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JUSTIZ/709: Lockerbie - und die wahren Schuldigen ... (SB)


Lockerbie - und die wahren Schuldigen ...


Am 21. Dezember 1988 explodierte die Pan-Am-Maschine "Maid of the Seas", die auf dem Weg von London nach New York war, über dem schottischen Ort Lockerbie. Beim schwersten "Terroranschlag" in der europäischen Geschichte starben alle 243 Passagiere und die 16 Crew-Mitglieder von Pan-Am-Flug 103 sowie 11 Einwohner von Lockerbie, letztere durch massive aufschlagende Wrackteile. 2001 hat ein schottisches Sondergericht, das in den Niederlanden tagte, den libyschen Geheimdienstagenten Abdel Barsit Al Megrahi wegen Mordes in 270 Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Schon damals sprach der offizielle UN-Prozeßbeobachter, Juraprofessor Hans Köchler von der Universität Innsbrück, von einem "spektakulären Justizirrtum". Al Megrahi hat bis zu seinem Tod 2012 in Libyen, wohin er drei Jahre zuvor wegen einer schweren Krebserkrankung in den Hausarrest überstellt worden war, seine Unschuld beteuert.

Nun stellt sich das Urteil gegen Al Megrahi potentiell als schwerster Justizirrtum der britischen Rechtsgeschichte dar, nachdem am 11. März die Scottish Criminal Cases Review Commission (SCCRC) dem Antrag der Al-Megrahi-Familie auf Wiederaufnahme des Prozesses stattgegeben und den Fall zu diesem Zweck an das schottische Berufungsgericht verwiesen hat. Die Anwälte der Al-Megrahi-Familie, die von den britischen Opferfamilien unterstützt wird, haben sechs Argumente ins Feld geführt, warum der Verurteilte damals keinen fairen Prozeß erhalten haben soll. Die SCCRC hat zwei davon gelten lassen. Aus ihrer Sicht hätte der Schuldspruch von 2001 so nicht gefällt werden dürfen, weil er erstens auf einer recht dürftigen und uneindeutigen Beweislage basierte und zweitens der Verteidigung beim Prozeß im Camp Zeist auf dem Gelände eines ehemaligen US-Militärstützpunkts wichtiges Entlastungsmaterial vorenthalten worden sei.

In der ersten Phase nach dem Lockerbie-Anschlag ermittelten Polizei und Geheimdienst in Großbritannien, den USA und Deutschland hauptsächlich gegen die aus Syrien operierende palästinensische Gruppe PFLP-GC, die am Frankfurter Flughafen die in einem Koffer versteckte Bombe in den Zubringerflug nach London geschafft haben soll. Als plausibelste, weil von sehr vielen Indizien gestützte Erklärung für den Anschlag gilt bis heute die These, es habe sich um eine Vergeltungsaktion Teherans für den Abschuß der iranischen Airbusmaschine über dem Persischen Golf durch den US-Lenkwaffenzerstörer Vincennes wenige Monate zuvor gehandelt. Bei dem schrecklichen Vorfall, der sich 3. Juli 1988 ereignete, kamen alle 290 Insassen des Fluges Iran-Air-655, die meisten von ihnen Mekka-Pilger, ums Leben. Das US-Militär behauptete später, die Vincennes-Besatzung habe die Passagiermaschine mit einem angreifenden Kampfjet des Irans verwechselt. US-Vizepräsident und Ex-CIA-Chef George Bush hat sich damals im Wahlkampf kategorisch geweigert, sich im Namen seines Landes für die Tragödie zu entschuldigen.

Als jedoch die irakische Armee im August 1990 Kuwait eroberte und Bush sen. - inzwischen US-Präsident - eine große Streitmacht nach Saudi-Arabien verlegen ließ, um Bagdads Soldaten zu vertreiben, ließen London und Washington die Lockerbie-Ermittlungen gegen die PLFP-GC und die dahinterliegenden Stellen bei der Regierung in Teheran plötzlich fallen. Das war der Preis dafür, daß sich der Iran aus dem Golfkrieg heraushielt und Saddam Husseins Irak seinen westlichen Gegnern überließ. Nach dem Abhandenkommen der eigentlichen Hauptverdächtigen im Fall Lockerbie zauberten CIA, FBI und MI6 Libyens Gaddhafi, der ohnehin im Ruf, ein "Terrorpate" zu sein, stand, als Drahtzieher aus dem Hut. Man belegte Libyen mit schweren Wirtschaftssanktionen, denen zu entkommen Gaddhafi 1998 in die Auslieferung Al Megrahis an Camp Zeist einwilligte. Nach dessen Verurteilung im Januar 2001 nach einem Mammutprozeß zahlte Tripolis 270 Millionen Dollar an die Opferfamilien, ohne jedoch jemals formal die Verantwortung für den Massenmord zu übernehmen.

Nach der Verlegung in ein schottisches Gefängnis versuchte Al Megrahi weiterhin, seine Unschuld zu beweisen. Doch 2002 unterlag er im Berufungsverfahren. Hinter der Entscheidung, Al Megrahi sieben Jahre später wegen seiner Krebserkrankung nach Libyen abzuschieben, steckten nicht nur die damals von London ins Feld geführten "humanitären Gründe". Bereits 2007 hatte die eingangs erwähnte SCCRC nach einer vierjährigen Untersuchung einen 800seitigen Bericht veröffentlicht, in dem sie zahlreiche Aspekte des ursprünglichen Urteils für mangelhaft erklärte und einen neuen Prozeß empfahl. Im selben Jahr gab Ulrich Lumpert, ein ehemaliger Angestellter des Schweizer Elektronikunternehmens Mebo, in einer gegenüber den französischen Justizbehörden geleisteten, eidesstattlichen Erklärung zu, Vertretern der angloamerikanischen Geheimdienste den Zeitzünder ausgehändigt zu haben, von dem später beim Lockerbie-Prozeß im Camp Zeist die Staatsanwaltschaft ein verkohltes Überbleibsel als das angeblich in den Flugzeugtrümmern gefundene, entscheidende Beweismittel vorlegte.

Um in die Gnade der Heimkehr in den Schoß seiner Familie zu gelangen, mußte der schwerkranke Al Megrahi formal auf sein Recht auf einen neuen Prozeß, was der SCCRC-Bericht ermöglicht hätte, verzichten. Somit war für London und Washington die politisch heikle Angelegenheit vom Tisch. Im Dezember 2010 verfügte der konservative britische Außenminister William Hague, daß der Lockerbie-Bericht des SCCRC unter Verschluß bleiben und es keine neue öffentliche Untersuchung der Angelegenheit, wie von den britischen Opferfamilien gefordert, geben werde. Zur Begründung seiner umstrittenen Entscheidung behauptete Hague, die Einrichtung einer Untersuchungskommission in Sachen Lockerbie läge "nicht im öffentlichen Interesse".

Auch nach dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddhafis durch eine Militärallianz aus NATO und Al Kaida 2011 und dem Tod Al Megrahis im Jahr darauf haben dessen Frau und Kinder den Kampf um die Rehabilitierung ihres Ehemanns und Vaters niemals aufgegeben. Käme es demnächst tatsächlich zum erneuten Berufungsverfahren um den Lockerbie-Anschlag, hätten die Anwälte der Al-Megrahi-Familie die Gelegenheit, die vielen ungeklärten Umstände und Ungereimtheiten der ursprünglichen Ermittlungen sowie des Camp-Zeist-Prozesses darzulegen und Aufklärung einzufordern.

Zu den verschiedenen Themen, die bei einer neuen gerichtlichen Behandlung des Lockerbie-Komplexes eine nähere Untersuchung verdienen, gehören u. a.: Die Nutzung der Flugroute Frankfurt-New York durch die CIA für den Heroinschmuggel, was zur mangelnden Gepäckkontrolle geführt haben soll. Die umfangreiche Beeinflussung von Belastungszeugen durch die CIA vor der Aussage in Camp Zeist. Die vielen unterschlagenen Beweismittel - auch des deutschen Bundeskriminalamts (BKA) -, die für die Täterschaft von Personen aus dem Dunstkreis der PFLP-GC sprechen. Und nicht zuletzt der erstaunliche Zufall, daß durch die Explosion an Bord des Pan-Am-Flugs 103 zwei Passagiere - Matthew Gannon, Leiter der CIA-Station an der amerikanischen Botschaft in Beirut, und Major Charles McKee vom US-Militärgeheimdienst DIA - getötet wurden, bevor sie in Washington die Iran-Contra-Affäre, in der damals die Regierung Ronald Reagans steckte, um weitere pikante Details bereichern konnten.

17. März 2020


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