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LATEINAMERIKA/2326: Prozeßbeginn gegen argentinischen "Todesengel" Astiz (SB)


Großverfahren gegen führende Folterknechte der Diktatur


In Argentinien soll heute der Prozeß gegen den als "Todesengel" berüchtigten ehemaligen Offizier Alfredo Astiz sowie 18 weitere ehemalige Marineangehörige beginnen. Der 58jährige muß sich wegen der Verschleppung und Ermordung zweier französischer Nonnen und Dutzender Oppositioneller zur Zeit der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 verantworten. Astiz trieb damals in der Marineingenieursschule ESMA in Buenos Aires sein Unwesen, dem wichtigsten Folterzentrum der Junta. Ein argentinisches Gericht hatte ihn bereits nach dem Ende der Militärherrschaft für schuldig befunden. Ende der achtziger Jahre profitierte er jedoch von einem Amnestiegesetz, das der Oberste Gerichtshof inzwischen für nichtig erklärt hat.

Nach dem Putsch im März 1976 begann die argentinische Militärjunta um Oberbefehlshaber Jorge Videla, ihre tatsächlichen oder mutmaßlichen Gegner systematisch auszuschalten. Wer auch nur im entferntesten im Verdacht stand, links zu sein, war in akuter Gefahr. "Erst werden wir die Subversiven töten, dann ihre Kollaborateure, dann ihre Sympathisanten, danach die Gleichgültigen und zum Schluß die Ängstlichen", drohte der Gouverneur der Provinz Buenos Aires 1977 in einer Rede. [1]

Die "Escuela Mecánica de la Armada", ein Schulungszentrum der Marine auf einem Gelände am Stadtrand, beherbergte im Erdgeschoß die Speisesäle der Offiziere, im ersten und zweiten Stock die Schlafräume der Lehrer, während im Keller und unter dem Dach gefoltert und getötet wurde. Von einigen der berüchtigtsten Schergen der Diktatur wie Alfredo Astiz oder Jorge Acosta, genannt "der Tiger", wurden dort mehr als 5.000 Menschen über Monate, manche sogar jahrelang, gefangengehalten und gequält. Im ganzen Land gab es Hunderte solcher Folterstätten. Wer für den Geheimdienst keinen Wert mehr hatte, wurde erschossen oder betäubt und aus einem Flugzeug ins Meer geworfen. In der ESMA überlebten nur fünf Prozent der Gefangenen.

Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen prangerten auch in Deutschland die Greueltaten der argentinischen Junta an. Sie warfen der Regierung Helmut Schmidts vor, zu wenig für die deutschen Gefangenen zu tun: Nach dem Putsch Pinochets 1973 in Chile hatte man Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski nach Santiago geschickt, um deutsche Gefangene freizubekommen, was diesem auch gelang. In Buenos Aires gehörte der Kontaktmann für die deutschen Familien in der Botschaft jedoch dem argentinischen Geheimdienst an, so daß die Bemühungen der Angehörigen im Sande verliefen.

Einige Täter wurden später in Einzelprozessen verurteilt, manche von ihnen im Ausland. In Deutschland gründete sich Ende der neunziger Jahre die "Koalition gegen die Straflosigkeit" aus kirchlichen Gruppen und Menschenrechtsorganisationen mit dem Ziel, gemeinsam mit den deutschen Familien die Mörder vor Gericht zu bringen. Die "Koalition" erhob schwere Vorwürfe gegen die Regierung Schmidt: Ihr seien Wirtschaftsinteressen wichtiger gewesen als Menschenrechte. Deutschlands Rüstungsindustrie gehörte zu den größten Lieferanten der Militärdiktatur. Aufträge, die nicht gefährdet werden sollten, wie der damalige Botschafter Jörg Kastl an das Auswärtige Amt schrieb.

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth erwirkte 2003 in zwei Fällen Haftbefehle gegen Jorge Videla, Emilio Massera und einen General des ersten Heereskorps. Sie mußte jedoch die Ermittlungen in den Fällen der deutschen Staatsbürger Adriana Marcus und Rolf Stawowiok 2004 einstellen, da die Tatbestände verjährt waren. Wenngleich außer Frage stand, daß sie ermordet worden waren, gab es keinen Beweis, da die Leichen verschwunden blieben.

Bis zu 30.000 Menschen wurden in den Jahren der Militärdiktatur entführt und ermordet. Die argentinische Regierung setzte 2003 die Amnestie außer Kraft, so daß es möglich wurde, die Täter und politisch Verantwortlichen auch im Lande selbst zur Verantwortung zu ziehen. Das Strafgericht in Buenos Aires hat zwei Großverfahren gegen Angehörige des ersten Heereskorps, das für eine ganze Reihe geheimer Haftzentren in der Hauptstadt verantwortlich war, und gegen die Schergen der ESMA, des größten Folterzentrums des Landes, das der Marine unterstand, eröffnet.

Alfredo Astiz kam nach Angaben der Staatsanwaltschaft eine Schlüsselrolle bei der Verfolgung linksgerichteter Dissidenten und mutmaßlicher Sympathisanten zu. Kurz nach dem Militärputsch gab sich der Kapitänleutnant als Bruder eines verschwundenen Dissidenten aus, um die Mütter der Plaza de Mayo auszuspionieren, die Aufklärung über das Schicksal ihrer von der Militärjunta verschleppten Kinder forderten. Im Dezember 1977 führte Astiz Soldaten zu zehn Mitgliedern der Gruppe, die daraufhin entführt wurden. Unter den Opfern befanden sich die beiden französischen Nonnen Alice Domon und Leonie Duquet, der Journalist Rodolfo Walsh sowie mehrere Gründerinnen der Mütter der Plaza de Mayo. Zeugen bestätigten, daß Duquet zunächst in einer Marineschule inhaftiert war. Ihre Leiche wurde von einem Flugzeug über dem Atlantik abgeworfen und ans Ufer gespült. Dort setzte man sie in einem namenlosen Grab bei. Später gelang es Gerichtsmedizinern jedoch, die sterblichen Überreste der Nonne und einer weiteren Begründerin der Mütter der Plaza de Mayo, Azucena Villaflor de Vincenti, zu identifizieren. [2]

Nach dem Ende der Militärherrschaft befand ein argentinisches Gericht Astiz für schuldig, Morde, Folter und Entführungen begangen zu haben. Ende der achtziger Jahre wurden jedoch unter dem peronistischen Präsidenten Carlos Menem Amnestiegesetze erlassen, von denen auch Astiz profitierte. In Frankreich wurde er 1990 in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, und ein italienisches Gericht sprach 2007 ebenfalls eine lebenslange Gefängnisstrafe gegen ihn aus. Mit seiner Entscheidung, die Amnestie für nichtig zu erklären, schuf der Oberste Gerichtshof Argentiniens die Voraussetzungen dafür, daß nun 358 Beschuldigten der Prozeß wegen Verbrechen während der Juntazeit gemacht werden kann. Das Verfahren gegen Astiz mußte wegen Krankheit des Angeklagten bereits zweimal verschoben werden, und auch jetzt wurde er kurz vor Prozeßbeginn in eine Klinik gebracht.

Astiz gab an, er wisse nichts von den Todesflügen über dem Atlantik. Sein Anwalt erklärte, Astiz habe als Angehöriger der Marine lediglich Befehle ausgeführt, um die Nation vor extremistischer Gewalt zu schützen. [3] Da die gerichtlich bereits für bewiesen erachteten sowie mutmaßlichen weiteren Taten des "Todesengels" in den zurückliegenden Jahren ausführlich dokumentiert und publiziert worden sind, herrscht die Auffassung vor, daß es in diesem Verfahren zu einem Schuldspruch kommen wird. "Wir hoffen, daß sie lebenslang bekommen", so der Menschenrechtsbeauftragte der argentinischen Regierung.

Ungewiß bleibt hingegen, in welchem Ausmaß es im Zusammenhang des Verfahrens und dessen Diskussion in der Öffentlichkeit gelingt, die Greuel der Militärjunta in den Kontext einer internationalen Kollaboration mit dem Regime zu stellen. Weithin bekannt und vielfach erörtert ist die grenzüberschreitende Kumpanei der südamerikanischen Diktaturen insbesondere in Gestalt der berüchtigten "Operation Condor", bei der Jagd auf Oppositionelle gemacht wurde, die in anderen Ländern Schutz vor der Verfolgung in ihrer Heimat gesucht hatten. Ausführlich beleuchtet wurde auch die unmittelbare Beteiligung der CIA an dieser und anderen Operationen.

Wie schwierig es dennoch ist, den damaligen Schulterschluß Washingtons wie auch europäischer Regierungen und Unternehmen aufzuklären und in Gerichtsverfahren zu überführen, belegen zahlreiche mehr oder minder gescheiterte Versuche, beispielsweise die Entführung und Ermordung von Betriebsräten und Gewerkschaftern im Auftrag regionaler Niederlassungen von Konzernen mit Stammsitz in Europa oder den USA vor Gericht zu bringen. Zudem stellen sich grundsätzliche Fragen, die weit über die juristische Befassung mit bestimmten Einzelfällen oder Komplexen hinausgehen. Die Standarderklärung späterer US-Regierungen, man habe damals den Fehler begangen, die Diktatoren nicht energisch genug abzumahnen und im Zaum zu halten, spricht der tatsächlichen Beteiligung an Staatsstreichen, Folterpraktiken und Repressalien gegen unerwünschte politische Kräfte Hohn. Nicht Einsicht oder Reue sind in dieser Form der Vergangenheitsbewältigung am Werk, sondern vielmehr das Interesse, nicht nur die gezielte Herbeiführung und Förderung der damaligen Diktaturen zu verschleiern, sondern zugleich eine Plattform für künftige Interventionen zu schaffen.

So verständlich und naheliegend der Wunsch anmuten mag, überstaatliche Instanzen und Gerichtsbarkeiten zu schaffen, die Menschenschindern frühzeitig in den Arm fallen oder sie für ihre Taten juristisch zur Verantwortung ziehen, sollte doch die Erwägung augenblicklich ernüchtern, welche Mächte über die Mittel verfügen, dies weltweit zu garantieren und durchzusetzen. Tribunale, so lehrt die jüngere Vergangenheit, hält man ausschließlich über Feinde ab. Daß allen voran die Vereinigten Staaten internationale Gremien oder Gerichtshöfe nur insoweit instrumentalisieren, als sie ihrem Interesse dienen, ihnen andernfalls jedoch jede Zuständigkeit absprechen, legt beredtes Zeugnis davon ab, in welche Falle der Ruf nach Weltpolizei und Weltgericht führt.

Anmerkungen:

[1] verschleppt, verschwunden, vergessen (14.11.09)
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Sonntag-Sonntag;art2566,2949100

[2] Der "blonde Todesengel" muss vor Gericht (11.12.09)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,666512,00.html

[3] Blonder "Todesengel" vor Gericht (11.12.09)
http://tagesschau.sf.tv/nachrichten/archiv/2009/12/11/international/blonder_todesengel_vor_gericht

11. Dezember 2009