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INTERVIEW/004: Seyoum Habtemariam zu Äthiopien, Teil 1 - Hunger, Landnahme, Entwicklungspolitik (SB)


Interview mit Seyoum Habtemariam vom Äthiopischen Menschenrechtskomitee in Tübingen am 28. August 2011 in Stelle-Wittenwurth

Teil 1: Hunger, Landnahme, Entwicklungspolitik


Äthiopien ist Schwerpunktland der Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland. Auch die USA, Großbritannien und weitere reichere Länder kommen für einen Gutteil des Haushalts der äthiopischen Regierung auf, die sich eines der größten Militärbudgets des Kontinents leistet. 1998 haben Äthiopien und Eritrea Krieg gegeneinander geführt, 2006 sind die äthiopischen Streitkräfte, unterstützt vom amerikanischen und britischen Militär, in Somalia einmarschiert und haben dort eine im Exil gebildete Übergangsregierung gewaltsam an die Macht gebracht. Nach zwei Jahren hat sich Äthiopien wieder aus seinem Nachbarland zurückgezogen.

Die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba ist Sitz der Afrikanischen Union, des Pendants zur Europäischen Union. Das 90 Millionen Einwohner zählende Äthiopien macht regelmäßig durch schwere Hungersnöte von sich reden, so auch aktuell. Gegenwärtig sind schätzungsweise fast fünf Millionen Einwohner auf Hungerhilfe angewiesen. Dessen ungeachtet lockt die Regierung ausländische Investoren ins Land, die Pachtverträge über landwirtschaftliche Flächen erhalten, so daß sie darauf Pflanzen für den Export (cash crops) anbauen können.

Einer, der Kritik an der Regierungspolitik übt, ist Seyoum Habtemariam. Er wurde 1965 in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba geboren und ist dort zur Schule gegangen. 1985 kam er nach Deutschland. Heute engagiert sich Seyoum Habtemariam, der eine Ausbildung als Berater für Informationstechnologie absolviert hat, für das 2006 gegründete Äthiopische Menschenrechtskomitee (Ethiopia Human Rights Committee) in Tübingen, für das inzwischen sieben Personen arbeiten. Mit ihrer Arbeit erreichen sie den größten Teil der in Deutschland lebenden rund 15.000 ÄthiopierInnen und sind eigenen Angaben zufolge auch Äthiopiern im Ausland ein Begriff.

Der Schattenblick führte am 28. August 2011 ein längeres Gespräch mit Seyoum Habtemariam, das wir in zwei Teilen veröffentlichen. Schwerpunkte des ersten Teils sind Hunger, Landnahme und Entwicklungspolitik; der zweite Teil handelt vor allem von der Innen- und Außenpolitik Äthiopiens sowie dem religiösen Konfliktpotential des Landes.

Seyoum Habtemariam - Foto: © 2011 by Schattenblick

Seyoum Habtemariam
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Welches Anliegen verfolgt das von Ihnen geleitete Äthiopische Menschenrechtskomitee?

Seyoum Habtemariam: Wir machen durch unsere Öffentlichkeitsarbeit auf die dortigen Menschenrechtsverletzungen wie Landnahmen und Vertreibungen, Folter und willkürliche Festnahmen aufmerksam. Wir führen zudem Kampagnen für die Freilassung politischer Häftlinge durch.

Deutschland ist ein wichtiger Partner Äthiopiens, das nach Irak und Afghanistan die umfangreichste internationale Entwicklungshilfe erhält. Die äthiopische Regierung kassiert mehr als drei Milliarden US-Dollar jährlich und kommt in den Genuß zahlreicher Vergünstigungen. In den letzten 14 Jahren sind mehr als 30 Milliarden Dollar nach Äthiopien geflossen.

Daß ein autoritäres Regime derart stark unterstützt, hofiert und in Schutz genommen wird, prangern wir hier in Deutschland, in der EU und weltweit an und versuchen, die Öffentlichkeit über die Mißstände zu informieren, zumal die Informationen aus Äthiopien von der Politik stark unterdrückt werden.

SB: Welche Aktivitäten entfalten Sie in Deutschland?

SH: Wir organisieren Veranstaltungen, betreiben Lobby- und Informationsarbeit und Kampagnen, um politische Gefangene freizubekommen. Wir wollen auch die deutsche Öffentlichkeit auf die Lage in Äthiopien aufmerksam machen. Dazu gehört auch, auf die weit gehende deutsch-äthiopische Zusammenarbeit hinzuweisen. Sie reicht von der Unterstützung der äthiopischen Polizeikräfte in der Vergangenheit bis zur fortgesetzten Ausbildung des Militärs und neuerdings auch der Luftwaffe.

SB: Haben Sie sich mit den Informationen über Menschenrechtsverletzungen in Äthiopien an die Bundesregierung gewandt? Treffen Sie dort auf offene Ohren?

SH: Nein. Alle Regierungen der Bundesrepublik Deutschland haben in der ein oder anderen Form Menschenrechtsverletzungen toleriert und das Regime von Meles Zenawi stark politisch, finanziell und militärisch gefördert. Es fällt ihnen offenbar schwer, ihre Fehler zu korrigieren, aber immerhin finden wir immer wieder einige Politiker, die unser Anliegen ernst nehmen. Der Großteil schweigt. Unsere Kritik kommt bei der deutschen Regierung nicht gut an. Da stoßen wir auf Ablehnung.

SB: Werden Sie von der äthiopischen Regierung als Kritiker an ihr wahrgenommen, und kommen von dort erkennbare Einflußversuche auf die Bundesregierung?

SH: Ja. Die heutigen Diktatoren Afrikas sind anders, als sie es in den sechziger, siebziger Jahren waren. Sie engagieren PR-Unternehmen, beispielsweise aus Washington wie DLA Piper, an die hohe Summen fließen. Die PR-Strategen lassen Äthiopien in einem guten Licht erscheinen. Auch Entwicklungshilfeorganisationen spielen mit. Es ist manchmal kaum zu unterscheiden, ob Informationen von einer PR-Agentur, NGO oder vom Auswärtigen Amt stammen. Unterschwellig versucht man, die Tatsachen zu revidieren und zu entschärfen. Glaubwürdige Berichte von Human Rights Watch, Amnesty International oder dem US State Department werden pauschal als Propaganda abgetan.

In jüngerer Zeit wurde die Existenz einer Liste mit den Namen von Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern und Menschenrechtlern inklusive des Grünen-Abgeordneten Thilo Hoppe bekannt, der bereits dazu eine Presseerklärung abgegeben hat. Auf der Liste, die mir vorliegt, ist auch mein Name zu finden. Ich hatte die Mißstände in Äthiopien in einem Interview mit Voice of America angeprangert. Darin wurden Voice of America und die US-Regierung aufgefordert, den auf der Liste genannten Personen keine Plattform mehr zu bieten und drei Journalisten von Voice of America zu entlassen. Der Forderung hat sich der US-Sender im Namen der Pressefreiheit widersetzt.

SB: Wie gelangen Sie an Informationen aus Äthiopien? Bestehen persönliche Kontakte dorthin oder gibt es dort einen Vertreter Ihres Menschenrechtskomitees?

SH: Wir haben verschiedene Informationsquellen in Äthiopien. Aber bitte haben Sie Verständnis dafür, daß ich im Interesse der Sicherheit meiner Quellen keine weiteren Angaben machen möchte.

SB: Sie haben sich mit dem Thema Landnahme bzw. Landraub befaßt. Wie kann man sich das vorstellen, was genau findet dabei statt?

SH: Zurzeit hat Äthiopien über 900 Verträge zur Landvergabe abgeschlossen. Man benötigt nur vier Stunden vom Antrag bis zur Besitzurkunde. Von A bis Z wird das von Investmentbüros abgewickelt. Oftmals haben die Investoren das Land gar nicht selbst begutachtet, auch wenn es um große Flächen geht.

In der zweiten Phase der Landnahme vertreibt die Regierung die lokale Bevölkerung. Da spielt es keine Rolle, ob es sich um ganze Dörfer handelt. Die werden kurzerhand niedergebrannt. Anschließend gehen die Ländereien in den Besitz der Unternehmen über. Das findet in sehr vielen Regionen statt, im Süden, aber auch in Gambela im Westen.

SB: Werden die Einwohner, die in jenen Gebieten leben oder sie nutzen, vorher darüber informiert, daß sie verschwinden müssen?

SH: Nein. Da wird niemand gefragt. Die Menschen werden vor vollendete Tatsachen gesetzt. Ihnen wird erklärt, daß es da, wo sie hingehen können, Schulen, Krankenhäuser und so weiter gibt.

SB: Werden solche Versprechungen erfüllt?

SH: Nein. Bis jetzt wurden diese Versprechungen nicht erfüllt. Trotz ihrer Weigerung werden die Menschen vertrieben.

SB: Kann das sein, daß das von einem Tag auf den nächsten geschieht?

SH: Genau.

SB: Ich frage nochmals nach, um mir ein klares Bild zu verschaffen: Da wohnen Leute, die rechnen mit nichts, leben vielleicht schon seit Generationen dort, und eines Tages kommen die Bulldozer an, und die Menschen werden vertrieben?

SH: Ja, sie werden vertrieben.

SB: Und den Betroffenen wird kein Ersatz zugewiesen?

SH: Nein. Das Land, das von Bauern und Viehzüchtern genutzt wird, soll agrarindustriell bewirtschaftet werden. Für die Einwohner werden kleinere Dörfer oder Siedlungen gegründet. Dort leben sie in Ghettos ohne Land. Die Wasserwege und Straßen werden gesperrt. Die Investoren erhalten die Wasserrechte. Manche Einwohner bleiben auch vor Ort. Deren Lage ist dann hoffnungslos.

SB: Existieren in Äthiopien schon Plantagen aus der Landnahme, die in vollem Umfang für den Export produzieren?

SH: Ja, zum Beispiel werden in der Form bereits Blumen angepflanzt. Für einen Hektar werden pro Tag 10.000 Liter Wasser benötigt. Von den Blumen geht ein großer Teil nach Deutschland. Für Saudi-Arabien wurde schon vor über einem Jahr mit der Getreideproduktion begonnen. Die erste Ernte wurde stolz König Fahd präsentiert.

Darüber hinaus werden Gemüse, Mais und auch Pflanzen für Biosprit erzeugt. Das alles wandert in den Export. Eine deutsche, in Äthiopien engagierte Firma, die nach eigenen Angaben führend in der Biospritherstellung sei, ist mir bekannt. Das Unternehmen hat verschiedene Projekte im Osten und im Westen Äthiopiens angestoßen, aber oft erfährt man nichts darüber. Bei der Landnahme im Osten kamen nicht nur Menschen zu Schaden, sondern auch die Umwelt. Dort wurden große Mengen an Pestiziden verwendet, die die lokalen Imker ruiniert haben. In Gambela wiederum wurden dem Unternehmen 57.000 Hektar Land zugewiesen. Verschwiegen wird, daß dort bereits die Vertreibung von 200.000 Einwohnern angelaufen ist.

SB: Die äthiopische Regierung ist der Kritik an der Landvergabe unter anderem mit dem Argument entgegengetreten, daß nur rund fünf Prozent der landwirtschaftlichen Fläche an ausländische Investoren verpachtet wird.

SH: Das stimmt nicht. Die Pläne der Regierung sehen eine viel größere Fläche für die ausländischen Investoren vor. Darauf habe ich aufmerksam gemacht, als Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel Äthiopien besuchte - der behauptet übrigens das Gleiche wie die äthiopische Regierung: Das Land sei ungenutzt.

SB: Ist es das?

SH: Nein. Das ganze Land wird genutzt. Mal dient es dem Wanderfeldbau, mal der Beweidung durch die Viehzüchter und der Nutzung der Wälder. Es gibt kein freies, ungenutztes Land in Äthiopien.

SB: Trifft es zu, daß sich das gesamte Land in Staatsbesitz befindet?

SH: Nach dem Sturz der Monarchie [Anm. d. SB-Red.: 1974] wurden alle, die mehrere Häuser und Ländereien hatten, per Dekret enteignet. Manche Adeligen und andere Personen besaßen riesige Flächen. Dieses Land wurde tatsächlich teilweise an die Bauern verteilt. Manches ging an staatliche Farmen über, aber der Rest wurde an die traditionellen Bauern verteilt, die auf ihrem Land geblieben waren, wo sie auch früher schon gewirtschaftet hatten. Man könnte nun meinen, daß alles Land dem Staat gehört, aber traditionell gehört es den Bauern. Nach der äthiopischen Verfassung ist das Land Allgemeingut der Bevölkerung. Möglicherweise verlieren die Investoren nach einem Machtwechsel jeden Anspruch auf das den Bauern geraubte Land.

SB: Ihre Beschreibungen erwecken den Eindruck, daß die heimischen Kleinbauern im Unterschied zu den großen ausländischen Investoren, die Pachtverträge mit langen Laufzeiten abschließen, weniger Rechtssicherheit genießen.

SH: Das ist richtig. Die Bauern haben keine Rechte, die Unternehmen sind besser gestellt. Wenn heute ein Unternehmen kommt, dem ein Land gefällt, dann werden die Bauern ruckzuck vertrieben. Nur weiß man nicht, wohin das ganze Geld für die Pachten fließt und geflossen ist.

SB: Gibt es eigentlich Widerstand gegen die Vertreibungen? Haben sich die Bauern schon mal zur Wehr gesetzt?

SH: Das können sie nicht. Sie sind bedroht und geschlagen worden. Das wurde mit Audio- und Video-Aufnahmen dokumentiert. In dem System wird alles von oben bis unten kontrolliert. Da haben die Bauern keine Chance, auch wenn sie in Interviews schon mal erklären, daß sie nichts anderes mehr haben als ihre Waffen, wenn ihnen das Land weggenommen wird.

SB: Ja, ich erinnere mich an einen Film, in dem sich ein Bauer entsprechend geäußert hatte. Darin war es um einen indischen Investor in Äthiopien gegangen.

SH: Der Investor war von seinem Mitarbeiter angerufen worden, daß seine Leute an der Arbeit gehindert würden. Der Investor fragte sofort: "Durch wen? Durch die Regierung?" Die Antwort: "Nein, durch die Bauern." Das hat sich dann erledigt - hinterher erfuhr man, daß die Bauern geschlagen worden waren. Der Investor hat mehr Macht und mehr Möglichkeiten. Bei einzelnen Landnahmen wurden Bauern, die sich nicht vertreiben lassen wollten, getötet.

SB: In den hiesigen Medien wird manchmal das positive Bild von der Landnahme gezeichnet, daß die Bauern, die ihr Land verlieren, ersatzweise Arbeit auf der Plantage und damit ökonomische Sicherheit erhalten. Trifft das zu?

SH: Die Arbeiter können von dem, was sie verdienen, nicht leben. Außerdem ist ihre Zukunft ungewiß. Womöglich werden sie irgendwann wieder entlassen, weil das Unternehmen höhere Profite machen will. Ihr Land sind sie dann los.

SB: Auf dem Weltmarkt sind die Preise für Biosprit tatsächlich zwischenzeitlich in den Keller gerutscht. Daraufhin wurden manche im Aufbau begriffene Plantagen nicht fertiggestellt, bzw. Firmen haben weniger Personal eingestellt als ursprünglich verheißen. Ist diese Entwicklung auch in Äthiopien zu beobachten?

SH: In Äthiopien hat bislang keine der Firmen erfolgreich gewirtschaftet. Solche Informationen werden allerdings nicht groß verbreitet. Ansonsten würden die Investoren fliehen.

SB: Inwieweit wird es in der äthiopischen Öffentlichkeit thematisiert, daß auf der einen Seite Menschen hungern und auf der anderen Seite landwirtschaftliche Produkte für den Export erzeugt werden?

SH: Weder während der Monarchie noch während der Militärregierung hat man Nahrungsmittel exportiert. Es sei denn, daß Überschüsse vorhanden waren. Jetzt wird der Export systematisch betrieben. Die Bauern verkaufen ihre Kühe, das Fleisch wird in den gesamten arabischen Raum ausgeführt. Für einen Bauern sind Kuh und Ochse so wichtig wie Traktoren. Die Viehzüchter leben von dem Vieh, sie brauchen nicht unbedingt Getreide. Diese gewachsenen Lebensverhältnisse werden zerstört. Man erzeugt Verhältnisse wie in Brasilien mit seinen vielen Landlosen und Favelas.

SB: Eine Zeitlang waren bei der Landnahme in Afrika eher Staatsfonds aktiv. Inzwischen sollen es vermehrt Privatinvestoren sein. Wie verteilt sich das in Äthiopien?

SH: Es gibt sowohl staatliche als auch private Investoren. Die Namen ausländischer Privatinvestoren sind weitgehend bekannt. Dann gibt es natürlich auch Saudi-Arabien, der nigerianische Ex-Präsident Obasanjo hat ebenfalls Land gepachtet, und ich glaube, daß auch der gestürzte ägyptische Präsident Hosni Mubarak und der Präsident von Dschibuti in Äthiopien privat Land besitzen.

SB: Im Rahmen der Finanzkrise werden ja stets neue Spekulations- und Investitionsobjekte gesucht. Seitdem die Nahrungsmittelpreise so stark gestiegen sind, geht der Trend zur Investition in Land. Somit ist das Thema Landraub direkt mit dem globalen Wirtschaftsgeschehen und der Krisenentwicklung verkoppelt. Wird auch das von Ihnen oder Ihrer Organisation thematisiert?

SH: Ja, natürlich. Beispielsweise machen wir darauf aufmerksam, daß deutsche Investmentsfonds an der Finanzierung solche Landnahmen beteiligt sind. Des weiteren ist zu beobachten, daß manche Firmen die Pacht einer riesigen Fläche Land als 'asset' bezeichnen. Agrarland wird als Anlage gepriesen, um Investoren anzulocken.

SB: Von einer linken Position aus würde man die Landnahme auch als eine kapitalismuskritische Frage aufwerfen. Mit der ursprünglichen bzw. primären Akkumulation fing es an. Heute wird wieder zu den direkten Formen des Raubs zurückgekehrt, nachdem er zwischenzeitlich sehr stark über die Industrieproduktion und den Finanzmarkt vermittelt war. Es wird also auf Ressourcen, Land und Nahrungsmittel zugegriffen. Bei der Arbeit entstehen dann neue Formen der Versklavung, man könnte auch von Lohnsklaverei sprechen.

SH: Ich würde von einer zweiten Kolonisation in Afrika sprechen.

SB: Sie hatten vorhin über die Landumverteilung gesprochen, nachdem 1974/75 Kaiser Haile Selassie abgesetzt und vertrieben wurde. Anschließend hatte sich das Militär an die Spitze der Protestbewegung gesetzt und die Kontrolle übernommen. Jene Zeit des Sozialismus in Äthiopien war von Grausamkeiten geprägt. Gibt es heute noch Hinterlassenschaften bzw. möglicherweise Errungenschaften in der äthiopischen Gesellschaft, die man als sozialistisch bezeichnen könnte? Erinnert noch etwas an die ursprüngliche Idee des Sozialismus von einer gerechteren Gesellschaft?

SH: Ich war zwar nicht in dem Alter damals, aber ich weiß, daß die Landfrage ein zentrales Thema bei den Studenten war. Sie forderten eine gerechte Verteilung. Dem haben viele Menschen zugestimmt, die Forderung wurde allgemein angenommen. Damals besaß jeder Bauer das Recht und die Möglichkeit, wenn er von heute auf morgen Landwirtschaft betreiben wollte.

Der Slogan der Studenten einschließlich von Meles Zenawi hieß damals "Land für die Bauern". Heute lautet der Slogan des Premierministers "Land für ausländische Investoren".

Damals gehörte Land den Bauern als Kollektiv. Der größte Teil des Landes wurde damals an die Bauern verteilt. Lebensmittel waren bezahlbar und sehr günstig. Auch Menschen mit niedrigem Einkommen konnten sich Nahrungsmittel leisten. Es gab freie Händler, aber jede Kommune besaß ihren eigenen Laden. Dort konnte man damals sehr günstig Lebensmittel erwerben. Im diesem Jahr dagegen sind die Lebensmittelpreise um 50 Prozent gestiegen.

Ich habe erfahren, daß inzwischen selbst ausgebildete Kräfte, die einer Arbeit nachgehen, Essensreste kaufen, weil ihre Einnahmen nicht zum Leben reichen. Manche gehen sogar zur Hintertür von Restaurants und kaufen Nahrungsreste, um ihren Hunger zu stillen. Das ist wirklich sehr, sehr traurig. Die Menschen ziehen jetzt häufiger Vergleiche zwischen dem früheren brutalen und dem heutigen brutalen Regime.

SB: Hat sich in Äthiopien eine Landlosenbewegung ähnlich der in Brasilien entwickelt?

SH: Man kann zwar nicht von einer Bewegung sprechen, denn erst jetzt werden die Menschen von ihrem Land vertrieben. Aber dazu wird es kommen. Die Wut ist groß, denn Land ist den Äthiopiern heilig.

SB: Am Ende eines Berichts im Magazin "stern" über die Hungerlage in Äthiopien und Somalia kam ein deutscher Professor zu Wort, der als Lösung für den Mangel erklärte, daß die Preise für Nahrungsmittel steigen müßten, damit es für die Bauern attraktiver werde, diese zu produzieren. Wie würde sich das auf die Einwohner auswirken, die sich - so liest man im selben Bericht - die Nahrungsmittel nicht mehr leisten können.

SH: Ich bin komplett gegen diesen Vorschlag. Die Lebensmittelpreise dürfen nicht steigen. Der Zugang zu Lebensmitteln ist ein Menschenrecht, sie müssen für jeden zugänglich sein. Das darf nicht der Spekulation unterliegen.

SB: Ein Argument für höhere Lebensmittelpreise lautete, daß dann die Bauern mehr investieren. Haben die Kleinbauern überhaupt Finanzmittel, die sie investieren könnten?

SH: Nein. In den letzten vierzehn Jahren hat die äthiopische Regierung, wie ich bereits zu Anfang erwähnt habe, über 30 Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe bekommen. Würde man die bisherigen, in Äthiopien getätigten ausländischen 'Agrarinvestitionen' zusammenzählen, käme man auf höchstens eine Milliarde Dollar. Wäre ein solcher Betrag den äthiopischen Bauern zugute gekommen, hätten sie tatsächlich mehr investiert. Doch sie erhalten gar nichts.

Eigentlich wäre es sehr leicht, ihnen langfristig angelegte Kredite einzuräumen. Das Geld dafür hat die Regierung schon erhalten. Man hätte also die Bauern vor Hunger und Armut schützen können, aber das wurde mit Absicht nicht getan. Einem UN-Bericht zufolge sind 8,4 Milliarden Dollar der nach Äthiopien geflossenen Entwicklungsgelder verschwunden. Darüber hinaus wurden Gesundheitszentren für die Nutztiere von der Regierung systematisch zerstört.

SB: Was schlagen Sie vor, wie der Hunger in Äthiopien erfolgreich bekämpft werden sollte?

SH: Man muß die Bauern in Ruhe wirtschaften lassen und sie dabei unterstützen. Wenn möglich, sollten die Ländereien von den ausländischen Investoren zurückgekauft werden. Trotz des Hungers hat die äthiopische Landwirtschaft immer einen Überschuß produziert. Der war klein, aber immerhin. Da stellt sich doch die Frage, wozu man dann noch Getreide von USAID und anderen Hilfsagenturen benötigt, wenn man gleichzeitig Nahrungsmittel exportiert.

SB: Wie beurteilen Sie die deutsche Entwicklungspolitik in Hinsicht der Zusammenarbeit mit der äthiopischen Regierung?

SH: Da wird viel schöngeredet. Es ist gut belegt, wohin die Gelder der Entwicklungshilfe fließen. Da gibt es kleinere Vorzeigeprojekte, mehr nicht. Nach der zunehmenden Kritik an der deutschen Entwicklungspolitik in Äthiopien will das BMZ mehr in Bildung investieren, die im Fall Äthiopien jedoch nur mit Parteibuch erhältlich ist. Das will das BMZ nicht einsehen. Alles in allem betrachte ich die Zusammenarbeit mit Äthiopien mit Skepsis.

SB: In der hiesigen Presse wird manchmal das Argument vorgebracht, daß in Äthiopien gar nicht die erforderliche Infrastruktur existiert, um Getreide auf dem Landweg von einer Region in die andere zu bringen, und daß es schneller gehe, Hungerhilfe auf dem Luftweg zu importieren. Können Sie das bestätigen?

SH: Nein. Wenn es darum geht, Krieg zu führen und Militärfahrzeuge von A nach B zu verlegen, funktioniert die Logistik ja auch! Aber wenn es darum geht, Hungerhilfe zu leisten, soll das nicht mehr funktionieren? Außerdem besteht ein Frühwarnsystem [Anm. d. SB-Red.: www.fews.net]. Die Informationen über die Ernteaussichten liegen dem Polizeichef, dem Militär und dem Premierminister vor. Es müßte zu keinem Hunger kommen. Wenn es Monate vorher Hinweise auf eine sich abzeichnende Hungerentwicklung gibt, warum wird dann gewartet, bis die Menschen sterben? Da gibt es ein Zusammenspiel zwischen der Regierung und der Entwicklungsindustrie, da besteht ein gemeinsames Interesse.

Dennoch ist der Hunger eine Blamage für die äthiopische Regierung, die sich mit einem elfprozentigen Wirtschaftswachstum brüstet. Von den zwölf Millionen Hungernden am Horn von Afrika sind 4,5 Millionen Äthiopier. In Somalia sind es rund 2,8 Millionen - wobei dort der Faktor Krieg hinzukommt. Dennoch richtet sich die internationale Aufmerksamkeit auf die Hungerkatastrophe in Somalia.

Der Hunger ist eine künstliche, von Menschen verursachte Katastrophe. Es ist ein Versagen der Politik und weniger des Klimas. In Äthiopien wird dreimal pro Jahr geerntet. Auf den Flughäfen kann man beobachten, wie volle Säcke mit Getreide nach Saudi-Arabien ausgeführt werden, täglich wird Gemüse für die Golfstaaten ausgeflogen.

In Äthiopien gibt es regelrecht geschlossene Gebiete, in die Helfer aus politischen Gründen nicht reingelassen werden.

SB: Sprechen Sie vom Ogaden?

SH: Genau.

SB: Sie hatten an die Bundesbürger appelliert, nicht für Äthiopien zu spenden. Wie begründen Sie das?

SH: Ich habe jahrelang gesehen, wie die Menschen bereitwillig spenden. Aber die Spenden kommen nicht an. Damit wird nur der Diktator gestärkt. Solange dieses System herrscht, können sich die Menschen nicht entfalten. Ohne Freiheit kann es keine Entwicklung geben. Die Regierung ist korrupt. So etwas hört die Entwicklungsindustrie natürlich nicht gern, aber die Spenden helfen nur ihr und dem Staat, nicht den Menschen. Wenn wir nur mal von den gesamten Spenden ausgehen, welche die Regierung in den letzten Jahren erhalten hat, dürfte eigentlich kein Hunger in Äthiopien ausbrechen. Viele Probleme hätte man längst hinter sich. Aber die Probleme bleiben und wiederholen sich Jahr für Jahr. Sie haben sich sogar verschlimmert.

SB: Aber in der Entwicklungspolitik wird doch seit Jahren immer wieder betont, es müsse gewährleistet werden, daß die Hilfe bei den Menschen ankommt. Mit dieser politischen Forderung sollte eigentlich die Vergabe der Hilfsmittel transparent gemacht werden. Wird das von der Bundesregierung im Falle Äthiopiens auch gefordert?

SH: Nein. In einer Bundestagsdrucksache ist die Antwort auf eine Anfrage von verschiedenen Abgeordneten aus Anlaß eines Berichts der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch von 2010 nachzulesen, in welchen Abständen die Vergabe von Entwicklungshilfe überprüft wird. Die letzte Prüfung fand im Jahr 2007 statt. Wir haben jetzt 2011. Das bedeutet, daß nicht geprüft wird.

SB: Einmal angenommen, sämtliche Spenden an Äthiopien blieben aus, würde das nicht die Zahl der Hungernden erhöhen?

SH: Nein. Man kann Milliarden in das Land pumpen, doch in einem repressiven System werden sie der Bevölkerung nicht zugute kommen. Es macht die Machthaber nur reicher, und die lokalen NGOs sind ausgeschaltet.

2008 wurde ein Gesetz erlassen, demzufolge jede Nichtregierungsorganisation, die mehr als zehn Prozent ihrer Einnahmen aus dem Ausland bezieht, in bestimmten Bereichen nicht aktiv werden darf. Auf diese Weise werden die einheimischen NGOs lahmgelegt, wenn sie mehr als zehn Prozent ihrer Einnahmen aus dem Ausland beziehen.

SB: Wie bekannt ist Karl Heinz Böhm in Äthiopien?

SH: Man kennt ihn und seine Organisation. Vor zwei Monaten hat man sogar ein Denkmal für ihn errichtet. An der Einweihung nahm Horst Köhler teil.

SB: Wie stehen Sie zu der Arbeit seiner Organisation 'Menschen für Menschen'?

SH: Karl Heinz Böhm hatte es mit seinem Projekt sicher gut gemeint, als er vor 30 Jahren mit der Arbeit in Äthiopien begann. Aber er und seine Frau sollten sich von der Regierung nicht politisch vereinnahmen lassen. Frau Böhm hatte unlängst auf die Frage einer Schweizer Journalistin, wie man in einem Ein-Parteien-System ohne Pressefreiheit arbeiten könne, erklärt, daß sich die Lage in Äthiopien verbessert habe. Das stimmt nicht, denken Sie an die Wahlen 2005, die Festnahmen von Journalisten, Wissenschaftlern und Regimekritikern, die Landvertreibungen und Massaker, die in Addis Abeba 2001, in Awasa 2002, in Gambela 2003 und in Ogaden 2007 angerichtet wurden - alles international dokumentierte Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Regimes von Meles Zenawi.

Auch halte ich Projekte von 'Menschen für Menschen' wie den Bau von Brunnen für einen Fehler, weil dadurch der Grundwasserspiegel sinkt. Es gibt andere nachhaltigere Möglichkeiten der Wasserversorgung. Äthiopien ist das wasserreichste Land Afrikas.

Wir prangern ebenfalls an, daß die einheimischen Hilfsorganisationen systematisch ausgehebelt wurden, die ausländischen NGOs insofern überlegen sind, weil sie einen besseren Zugang zu den Menschen vor Ort haben. Sie konnten und könnten in Bereichen wie Trinkwasserversorgung, Bildung und Aufklärungsarbeit gegen Genitalverstümmelung und Kinderehen eine Menge erreichen.

Die 'Ethiopian Women Lawyers Association' (EWLA), deren Konten eingefroren und deren Gelder konfisziert wurden, wäre eigentlich der richtige Partner für Frauen-Empowerment-Projekte gewesen, die von Deutschland finanziert werden. 2008 hatte EWLA mehr als 17.000 Frauen eine kostenlose Rechtsberatung zukommen lassen, Bildungsprogramme für 10.000 Menschen durchgeführt, Polizei und Gefängnispersonal in Rechtsfragen geschult, eine Hotline eingerichtet, 70.000 Informationsbroschüren über neue Familiengesetze in vier Regionalstaaten und über das revidierte föderale Familienrecht produziert und in Umlauf gebracht. Darüber hinaus unternahm EWLA Untersuchungen, um über die Revision des Strafrechtsverfahrens zu informieren.

Das nenne ich eine effektive Arbeit, die systematisch kaputt gemacht wurde. Stattdessen gehen die Hilfsgelder nun an die äthiopische Regierung, die ausschließlich ihre eigenen Organisationen finanziert.

Unsere Menschenrechtsorganisation setzt sich auch kritisch mit den deutschen NGOs auseinander. In ihren Länderberichten ist zu lesen, daß die Demokratie in Äthiopien voranschreitet. Diese Informationen ähneln denen, die das Auswärtige Amt herausbringt.

Ende Teil 1 des Interviews mit Seyoum Habtemariam.

20. September 2011