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ASIEN/843: Indien und Pakistan wieder am Rande eines Atomkriegs (SB)


Indien und Pakistan wieder am Rande eines Atomkriegs

Der schwelende Brand Kaschmir droht zum Feuerinferno zu werden


Am südlichen Rand der Himalaya geraten Indien und Pakistan immer mehr an den Rand eines Atomkriegs. Seit mehr als zwei Monaten befindet sich der indische Teil von Jammu und Kaschmir, dessen Bevölkerung zu mehr als 90 Prozent muslimischen Glaubens ist und mehrheitlich zu Pakistan gehören will, im Ausnahmezustand. Mehr als 500.000 Soldaten und Polizisten gehen mit Gewalt gegen Proteste vor, die der Tod des jungen kaschmirischen Aufständischen Burhan Wani am 8. Juli bei einem Feuergefecht mit den Sicherheitskräften ausgelöst hat und seitdem nicht mehr abreißen. Erschwerend kommt der Überfall auf einen indischen Armeestützpunkt an der inoffiziellen Grenze in Kaschmir, der sogenannten Line of Control (LoC), hinzu, bei dem am 18. September 18 Soldaten und vier Angreifer starben. Indien macht Jaisch-e-Mohammed (JeM), die in der Vergangenheit durch spektakuläre Aktionen die Kaschmir-Konfrontation zwischen Islamabad und Neu-Delhi angeheizt hat, für den Vorfall verantwortlich und wirft Pakistan vor, die islamistische Gruppe zu unterstützen oder zumindest gewähren zu lassen. Die indische Regierung hat öffentlich Vergeltung für den Tod der 18 Soldaten angekündigt, die wiederum die beiden Atommächte in einen schrecklichen Krieg mit weitreichenden Folgen weltweit stürzen könnte.

Zu den Handlungsoptionen, die Premierminister Narendra Modi und Verteidigungsminister Manohar Parrikar - beide von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) - laut Presse mit der indischen Armeeführung erörtern, gehören erstens monatelanges Artilleriefeuer entlang der LoC, um die pakistanischen Streitkräfte dort "bluten zu lassen", zweitens gezielte Luftangriffe bzw. verdeckte Operationen der Spezialstreitkräfte gegen JeM-Angehörigen und -Objekte in Pakistan, drittens verstärkte militärische Zusammenarbeit mit Afghanistan, um den pakistanischen Streitkräften für den Fall eines Kriegs mit der Abschneidung ihres Rückzugraums zu drohen, und viertens zusätzliche Unterstützung für die Separatisten in Belutschistan, die der indische Auslandsgeheimdienst (Research and Analysis Wing - RAW) seit Jahren gegen Islamabad aufwiegelt. Bereits Mitte August hat Modi die Belutschistan-Karte gespielt, als er, um von den anhaltenden Unruhen in Kaschmir abzulenken, das pakistanische Militär offen bezichtigte, Greueltaten bei der Aufstandsbekämpfung in Pakistans westlichster Provinz zu verüben.

Ihrerseits haben die pakistanischen Streitkräfte auf die Drohungen aus Indien mit großangelegten Luftmanövern reagiert. Bei den Übungen wurden demonstrativ Kampjets vom Typ F-16 und Mirage eingesetzt, die bekanntlich mit Atombomben und -raketen bestückt werden können. Im pakistanischen Fernsehen wurden Bilder gezeigt, wie solche Maschinen auf einem gesperrten Autobahnabschnitt zwischen Islamabad und Lahore starteten und landeten. Es sollte damit demonstriert werden, daß Pakistans Luftwaffe und zugleich seine Nuklearstreitkräfte ihre Operationsfähigkeit behielten, selbst wenn Indien die gegnerischen Militärflughäfen zerstört hätte.

Indiens konventionelle Streitkräfte sind denjenigen Pakistans inzwischen personell und rüstungstechnologisch weit überlegen. Im Fall einer indischen Invasion würde es auch wegen der langen gemeinsamen Grenze nicht lange dauern, bis Indiens Bodenstreitskräfte weite Teile des Ostens Pakistans besetzt und den Norden samt Hauptstadt Islamabad vom Süden und der Hafenmetropole Karachi abgeschnitten hätten. Deswegen gehen alle Militärexperten davon aus, daß bei einem solchen Vorstoß der Inder die Pakistaner recht schnell gezwungen wären, taktische Atomwaffen einzusetzen. Dies wiederum würde voraussichtlich eine Eskalationsspirale in Gang setzen, an deren Ende nukleare Raketenangriffe beider Seiten auf die jeweils gegnerischen Großstädte stünde. Das Eintreffen eines solchen Szenarios bedeutete nicht nur Leid und Schrecken in einem schier unvorstellbaren Ausmaß auf dem indischen Subkontinent, sondern brächte einen "nuklearen Winter" mit verheerenden Folgen für Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung über die ganze Welt.

Diplomatisch ist Indien dabei, Pakistan von den USA und den anderen westlichen Verbündeten als einem Staat deklariert zu bekommen, der den "Terrorismus" im Ausland fördert bzw. "Terroristen" Unterschlupf gewährt. Auf diese Weise soll Pakistan international isoliert und wirtschaftlich ruiniert werden. Das Ansinnen richtet sich - ganz im Sinne Washingtons und Neu-Delhis - auch gegen die Volksrepublik China, die sich in den letzten Jahren zum wichtigsten Partnerland Pakistans entwickelt hat und dieses mit einem Entwicklungsprogramm im Wert von 46 Milliarden Dollar wieder auf die Beine helfen will. Zu dem gigantischen Vorhaben gehört der Bau eines Transportnetzwerks zwischen dem an der Einfahrt zum Persischen Golf liegenden Tiefseehafen Gwadar und dem Nordwesten Chinas. Destabilisierungsumtriebe Indiens in Belutschistan würden die Realisierung des chinesisch-pakistanischen Großprojekts ernsthaft gefährden.

Am 27. September hat Indiens Premierminister Modi seine geplante Teilnahme am 19. Gipfeltreffen der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) im November in Islamabad abgesagt (Angeblich drängt Islamabad die Regierungen von Bangladesh, Bhutan and Afghanistan, zu dem Regionaltreffen ebenfalls keine Vertreter zu entsenden). Bereits am 26. September hatte Indien angekündigt, mehr Wasser für sich aus den drei Flüssen Indus, Jhelam und Chenab, deren Quellen im indischen Teil des Himalaya-Gebirges liegen, ableiten zu wollen. Der Schritt ist klar gegen Pakistan gerichtet, dessen Landwirtschaft vom Wasser der drei Flüsse abhängt. Als Reaktion haben die Pakistaner mit Krieg für den Fall gedroht, daß die Inder in irgendeiner Weise gegen den von beiden Seiten 1960 abgeschlossenen Indus-Wasservertrag verstoßen. Währenddessen radikalisiert sich die Jugend in Kaschmir zusehends. Im Internet grassieren bereits Videobotschaften, in denen parallel zu Bildern polizeilicher Brutalität die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) die muslimische Jugend Kaschmirs zum heiligen Krieg gegen die ungläubigen Hindus und die Regierung in Neu-Delhi aufruft.

30. September 2016


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