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LATEINAMERIKA/2287: Nadelstreifen im haitianischen Labor des Elends (SB)


Arbeitskraft so billig wie in Bangladesch


Die Erbsünde Haitis in Gestalt des Sklavenaufstands gegen die französische Kolonialmacht und der Gründung der weltweit ersten schwarzen Republik ist von den Herrenvölkern nie vergeben und über 200 Jahre lange bestraft worden. Die verheerende Niederlage in der Karibik trug maßgeblich zur Entscheidung des napoleonischen Frankreich bei, sich aus den Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent zurückzuziehen. Den Preis hatten die Haitianer zu bezahlen, die sich angesichts der Drohung, im Rachezug eines französischen Expeditionsheers niedergemacht zu werden, zu immensen Kompensationszahlungen in Gold verpflichten mußten. Wenn es in den Geschichtsbüchern heißt, die haitianische Republik sei Zeit ihrer Existenz von inneren Machtkämpfen geschwächt und zerrissen worden, als handle es sich um ein wesensmäßiges Defizit dieses Menschenschlags, so unterschlägt diese Version den verheerenden Würgegriff äußerer Mächte, der maßgeblich dazu beitrug, das Armenhaus Lateinamerikas hervorzubringen, als das man den Westteil der Insel Hispañiola heute kennt.

Haiti wird häufig als das Paradebeispiel eines gescheiterten Staats vorgeführt, der nur durch regulierende Eingriffe von außen auf den rechten Weg der Funktionsfähigkeit zurückgeführt werden kann. Zutreffender wäre indessen, von einem systematisch zerschlagenen und unter ein Besatzungsregime gestellten Staatswesen zu sprechen, dem man die Flausen eines alternativen Gesellschaftsentwurfs, wie rudimentär er auch gewesen sein mag, gründlich ausgetrieben hat. Eine Regierung wie die Jean-Bertrand Aristides, die ihren Rückhalt aus den armen Bevölkerungsschichten bezog, an denen es Haiti am allerwenigsten mangelt, erhält eine Entwicklungsoption am Leben, die das Regime weltweiter Herrschaftssicherung zu vernichten trachtet, wo immer es ihrer habhaft werden kann.

Im Kontext des von den Vereinigten Staaten inszenierten Staatsstreichs innovativer Couleur in Lateinamerika steht Haiti in einer Reihe mit Venezuela und Honduras. In allen drei Fällen fand der Putsch ohne sofort ersichtliche Intervention der US-Administration statt, die sich nationaler Handlanger bediente, um den Aufstand gegen eine angeblich despotische Führung vorzutäuschen. Stets waren es die Eliten des Landes, die sich den Erhalt der Demokratie auf die Fahnen schrieben, um mit dem Rückenwind internationaler Unterstützung auf Konfrontationskurs zu einer gewählten Regierung zu gehen. Indem Washington die Hilfsgelder für Haiti unter einem fadenscheinigen Vorwand einfror und Präsident Aristide damit die Möglichkeit aus der Hand schlug, Sozialreformen zu finanzieren, schaufelte sie ihm das politische Grab. Als dann die paramilitärischen Banden angeführt von berüchtigten Schlächtern aus den Kreisen von Exmilitärs und früheren Polizeichefs nach Haiti zurückkehrten und auf die Hauptstadt vorrückten, verweigerte die Bush-Regierung Aristide die dringend erbetene Hilfe mit der Begründung, man wolle sich in die inneren Angelegenheiten des Landes nicht einmischen. Wenn diese Worte in Washington fallen, kann man sicher sein, daß die US-Regierung gerade einen Umsturz fördert, der durch ihr direktes Eingreifen verhindert werden könnte.

Haiti ist ein Land, in dem die Menschen Erde essen, um den Hungertod hinauszuzögern. Haiti ist ein Land ohne nennenswerten Baumbestand, weil Holzkohle vielfach die letzte verbliebene Möglichkeit ist, für eine kurze Frist über die Runden zu kommen. Die Arbeitslosenquote beträgt nach offiziellen Angaben 70 Prozent, was so viel bedeutet, daß praktisch niemand reguläre Arbeit hat. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt in absoluter Armut, so daß es nur eine Minderheit der Haitianer ist, die nicht verhungert oder an durch Unterernährung begünstigten Krankheiten zugrunde geht. Strom und Wasser werden selbst in der Hauptstadt länger ab- als angestellt. Überdies suchten im letzten Jahr mehrere schwere tropische Wirbelstürme das Land heim und verursachten Schäden von rund einer Milliarde Dollar, die 15 Prozent des Bruttosozialprodukts entsprechen. Angesichts dieser unerträglichen Verhältnisse kommt es zu Unruhen wie jener im Juni dieses Jahres, als Studenten eine Anhebung des Mindestlohns forderten, der bei 1,75 Dollar pro Tag lag. [1]

Die extrem niedrigen Kosten der haitianischen Arbeitskraft sind zweifellos attraktiv für Investoren, die eine Ausbeutung auf dem Niveau von Bangladesch auch in der Karibik zu schätzen wissen. Dem stehen Probleme der Infrastruktur und die ungewisse Sicherheitslage entgegen, wobei letztere durch die Dauerpräsenz der UNO-Truppen reguliert werden könnte. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die in den nächsten beiden Jahren anstehen, kämpfen nicht weniger als 19 politische Parteien um die Macht, was nicht gerade als Ausdruck stabiler Verhältnisse interpretiert wird.

Der frühere US-Präsident William Clinton erklärte in seiner Eigenschaft als Sondergesandter der Vereinten Nationen für Haiti das Land vor wenigen Tagen kurzerhand als sicher und rief ausländische Investoren dazu auf, sich zu engagieren. Clinton selbst war es gewesen, der in seiner Amtszeit jene Wirtschaftssanktionen verhängt hatte, deren letztendliches Resultat die heutigen Zustände sind. Von einer Verwandlung vom Saulus zum Paulus kann indessen keine Rede sein, eher schon von einer Fortsetzung derselben Politik mit anderen Mitteln. Wie Clinton heute behauptet, habe er die damaligen Strafmaßnahmen nur höchst ungern verfügt, die jedoch angesichts der Menschenrechtslage unvermeidlich gewesen seien.

Auch das US-Außenministerium spielt mit, das seine Reisewarnung für Haiti bereits im Juli heruntergestuft hat und nicht mehr dazu rät, alle nicht unbedingt erforderlichen Besuche des Landes zu unterlassen. Der haitianische Tourismusminister Patrick Delatour zog daraus optimistisch den Schluß, man verlasse nun das Paradigma humanitärer Hilfe und brüderlicher Liebe und gehe zur Schaffung von Wohlstand und Geschäftstätigkeit über, was offenbar keineswegs ironisch gemeint war.

Und tatsächlich fand jüngst in Port-au-Prince, wo an Ausländern ansonsten nur Missionare, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder UNO-Soldaten in Erscheinung treten, eine zweitägige Konferenz statt, bei der Hunderte vor allem US-amerikanische Nadelstreifenträger Investitionsmöglichkeiten erörterten. Zu den Organisatoren der Zusammenkunft gehörte die Interamerikanische Entwicklungsbank, deren Vertreter unterstrichen, wie wichtig es sei, die Reputation des Landes Schritt für Schritt zu verbessern. So gesehen könnte man es als Fortschritt bezeichnen, daß sich die Repräsentanten diverser namhafter Unternehmen überhaupt nach Haiti wagten. Interessiert zeigten sich nicht zuletzt große Bekleidungshersteller, die von den günstigen US-Sonderkonditionen für den Import diesbezüglicher Erzeugnisse aus haitianischer Produktion profitieren könnten. Zugegen waren auch Vertreter von Banken, die Gespräche über Kreditvergaben und Finanzierungsmöglichkeiten anboten.

Haitis Premierministerin Michèle Duvivier Pierre-Louis verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, daß die Konferenz zu konkreten Vorschlägen führen werde, die noch vor Ablauf des Jahres Wirkung zeigen. Wer bei dieser Tagung mit unterschriftsreifen Vereinbarungen gerechnet hatte, sah sich jedoch getäuscht, denn soweit bekannt, wurde nicht ein einziges Geschäft abgeschlossen. Auf den ersten Blick könnte man es sogar für absurd halten, daß Sanktionen der USA und ihrer Verbündeten die Wirtschaft Haitis in den neunziger Jahren weitgehend zerstörten, worauf heute dieselben Staaten ökonomische Impulse setzen wollen und Investitionen erörtern, um das Land wieder aufzubauen.

Faßt man das ressourcenarme, geopolitisch bedeutungslose und militärisch wehrlose Haiti jedoch als Labor eines Realexperiments zur gewaltsamen Umwandlung einer Gesellschaft auf, die zuerst zermahlen und dann neu geformt wird, erschließt sich die Logik dieser Transformation. Das Land ist heute noch ärmer und seine Arbeitskraft noch ausbeutbarer als zuvor. Frei nach dem Kalkül, daß jeder Hungerlohn besser als der Tod sei, stellt man ein Überleben zu den Konditionen einer an ihre systemischen Grenzen stoßenden kapitalistischen Verwertung in Aussicht. Zugleich verwaltet man das Land mit Hilfe der Besatzungstruppen als Elendslager, in der Strategien zur Ausgrenzung für unverwertbar erachteter Menschenmassen praktiziert werden. Und nicht zuletzt erfüllt sich der Zweck des Manövers in der Zerschlagung von Strukturen potentiellen Widerstands gegen die Zugriffsgewalt nationaler Eliten und insbesondere überstaatlicher Verfügung, wie er sich in der Verbindung zwischen einem Präsidenten wie Jean-Bertrand Aristide und den mit ihm sympathisierenden Unterklassen manifestiert hatte.

Anmerkungen:

[1] Still Fragile, Haiti Makes Sales Pitch (05.10.09)
New York Times

6. Oktober 2009