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ASIEN/947: Afghanistan - US-Hinterlassenschaften ... (SB)


Afghanistan - US-Hinterlassenschaften ...


Seit dem 22. Februar läuft in Afghanistan eine Feuerpause, auf die, sollte es - von vereinzelten Schießereien einmal abgesehen - zu keinen schweren militärischen Auseinandersetzungen kommen, am 29. Februar die Unterzeichnung eines formellen Friedensvertrags zwischen den USA und den Taliban folgen soll. Von einer Zwischenlandung von US-Präsident Donald Trump, der sich aktuell zum Staatsbesuch in Indien aufhält, auf dem Militärstützpunkt Bagram bei Kabul zwecks Teilnahme an der feierlichen Zeremonie ist bereits die Rede. Zehn Tage danach sollen erste Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung stattfinden. Doch da gibt es ein großes Problem. In Kabul tobt ein heftiger Streit um den Ausgang der 2019 durchgeführten Präsidentenwahl. Zwischen den Kräften, die im afghanischen Parlament vertreten sind und welche die Regierung in Kabul im Kampf gegen die Taliban seit Jahren unterstützen, droht ein regelrechter Bürgerkrieg.

Hauptkontrahenten im innenpolitischen Streit sind Präsident Ashraf Ghani und Premierminister Abdullah Abdullah. Der ehemalige Weltbank-Manager Ghani gilt als Vertreter der Paschtunen, der größten Bevölkerungsgruppe in Afghanistan, aus der auch die allermeisten Taliban kommen. Abdullah, der unter dem letzten Präsidenten Hamid Karzai Außenminister war, vertritt dagegen vor allem die Interessen der kleineren Volksgruppen wie Usbeken, Hasara und Tadschiken. Beide Männer traten bereits bei der Stichwahl um die Präsidentschaft 2014 gegeneinander an. Schon damals wurden beide Runden der Präsidentenwahl von Unregelmäßigkeiten, Vorwürfen der Stimmenmanipulation sowie Überfällen und Bombenanschlägen der Taliban begleitet. Auch damals hat Abdullah den Sieg Ghanis in der zweiten Runde mit 55 zu 45 Prozent der abgegebenen Stimmen nicht anerkannt. Es bedurfte einer tagelangen diplomatischen Mission von Barack Obamas Außenminister John Kerry, um eine politische Notlösung zu finden: eine Einheitskoalition mit Ghani als Staatsoberhaupt und Abdullah als "Vorstandsvorsitzender" der Regierung.

2014 nahmen mehr als sechs Millionen der 9,6 Millionen registrierten Wähler Afghanistans an der Präsidentenwahl teil. Bei der Abstimmung im vergangenen September dagegen fiel die Wahlbeteiligung weit dahinter zurück; weniger als zwei Millionen Menschen machten sich diesmal die Mühe bzw. nahmen die Gefahr auf sich, zum Wahllokal zu gehen und ihre Stimme abzugeben. Anfang November sollte das amtliche Ergebnis verkündet werden, doch fiel dies wegen zahlreicher Berichte über Unstimmigkeiten wie Manipulation der Wählerlisten ins Wasser. In den Wahllokalen in den mehrheitlich von Paschtunen bewohnten Teilen des Landes tauchten mehr als 100.000 Stimmzettel auf, die entweder vor oder nach dem eigentlichen Wahltag und damit illegal zugunsten Ghanis ausgefüllt worden waren. Kein Wunder also, daß Abdullah die Bekanntmachung der Wahlkommission vom 18. Februar - nach erneuter Auszählung der meisten Stimmen hätte Ghani einen Anteil von 50,6 Prozent erzielt, wodurch eine Stichwahl entfallen würde - in Zweifel zog und sich mit diesem Ausgang partout nicht zufriedengeben will.

Abdullah droht nun damit, eine eigene "überparteiliche" Gegenregierung zu bilden. Unterstützung erhält er bei diesem Vorhaben sowohl von dem mächtigen usbekischen Warlord und ehemaligen Vizepräsidenten General Abdul Raschid Dostum als auch von Gulbuddin Hekmatyar, der in den neunziger Jahren zweimal Premierminister Afghanistans war. Hekmatyar ist Chef der sunnitisch-fundamentalistischen Gruppierung Hisb-i-Islami, deren Mitglieder lange Zeit an der Seite der Taliban gegen die afghanischen Sicherheitskräfte und die NATO-Truppen gekämpft haben. Hekmatyars Abkehr vom bewaffneten Kampf und die seit 2016 laufende Reintegrierung seiner Hisb-i-Islami in den politischen Prozeß dient als Modell, wie eine Aussöhnung mit den Taliban gestaltet werden könnte.

Dieser Tage kutschiert Trumps Sonderbeauftragter Zalmay Khalilzad, der über ein Jahr lang in Doha mit den Taliban verhandelt hat, in einem gepanzerten Mannschaftswagen von einem Teil Kabuls zum anderen, um zwischen den verfeindeten Parteien der afghanischen Noch-Regierung zu vermitteln. Vielen Afghanen kam es verdächtig vor, daß die Wahlkommission Ghani zum Wahlsieger erklärt hatte, gerade zwei Tage nachdem der amtierende Präsident auf der Sicherheitskonferenz in München hinter verschlossenen Türen mit US-Außenminister Mike Pompeo und Verteidigungsminister Mark Esper beraten hatte. Beim Treffen mit Mitgliedern von Dostums national-islamischer Bewegung am 20. Februar in Kabul soll Khalilzad, der ebenfalls Paschtune ist, beteuert haben, genauso von der Verlautbarung der Wahlkommission zu Ghanis Gunsten überrascht gewesen zu sein wie sie. Dies berichtete zwei Tage später die New York Times.

Am 24. Februar meldete die Nachrichtenagentur Reuters, Khalilzad würde Ghani förmlich beknien, seine geplante Amtseinführung als Präsident zu verschieben, um in dieser heiklen Phase "den Friedensprozeß nicht zu gefährden". Mit demselben Argument versucht Khalilzad Abdullah und dessen Unterstützer von der Ausrufung einer eigenen Alternativregierung abzubringen. Nichts soll offenbar die Woche der "Gewaltreduktion" stören und die Besiegelung eines Friedensvertrags zwischen den USA und den Taliban torpedieren. Auf den Sondergesandten Washingtons muß die zerstrittene politische Elite Afghanistans hören. Schließlich besteht der Haushalt der Regierung in Kabul zu 95 Prozent aus ausländischen Hilfsgeldern. Des weiteren tragen die USA und ihre NATO-Verbündeten mit fünf Milliarden Dollar die Hauptlast bei der Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte. Die Regierung in Kabul selbst ist lediglich mit zwei Milliarden Dollar dabei (Die gerade zitierten Daten stammen aus dem jüngsten Bericht des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) an den Kongreß in Washington). Afghanistan kann also die eigenen Soldaten und Polizisten nicht bezahlen und ist sicherheitstechnisch auf das Wohlwollen von Nordamerikanern und Europäern angewiesen.

Der Streit zwischen Ghani und Abdullah dürfte seinen Niederschlag in den geplanten Verhandlungen mit den Taliban finden. Die afghanische Regierung wird es schwer bis unmöglich haben, eine einheitliche Front gegenüber den ehemaligen Koranschülern einzunehmen. Im Gegenteil sind es die Taliban, die nach dem Sieg über die ausländischen Invasoren die Differenzen unter ihren politischen Gegnern zu ihren Gunsten werden ausnutzen können. Man kann den Afghanen nur wünschen, daß das bevorstehende Geschachere in Kabul alle Beteiligten irgendwie zufriedenstellt und alle Gruppierungen ihre Pfründe davon tragen können, denn ansonsten steht eine weitere Runde des nunmehr seit Ende der siebziger Jahre anhaltenden Bürgerkriegs in Afghanistan bevor.

26. Februar 2020


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