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ASIEN/894: Afghanistan - Westmächte in der Defensive ... (SB)


Afghanistan - Westmächte in der Defensive ...


Auf Drängen seiner Generäle und gegen den eigenen Instinkt hat im vergangenen August Präsident Donald Trump eine Aufstockung der in Afghanistan stationierten US-Streitkräfte von 5000 auf 15.000 Mann gebilligt. Bereits beim Einzug ins Weiße Haus im Januar 2017 hatte der ehemalige Immobilienmagnat die Einsatzregeln für die US-Luftwaffe gelockert. Deren Unterstützung kann seitdem auch ohne eine konkrete Bedrohung der US-Truppen am Boden angefordert werden. Parallel zum Anstieg der Anzahl der Flugmissionen schießt auch die Anzahl der getöteten Zivilisten in die Höhe - was für das Ansehen des westlichen Engagements am Hindukusch nicht gerade förderlich sein dürfte.

Dessen ungeachtet hat noch im November der Oberbefehlshaber der internationalen Streitkräfte in Afghanistan, US-General John Nicholson, behauptet, die militärische "Wende" sei "eingeleitet", die Taliban über kurz oder lang zur Niederlage verdammt. Ganz anders sieht die Lagebeurteilung aus, welche die Generalinspektoren des Pentagons, des State Department und Ministeriums für Entwicklungshilfe in Washington am 21. Mai veröffentlicht haben. Dort hieß es, die Taliban kontrollierten inzwischen über die Hälfte Afghanistans und damit mehr Territorium seit dem Sturz ihrer Regierung im Dezember 2001, die afghanische Armee und Polizei drohten infolge schwerer Kampfverluste sowie der zunehmenden Fälle von Fahnenflucht regelrecht zu kollabieren, der Wiederaufbau des Landes sei aufgrund von Korruption grandios gescheitert, während der Opiumanbau neue Rekorde erreiche. Wie der Zufall so will - oder auch nicht - wurde am nächsten Tag die Ablösung Nicholsons nach zwei Jahren in Afghanistan bekanntgegeben. An seine Stelle tritt nun US-General Austin "Scott" Miller. Doch ob der bisherige Oberbefehlshaber der US-Spezialstreitkräfte mit Kriegserfahrungen in Somalia, dem Irak und Afghanistan die strategische Position der westlichen Interventionisten am Hindukusch entscheidend verbessern kann, darf bezweifelt werden.

Seit etwa einem Monat nun läuft die Frühjahrsoffensive der Taliban. Allein in den ersten drei Wochen der Operation Al Khandak - genannt nach einer erfolgreichen Schlacht des Propheten Mohammed bei Medina - führten Taliban-Kämpfer mehr als 2700 Angriffe und Anschläge durch. Hierzu gehörte ein doppelter Selbstmordanschlag am 21. Mai nahe dem NATO-Hauptquartier Kabul, der 25 Menschen das Leben kostete und mindestens 45 weitere schwerverletzt zurückließ. Am selben Tag explodierte nahe der südlichen Stadt Kandahar ein Lastwagen voller Sprengstoff und riß 16 Menschen, die meisten von ihnen Mitglieder der Sicherheitskräfte, die das verdächtige Fahrzeug inspizierten, in den Tod. Eine Woche zuvor hatten die Taliban Farah, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Westen an der Grenze zum Iran, überfallen und tagelang teilweise besetzt gehalten. Erst nach schweren Luftangriffen haben sie sich wieder zurückgezogen bzw. sind untergetaucht.

Angesichts anhaltender schwerer Kämpfe unter anderem in den nördlichen Provinzen Baghlan und Badachschan im nordwestlichen Faryab sowie in Ghazni und Zabul, die südlich von Kabul liegen, kann man die Sicherheitslage in Afghanistan nicht anders als prekär bezeichnen. Dies erklärt vielleicht, warum am 20. Mai eine Gruppe afghanischer Senatoren eine grundlegende Überprüfung der Stationierungsabkommen mit den USA und der NATO gefordert haben. Nach Ansicht dieser Politiker, darunter der stellvertretende Parlamentssprecher Mohammed Alam Ezedyar, hat das militärische Engagement des Westens in Afghanistan dem Land nicht die versprochene Sicherheit, sondern genau das Gegenteil gebracht. Laut Ezedyar und seiner Mitstreiter soll die Regierung von Präsident Ashraf Ghani in Kabul überlegen, ob sie nicht das Bilateral Security Agreement (BSA) mit den USA und das Status of Forces Agreement (SOFA) mit der NATO aufkündigen sollten.

Bereits im Februar hatten die Taliban die Einladung Ghanis zur Teilnahme an Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen ausgeschlagen. Für die Anhänger der einst von Mullah Mohammed Omar begründeten Organisation kann es keinen Frieden in Afghanistan geben, solange dort fremdländische Truppen stationiert sind. Trotz aller Angebote und Signale aus Kabul, Washington und Brüssel sind sie zu keinem Zeitpunkt von ihrer Kernforderung des Abzug aller ausländischen Soldaten aus Afghanistan abgerückt.

Während die USA und ihre Verbündeten bislang vergeblich die Taliban in gemäßigte und radikale Kräfte zu spalten versuchen, scheinen die Gotteskrieger mehr Erfolg bei der Anwerbung der eigenen Landsleute für ihre Sache zu gewinnen. Immer wieder kommt es zu tödlichen Überfällen afghanischer Armeeangehörigen und Polizisten auf NATO-Soldaten. Entweder haben jene Täter die afghanischen Sicherheitskräfte gezielt unterwandert oder sie sind im Verlauf ihres Dienstes von den Taliban umgedreht worden. Nicht umsonst haben die Taliban bei der Verkündung der Frühjahrsoffensive im April die "amerikanischen Invasoren" zum Hauptfeind erklärt und ihre Landsleute dazu aufgerufen, sich von diesen abzuwenden. Allen Soldaten und Polizisten, welche die Seiten wechselten, wurde Milde und Verständnis versprochen, sie müßten sich keine Sorgen wegen möglicher Vergeltungsaktionen machen, so die Taliban. Seit längerem heißt die Devise des Westens im Afghanistankrieg, man könne nur gewinnen, wenn man "Herzen und Seelen" der einheimischen Bevölkerung erobere. Dem Erreichen dieses Ziels sind die NATO-Mächte heute, nach fast 17 Jahren Dauerkrieg, ferner denn je.

25. Mai 2018


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