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LATEINAMERIKA/2347: Feldversuch innovativer Verfügungsgewalt in Haiti (SB)


Überleben als Gnadenakt in einem System der Zuteilung


Als Feldversuch innovativer Verfügungsgewalt repräsentiert das von der verheerenden Naturkatastrophe und einem nicht minder grausamen menschengemachten Desaster heimgesuchte Haiti in zugespitzter Form die Zukunft der Menschheit oder zumindest jenes Schicksal, das die Machteliten in ihrem strategischen Entwurf der Herrschaftssicherung der überwältigenden Mehrheit ihrer Artgenossen zugedacht haben. Wenngleich die Systemkrise kapitalistischer Verwertung vom letztendlichen Zusammenbruch dieser spezifischen Ära der Ausbeutung kündet, lauert dahinter längst eine noch engere Form raubgestützter Einschnürung: Auf das Ende der Lohnarbeit folgt ein System der Zuteilung, das sich nicht länger an fremdbestimmter Leistung, sondern an bedingungsloser Anpassung und Unterwerfung bemißt, womit die Sicherung befristeten Überlebens vollends in einen Gnadenakt verwandelt wird.

War Haiti schon vor den Erdbeben das Armenhaus der westlichen Hemisphäre, so sind seine Bewohner nun größtenteils endgültig aller Mittel beraubt, ihr Dasein zu fristen. Die imposante Pose der sogenannten internationalen Gemeinschaft, das Katastrophengebiet in den Blickpunkt flüchtiger Aufmerksamkeit zu nehmen und sich spendabel zu geben, konfrontiert das grenzenlose Elend mit dem Potential möglicher Hilfe, die demonstrativ vorgehalten, aber keineswegs rückhaltlos und ausreichend gewährt wird. Auf Rettung, so lautet die Botschaft, hat niemand per se einen durch gemeinsame Werte wie Humanität und Nächstenliebe gegründeten Anspruch, der den Eigentümer von Mitteln des Überlebens auch nur in gewissem Umfang zur Unterstützung verpflichten könnte.

Das massive Aufgebot US-amerikanischer Streitkräfte in Port-au-Prince und vor der Küste zeugt von der überlegenen Waffengewalt, die erforderlich ist, um dieses Gewaltverhältnis durchzusetzen und dauerhaft zu etablieren. Die militärische Bewachung gefüllter Speicher und die auf die Verdurstenden und Verhungernden gerichteten Mündungen sind weder ein bloßer Exzeß der US-Amerikaner, noch allein deren Arroganz geschuldet, sondern vielmehr das Fundament der neuen Weltordnung, wie sie derzeit in Haiti vorexerziert wird. Vorenthaltene Hilfsgüter und Hilfsleistungen sind nicht etwa ein Fehler im System, sondern dessen zentrales Bestimmungsmerkmal, da die Schaffung von Unwert oder anders ausgedrückt Not und Elend vervollkommnet und unumkehrbar verankert werden soll.

Die harsche Kritik zahlreicher Hilfsorganisationen an der Dominanz der US-Streitkräfte beim Katastropheneinsatz in Haiti nennt das Erscheinungsbild ungeschminkt beim Namen, ohne das System zu identifizieren, das diesem Phänomen zugrunde liegt. Solange man von Fehleinschätzungen und Unvermögen ausgeht, unterstellt man ein gemeinsames Interesse, nicht nur alle überlebenden Haitianer augenblicklich zu retten, sondern ihnen fortan ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Das ist nicht der Fall. Im administrativen Kalkül streiten sich die diversen beteiligten Kräfte in erster Linie darum, wie die notleidenden Menschen am besten zu verwalten und deren Protest und Aufbegehren zu verhindern seien.

Hier wie überall auf der Welt könnten die Verhungernden die wohlhabende Minderheit überrennen, hielte sie nicht die systematisch geschürte Hoffnung auf Hilfe und die eigene Beteiligung an diesem Universum der Abhängigkeit und Botmäßigkeit zurück. Die Zuteilung von Hilfsgütern, die niemals für alle reichen, ist sowohl Ausdruck unzureichender Mittel, die Menschheit zu ernähren, als auch einer gezielt eingesetzten Verknappung, die der Regulation des Elends dient.

Unterdessen häufen sich in Haiti Zwischenfälle, bei denen UNO-Soldaten oder Polizisten das Feuer auf Menschenmengen eröffnen oder mit Schlagstöcken gegen die Hungernden vorgehen. Uruguayische Soldaten, die der seit 2004 im Land stationierten Mission der Blauhelme angehören, feuerten Gummigeschosse auf die Menge ab, die sich um Lastwagen mit Lebensmitteln drängten. Nur einen Tag später waren es brasilianische Blauhelmsoldaten, die in einem Zeltlager auf dem Gelände des verwüsteten Präsidentenpalasts Pfefferspray und Tränengas einsetzten. Als sich die zunächst geflüchtete Menschenmenge wieder zusammenschloß und erneut näherrückte, wurden zwei Panzer drohend in Stellung gebracht.

Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es einem Bericht des Wall Street Journal zufolge in der Küstenstadt Jacmel, wo ein zunächst friedlich verlaufender Protestzug von Überlebenden, die nicht genug Zelte hatten, aus den Fugen geriet. In Cite Soleil, dem größten und ärmsten Stadtteil von Port-au-Prince, trieben haitianische Polizisten bei einer Lebensmittelverteilung die Hungernden zurück, als sich abzeichnete, daß bei weitem nicht genug für alle da war. "Sie behandeln uns wie Tiere, sie prügeln uns, und dabei sind wir doch hungernde Menschen", sagte ein Haitianer bei einem dieser Vorfälle einem US-amerikanischen Reporter. [1]

Das Wall Street Journal veröffentlichte auch den Bericht dreier New Yorker Ärzte, die nach ihrem Einsatz in Haiti den Vorwurf erhoben, daß zahlreiche Todesfälle unter den Überlebenden des Erdbebens zu verhindern gewesen wären, hätte nicht der Vorrang der US-Militärs den Einsatz der Hilfskräfte massiv behindert. Bei der Ankunft in einem Krankenhaus habe man zahllose dehydrierte und verletzte Menschen angetroffen, die mitunter seit Tagen ohne Wasser, ärztliche Versorgung und Schmerzmittel ausgeharrt hatten. Als dann die mitgebrachten Hilfsmittel ausgingen, habe es keinerlei Nachschub gegeben. Bei ihrer Rückreise sahen die drei Ärzte auf dem Flughafen riesige Vorräte ungenutzter Lebensmittel, Medikamente und anderer dringend benötigter Güter, die von Hunderten Soldaten bewacht wurden. Dies sei beschämend für die Reaktion der Vereinigten Staaten und stelle Obama in eine Reihe mit George W. Bush bei dessen Umgang mit "Katrina".

"Schickt Ärzte und nicht Soldaten", forderte Fidel Castro in der Zeitung Granma. Wie er in seinem Kommentar zur Lage in Haiti schrieb, blockiere die vorrangige Stationierung US-amerikanischer Militärs die Anreise und Arbeit von Ärzten und den Nachschub an medizinischem Gerät und Medikamenten. Venezuela, Bolivien und Nicaragua haben die Geberkonferenz in Montreal als Zeichen des Protests gegen die Besetzung Haitis durch die USA boykottiert. Wie Hugo Chávez erklärte, nutze die US-Regierung eine humanitäre Katastrophe, um das Land militärisch zu übernehmen.

Ein Vertreter der französischen Regierung, Alain Joyandet, warnte in einem Rundfunkinterview am 19. Januar, es gehe darum, Haiti zu helfen, nicht aber das Land zu besetzen. Der renommierte italienische Katastropenschutzminister Guido Bertolaso geißelte die pathetische Intervention Washingtons, die nicht das geringste mit der Realität im Katastrophengebiet zu habe. Zugleich übte er Kritik an Hilfsorganisationen und Einzelpersonen, die vor laufenden Kameras posierten, statt sich um die Verschütteten zu sorgen, wobei er offensichtlich auch den UNO-Sondergesandten Bill Clinton ins Visier nahm.

Der ehemalige US-Präsident schwadronierte nach seinem demonstrativen Kurzauftritt in Port-au-Prince auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, man müsse die Erdbebenkatastrophe in Haiti als Chance für das Land verstehen. Nun gelte es, dem zerstörten Karibikstaat umfassende Wiederaufbauhilfen zukommen zu lassen, um dessen wirtschaftliche Zukunft zu fördern. Die Wirtschaft des Karibikstaates könnte gestärkt aus der Katastrophe hervorgehen: "Dies ist eine Chance, die Zukunft des haitianischen Volkes so umzugestalten, wie die Menschen es wollen", sagte Clinton vor Vertretern aus Wirtschaft und Politik, womit er den Eindruck zu erwecken versuchte, es gehe um ein menschenwürdiges Leben der Haitianer und nicht etwa deren Restverwertung als Arbeitskräfte auf niedrigstem Lohnniveau in Konkurrenz zu China. [2]

Clinton appellierte in Davos an die versammelten Unternehmer, sich am Wiederaufbau Haitis zu beteiligen. Die vorhandenen fünfzehn Verteilungszentren für Wasser und Lebensmittel reichten nicht aus, man brauche hundert davon. Dazu seien viele kleine Lastwagen notwendig, mit denen ein Verteilernetz aufgebaut werde müsse. Wer im Saal wisse, wie man so etwas bewerkstelligen könne, solle sich melden, rief er den Anwesenden zu, als existierten nicht diverse Hilfsorganisationen, die sich seit Jahren mit Fragen der Logistik befassen. [3]

Noch ist völlig ungeklärt, in welchem Umfang die internationale Staatengemeinschaft Haiti Mittel für den Wiederaufbau zur Verfügung stellen will. Die dafür erforderlichen Gelder werden derzeit auf bis zu 15 Milliarden Dollar geschätzt. Inzwischen bewertet das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen die Situation rund zwei Wochen nach dem verheerenden Erdbeben weiterhin als kritisch und mahnt an, daß angesichts der schwierigen Verhältnisse die Nothilfe deutlich länger geleistet werden müsse, als bislang angenommen. Um die rund zwei Millionen Bedürftigen versorgen zu können, seien etwa 800 Millionen US-Dollar erforderlich. [4]

Nach Angaben der UNO sind 75 Prozent der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince zerstört und 170.000 Leichen geborgen worden. Wie die UNO-Organisation für die Koordinierung von Humanitären Angelegenheiten in Genf mitgeteilt hat, wurden von den insgesamt 2,02 Milliarden Dollar an Hilfszusagen bisher 1,19 Milliarden von Geberländern, dem Privatsektor und Hilfsorganisationen bereitgestellt. Die restlichen 830 Millionen Dollar seien lediglich versprochen. [5]

Zwischen den 15 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau, die sich aller Voraussicht nach als zu niedrige Schätzung erweisen werden, und der knapp über einer Milliarde Dollar, die bislang bereitgestellt sein sollen, klafft eine gewaltige Lücke. Dieses Mißverhältnis zeigt, daß trotz des gewaltigen Wirbels, mit dem die vielzitierte "Welle der Hilfsbereitschaft" inszeniert wird, der Eindruck, den Haitianern könne und solle umfassend geholfen werden, ein fundamentaler Trugschluß wäre.

Anmerkungen:

[1] Troops fire on starving crowds in Haiti (28.01.10)
World Socialist Web Site

[2] Bill Clinton. Erdbebenkatastrophe in Haiti als Chance verstehen (28.01.10)
http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/bill-clinton- erdbebenkatastrophe-in-haiti-als-chance-verstehen_aid_475085.html

[3] Haiti: Clinton ruft in Davos zu Hilfe für Erdbebenopfer auf (28.01.10)
http://diepres.com/home/panorama/welt/536089/index.do?direct=536085&_vl_backlink=/home/panorama/welt/index.do&selChannel=

[4] Hilfswerke rufen zu weiterer Hilfe für Haiti auf (28.01.10)
http://www.dw-world.de/dw/function/0,,12356_cid_5178734,00.html

[5] Hilfe nach Erdbeben. Mehr als zwei Milliarden Dollar für Haiti zugesagt (28.01.10)
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,674693,00.html

29. Januar 2010