch zu bombardieren". Als sich jedoch die Besatzungsgegner von der erhöhten Betriebsamkeit der NATO-Truppen nicht beeindrucken ließen, sahen sich die Regierungschefs der nordatlantischen Allianz auf ihrem Gipfeltreffen im November 2010 im portugiesischen Lissabon gezwungen, den Abzug aus Afghanistan bis Ende 2014 anzukündigen.

Bis dahin sollen jedoch um die 350.000 afghanische Polizisten und Soldaten ausgebildet werden, um ab 2015 die "Verantwortung für die Sicherheit" des bettelarmen Landes am Hindukusch zu übernehmen. Inzwischen nahmen die USA über Mittelsmänner mit den Taliban und deren Verbündeten Kontakt auf, um sie für Friedensverhandlungen zu gewinnen. Doch alle Avancen Washingtons sind wegen der Weigerung, als Zeichen des guten Willens mehrere im Sonderinternierungslager auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay inhaftierte Taliban-Kämpfer freizulassen, gescheitert. Nichtsdestotrotz hieß es Anfang dieses Monats in den britischen Medien, die Männer um Mullah Omar hätten gegenüber den Amerikanern signalisiert, daß sie Interesse an einer "Stabilisierung" Afghanistans nach 2014 hätten und deshalb bereit wären, dort den Weiterbetrieb mehrerer größerer US-Luftwaffenstützpunkte zu akzeptieren und sich für immer vom Al-Kaida-"Netzwerk" loszusagen, wofür sie selbst in die neuen politischen Strukturen des Landes integriert werden sollten.

Der Traum von einer gefügigen Taliban, die endlich zur Einsicht in die geopolitischen Notwendigkeiten à la NATO - Kontrolle Zentralasiens, Eindämmung Rußlands und Chinas - gelangten, währte jedoch nur kurz. Mitte September brachen in Afghanistan genauso wie in anderen Teilen der islamischen Welt die Proteste gegen den Mohammed-Schmähfilm "Innocence of Muslims" aus. Am 14. September führten die Taliban auf die NATO-Basis Camp Bastion im südlichen Provinz Helmand einen äußerst spektakulären Angriff durch. 15 zum Teil als amerikanische Soldaten gekleidete Taliban-Kämpfer gelangten an sämtliche Sicherheitskontrollen vorbei ins Innere des schwerbewachten Stützpunktes. Dort jagten sie mehrere Flugzeuge darunter sechs senkrechtstartende Kampfjets der US-Marineinfanterie vom Typ AV-8B Harrier in die Luft und richteten damit einen wirtschaftlichen Schaden von mehr als 200 Millionen Dollar an. Anschließend lieferten sie sich mit den NATO-Soldaten ein stundenlanges Gefecht. Bis auf ein Mann kamen alle Eindringlinge ums Leben. Im Zuge des Überfalls fielen zwei US-Marineinfanteristen.

Zu keinem Zeitpunkt soll das Leben von Prinz Harry, dem Enkel der britischen Königin Elisabeth II., der in Camp Bastion als Kampfhubschrauberpilot dient, in Gefahr gewesen sein. Dies erklärte das Ministry of Defence in London. Ungeachtet dessen hieß es in der offiziellen Verlautbarung der Taliban, die Operation sei eine Antwort auf die im Internet erschienene Videobeleidigung des Propheten Mohammed durch westliche Islamhasser gewesen; Camp Bastion hätte man als Ziel ausgesucht, weil Prinz Harry, der Dritte in der britischen Thronnachfolge, dort seit kurzem stationiert sei.

Der Angriff auf Camp Bastion fiel just zu einem Zeitpunkt, als in NATO-Kreisen eine besorgte Debatte um die steigende Anzahl von sogenannten Insider-Angriffen tobte. In diesem Jahr sind bereits 51 NATO-Soldaten von afghanischen Kameraden oder Polizisten getötet worden. Wie viele solcher Vorfälle sich ereigneten, weil sich der Täter durch die westlichen Soldaten bevormundet und gedemütigt fühlte oder weil er von Anfang an Maulwurf der Taliban gewesen ist, läßt sich nicht sagen. Jedenfalls hat die Erschießung von sechs alliierten Soldaten am Wochenende des 15. und 16. September durch afghanische Kollegen das Oberkommando der US-Streitkräfte in Afghanistan dazu veranlaßt, am 18. September alle gemeinsamen Patrouillien mit den afghanischen Sicherheitskräften bis auf weiteres auszusetzen. Vorerst sollen Afghanistans Soldaten und Polizisten allein auf Streife gehen. Die NATO-Soldaten bleiben auf ihren Stützpunkten eingebunkert.

Die kurzfristige Lösung des Problems wirft viele Fragen auf, von denen die beiden wichtigsten lauten: Ist der Plan der geordneten Übergabe der Sicherheitsverantwortung von der NATO an die afghanischen Sicherheitskräfte gescheitert und wie soll nun überhaupt ein geordneter Abzug - bekanntlich das Schwierigste aller Militärmanöver - durchgeführt werden? In was für eine Zwickmühle vor allem die amerikanischen und britischen Truppen im Süden Afghanistans stecken, zeigt der Überfall auf einen NATO-Nachschubkonvoi am 19. September auf der Verbindungstraße zwischen Herat im Westen und Kandahar im Süden des Landes. Bei dem Angriff, für den die Taliban die Verantwortung übernommen hat, wurden ein Dutzend Lastwagen, die mit Treibstoff und anderen wichtigen Gütern für die NATO-Truppen in der Provinz Kandahar unterweg waren, komplett zerstört. Von denjenigen Personen, die den Konvoi begleiteten - ob nun afghanische Lastwagenfahrer oder private Sicherheitsdienstleister ist nicht bekannt -, kamen 14 ums Leben, weitere elf wurden verletzt.

In einer ersten Stellungnahme nach der Aussetzung der gemeinsamen Patrouillien versuchte US-Verteidigungsminister Leon Panetta die Bedeutung der Insider-Angriffe herunterzuspielen. Anläßlich eines Besuchs in der chinesischen Hauptstadt Peking am 18. September behauptete Panetta, die Zunahme solcher Angriffe sei dafür der Beweis, daß sich der Aufstand der Taliban "in den letzten Zügen" befinde. Besonders glaubwürdig klingt das nicht, sondern eher wie der durchsichtige Versuch des Pentagonchefs, in der heißen Phase des US-Präsidentschaftswahlkampfes negative Schlagzeilen aus dem eigenen Verantwortungsbereich zu relativieren, welche die Stimmung der amerikanischen Bürger für Präsident Obama in das Gegenteil umschlagen lassen könnte.

Weit pessimistischer sieht Ryan Crocker, der im Juli als US-Botschafter in Kabul ausgeschieden war, die Lage in Afghanistan. Der Berufsdiplomat a. D. spricht neben Englisch auch fließend Arabisch und Persisch und hat im Laufe seiner langen Karriere die US-Botschaften in Beirut, Damaskus, Kuwait Stadt und Islamabad geleitet. Bei einem Auftritt am 17. September am Hauptquartier der Carnegie Endowment for International Peace in Washington erklärte Crocker, er schätze den Grad der Unterwanderung der afghanischen Sicherheitskräfte durch die Taliban und ihre Verbündeten auf "mehr als 25 Prozent". Wie sehr die anti-westlichen Kräfte in Afghanistan auf dem Vormarsch sind, zeigt der Angriff, bei dem am 18. September in Kabul eine Selbstmordattentäterin ein mit Sprengstoff gefülltes Auto in einen Bus fuhr und beide Fahrzeuge zur Explosion brachte. Bei dem Anschlag kamen die Angreiferin und zwölf Insassen des Busses, bei denen es sich hauptsächlich um Franzosen, Russen und Südafrikaner handelte, die auf dem Weg zur Arbeit am Kabuler Flughafen waren, um. Später bekannte sich die Hisb-i-Islami Gulbuddin Hektmayars zu dem Anschlag, deren politischer Arm den Stabschef von Präsident Hamid Karsai stellt und mit mehrerer Ministern an der Regierung beteiligt ist.

In seinen Ausführungen an der Carnegie Stiftung bezeichnete es Ryan Crocker als schweren Fehler, daß sich die damalige Regierung von US-Präsident George W. Bush nach dem Sturz der Taliban Ende 2001, wofür sie auch die Unterstützung des Irans erhalten hatte, so drastisch gegen Teheran wandte (Anfang 2002 hat Bush in seiner berühmt-berüchtigten ersten Rede zur Lage der Nation den Iran, den Irak und Nordkorea zu einer "Achse des Bösen" erklärt). Zugleich warnte Crocker vor einem "Blutbad" in Afghanistan, sollte die NATO ihre Streitkräfte dort überhastet abziehen. Führt man die Gedanken des Ex-Botschafters konsequent zu Ende, dann wären die NATO-Staaten gut beraten, einen Friedensprozeß für Afghanistan in die Wege zu leiten, an dem sowohl die inländischen Streitparteien wie die Taliban und die Nordallianz, als auch die Nachbarländer, allen voran Rußland, Pakistan, Indien und Iran, beteiligt wären. Doch einer solchen Vernunftlösung stehen die Hegemoniebestrebungen der USA im Herzen Eurasiens immer noch zu sehr im Weg.

20. September 2012