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HISTORIE/335: Militär - systemische Kriegsverbrechen der Briten ... (SB)


Militär - systemische Kriegsverbrechen der Briten ...


Seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens krankt die Versöhnung in Nordirland zwischen nationalistischen Katholiken und protestantischen Unionisten an einer mangelhaften Aufarbeitung der sogenannten Troubles, die zwischen 1968 und 1998 3.500 Menschen das Leben kosteten und weitere Zehntausende verkrüppelt oder traumatisiert zurückließen. Viele Mordfälle bleiben bis heute unaufgeklärt. Nicht wenige Hinterbliebene wissen nicht einmal, wo sich das geliebte Familienmitglied bzw. dessen Leiche befindet und haben sich niemals mit einer Trauerfeier von ihm verabschieden können.

Seit Jahren fordern deshalb die Opferfamilien auf beiden Seiten des konfessionellen Grabens die Einrichtung einer Wahrheitskommission, vor der ehemalige Loyalisten, IRA-Mitglieder, Polizisten und Armeeangehörige aussagen und zur Aufklärung beitragen könnten und die im Gegenzug bei ehrlicher Zusammenarbeit Straffreiheit garantiert bekämen. Doch dazu kommt es nicht, weil die britische Regierung nicht nur vereinzelte Armeesoldaten und -offiziere wegen irgendwelcher Verfehlungen nicht an den Pranger gestellt sehen will, sondern vor allem, weil sie das Ausmaß der Verwicklung der eigenen Geheimdienste MI5 und FRU in die Aktivitäten republikanischer und loyalistischer "Terrorgruppen" vertuschen will.

Eine Folge der Weigerung des britischen Staates, bis auf die Abhaltung einer großen Kommission zum "Bloody Sunday" 1972 in Derry die Verantwortung für die Missetaten seiner Bediensteten in Irland zu übernehmen, ist, daß diese quasi dazu verdammt sind, dieselben "Fehler" bei anderen Auslandseinsätzen zu wiederholen. Den Beweis für diese These lieferte der preisgekrönte, aus Liverpool stammende Kriegskorrespondent und Historiker Ian Cobain in einem erhellenden, aber letztlich deprimierenden Artikel, der am 4. Februar bei Middle East Eye unter der Überschrift "Exclusive: British army permitted shooting of civilians in Iraq and Afghanistan" erschienen ist. Demnach hatten britische Armeeangehörige im Irak und in Afghanistan von ihren Vorgesetzten die ausdrückliche Erlaubnis, Zivilisten zu erschießen, und haben davon reichlich Gebrauch gemacht.

Im Mittelpunkt des Artikels steht der Einsatz britischer Truppen ab 2004 im südirakischen Basra und ab 2007 in der afghanischen Provinz Helmand. In Basra sahen sich die britischen Besatzungssoldaten nach dem Blitzsieg im Frühjahr 2003 über die Armee Saddam Husseins recht schnell mit einem Aufstand der schiitischen Mahdi-Armee des jungen "Radikalpredigers" Muktada Al Sadr konfrontiert, die großen Rückhalt bei der Zivilbevölkerung genoß. Tatsächlich sehen die Genfer Konventionen den Einsatz tödlicher Gewalt gegen Zivilisten als legale Handlungsoption vor. Bedingungen dafür sind jedoch erstens, daß das Leben der Soldaten in Gefahr ist und/oder der betreffende Zivilist "sich direkt an Kampfhandlungen beteiligt" hat.

Was die "direkte Beteiligung" eines Zivilisten am Kriegsgeschehen betrifft, da streiten sich die Juristen über Bedeutung und Auslegung. In Basra haben die britischen Soldaten eine Praxis übernommen, die sie im Kampf gegen die Irisch-Republikanische Armee (IRA) in Nordirland angewandt haben. Jede Person, die den Anschein erweckte, sie leistete Späharbeit für den Feind, konnte erschossen werden (Solche Leute nannten die Soldaten "Dickers"). Dadurch kamen viele junge Iraker ums Leben, die deshalb von den Soldaten umgebracht wurden, weil sie in deren Reichweite per Mobiltelefon mit jemandem kommunizierten oder auch nur ein solches Gerät in der Hand hielten. Cobain berichtet von einem erschütternden Fall, den ihm ein ehemaliges Mitglied der Royal Marines bezeugte und bei dem ein irakischen Vater mit der blutigen Leiche seines erschossenen acht Jahre alten Sohnes vor dem Tor eines britischen Militärpostens erschienen ist und völlig verzweifelt von den Soldaten Aufklärung forderte, jedoch keine erhielt.

2007 wurde die Position der Briten bei Basra immer bedrängter. Wegen der vielen Minen, welche die Aufständischen am Straßenrand vergruben, durften auch Personen mit Spaten in der Hand erschossen werden, was auch vielfach geschah. Die Soldaten, besonders bei Nachtpatrouillen, brauchten nicht die Erlaubnis ihrer Vorgesetzten einzuholen, sondern konnten nach eigenem Ermessen das Feuer auf jeden und alles eröffnen. Cobain zitiert einen britischen Irakkriegsveteranen mit den Worten: "Wir haben auf alte Männer und junge Männer geschossen. Das kann ich bezeugen. Ich habe noch niemals eine solche Gesetzeslosigkeit erlebt." Die Eskalation der Brutalität half den britischen Besatzungstruppen im Südirak nicht. Ende 2007 mußten sie alle Außenposten räumen und sich am Flughafen von Basra verbarrikadieren, was nicht nur die Einheimischen, sondern auch die Experten im Pentagon als peinliche Niederlage bewerteten. 2009 verließ die britische Armee den Irak endgültig.

2006 kamen die britischen Streitkräfte in die südafghanische Provinz Helmand. Dort hatten sie es mit einer wiedererstarkten Taliban-Bewegung zu tun. Auch hier wurden die selben Einsatzregeln in bezug auf "Dickers", oder Menschen, die man aufgrund verdächtigen Verhaltens dafür hielt, angewandt. Ein Ex-Soldat berichtet gegenüber Cobain von einer Vertuschungsaktion, nachdem zwei afghanische Jugendliche "fälschlicherweise" erschossen wurden. Vom nächsten Stützpunkt ließ man schnell sowjetische Gewehre holen und legte sie neben die Leichen, um die Getöteten im nachhinein als Kombattanten auszuweisen. Laut den Erkenntnissen von Cobain war es bei den britischen und amerikanischen Truppen in Afghanistan Usus, nicht registrierte Waffen von der Sorte, welche häufig von den gegnerischen Kräften benutzt wurden, heimlich auf Lager zu halten, um bei solchen traurigen Zwischenfällen die betroffenen Soldaten rechtlich reinzuwaschen.

Doch auch in Afghanistan halfen die perfiden Tricks wenig. 2009 fielen dort 100 britischen Soldaten. 2014 zog das Vereinigte Königreich alle seine Militärangehörigen vom Hindukusch ab. Während der 13 Jahre bis dahin waren insgesamt 454 Mitglieder der britischen Landstreitkräfte in Afghanistan gefallen. Die Zahl der Verkrüppelten und Traumatisierten dürfte in die Tausende gehen. Cobain hat für seinen Artikel mit vielen britischen Afghanistan- und Irakkriegsveteranen gesprochen, die heute noch schwer unter den Folgen ihrer Kriegserlebnisse in Form der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden.

Von alledem wollen die eigentlich Verantwortlichen, die Politiker in London, wenig bis gar nichts wissen. 2017 wurde das zehn Jahre zuvor von der sozialdemokratischen Regierung Gordon Browns geschaffene Iraq Historic Allegations Team (IHAT) im britischen Verteidigungsministerium abgeschafft. Dem schäbigen Schritt ging das vollmundige, an die Adresse der Generalität und der Hurra-Patrioten gerichtete Versprechen von Premierministerin Theresa May auf dem Parteitag der britischen Konservativen im Herbst 2016 voraus: "Wir werden niemals - bei keinem zukünftigen Konflikt - wieder zulassen, daß linke Aktivisten und Menschenrechtsanwälte die Mutigsten der Mutigen beschuldigen oder schikanieren können."

6. Februar 2019


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