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LATEINAMERIKA/2374: Kolumbianische Guerilla läßt erneut Gefangene frei (SB)


Letzte Freilassung von Geiseln ohne Gegenleistung des Staates


Die marxistische Guerillaorganisation "Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens" (FARC) hat wie schon in früheren Fällen ihre Zusage eingehalten und ohne Gegenleistung des Staates einen ihrer Gefangenen freigelassen. An einem geheimgehaltenen Ort im Süden des Landes wurde der vor elf Monaten entführte 22 Jahre alte Soldat Josué Daniel Calvo Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) übergeben und mit einem von Brasilien gestellten Hubschrauber in die Stadt Villavicencio im Zentrum des Landes geflogen, die als Operationsbasis für die von der brasilianischen Regierung unterstützte Übergabeaktion dient. An Bord der Maschine befanden sich auch die oppositionelle Senatorin und Vermittlerin Piedad Córdoba sowie der katholische Bischof Leonardo Gómez. Josué Calvo, der wegen einer Beinverletzung leicht humpelte, doch ansonsten wohlauf war, wurde in Villavicencio von seiner Familie empfangen. Sein Gesundheitszustand war offenbar deutlich besser, als man befürchtet hatte, nachdem die Rebellen vor der Freilassung gewarnt hatten, der junge Soldat sei "ernstlich krank". [1]

Wie das IKRK bestätigte, wollen die Rebellen umgehend auch den vor mehr als zwölf Jahren gefangengenommenen Unteroffizier Pablo Emilio Moncayo freilassen. Dessen Vater Gustavo wurde als "Wanderer für den Frieden" weit über Kolumbien hinaus bekannt, da er Tausende Kilometer zu Fuß zurücklegte, um für die Freilassung seines Sohnes zu demonstrieren, und von Politikern in Lateinamerika, Europa wie auch dem Papst empfangen wurde. Er hatte dem konservativen Präsidenten Álvaro Uribe wiederholt vorgeworfen, ausschließlich auf eine militärische Lösung zu setzen, einen Austausch der Geiseln gegen inhaftierte Rebellen seit Jahren zu torpedieren und das Leben seines Sohnes in Gefahr gebracht zu haben. [2]

Medienberichten zufolge stand der Staatschef auch dieses Mal wieder kurz davor, die für die Freilassung nötigen Garantien zu verweigern, weil die FARC ihre Angriffe auf den Staat in den vergangenen Wochen intensiviert hatte. Die liberale Senatorin Córdoba hob hervor, daß die Rebellen zum letzten Mal Gefangene ohne Gegenleistung der Regierung freilassen. Die FARC hat unter anderem noch 22 Soldaten und Polizisten in ihrer Gewalt, die sie gegen etwa 500 inhaftierte Rebellen austauschen will. Uribe lehnt das jedoch nach wie vor entschieden ab und treibt statt dessen die militärische Befreiung von Geiseln voran, womit er deren Leben aufs Spiel setzt. Einzig das bevorstehende Ende seiner Amtszeit eröffnet gewisse Hoffnungen auf Bewegung unter seinem Nachfolger.

Die Freilassung des inzwischen 31 Jahre alten Pablo Emilio Moncayo, der sich länger als alle anderen Gefangenen in der Hand der Rebellen befindet, war von der FARC bereits im April 2009 in einem Kommuniqué angekündigt worden, die dafür keine Gegenleistung des kolumbianischen Staates verlangte. Zur Bedingung wurde lediglich gemacht, daß Senatorin Piedad Córdoba bei der Übergabe des Gefangenen anwesend sein müsse und die Regierung die notwendigen Garantien für eine ungefährdete Freilassung gebe. Uribe lehnte jedoch lange eine Beteiligung Córdobas ebenso ab wie Sicherheitsgarantien in Gestalt einer Feuerpause und eines von den Streitkräften freigehaltenen Korridors für den sicheren An- und Abmarsch der Rebellen. Daß Moncayo ein weiteres Jahr in Gefangenschaft verbringen mußte, ist daher der kolumbianischen Regierung anzulasten, welche die Unversehrtheit der Geiseln dem Ziel einer militärischen Vernichtung der Guerilla eindeutig nachordnet.

Die Rebellen haben schon vor Jahren vorgeschlagen, bis zu 50 ihrer damals vermutlich 750 Gefangenen im Austausch gegen 500 in kolumbianischen Gefängnissen inhaftierte Guerilleros freizulassen. Unter den Geiseln war es stets nur eine kleine Gruppe von etwa 45 Personen mit relativ hohem Bekanntheitsgrad, über deren Schicksal die Medien berichteten. Wenngleich sich die Guerilla grundsätzlich bereiterklärte, diese begrenzte Zahl von Geiseln im Zuge eines Austausches freizugeben, lehnte dies die Regierung in Bogotá ab.

Die von Uribe herbeigeführte Blockade aller diesbezüglichen Verhandlungen wurde erst aufgebrochen, als der venezolanische Präsident Hugo Chávez als Vermittler gewonnen werden konnte. Nach langen Kontroversen und zahlreichen Störmanövern der kolumbianischen Führung kam es am 10. Januar 2008 zur Übergabe zweier Geiseln ohne Gegenleistungen. Unter Mitwirkung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, des venezolanischen Innenministers und des kubanischen Botschafters in Caracas wurden Clara Rojas und Consuelo González im Südosten Kolumbiens mit venezolanischen Hubschraubern ausgeflogen und nach Caracas in Sicherheit gebracht, wo Angehörige sie empfingen.

Mit der einseitigen Freilassung der 57jährigen Consuelo González, der 44 Jahre alten Clara Rojas und deren drei oder vier Jahre alten Sohnes Emmanuel, dessen Vater ein Guerillero ist, unterstrichen die Rebellen damals ihre lange von der kolumbianischen Regierung ignorierte Bereitschaft zu ernsthaften Friedensgesprächen, sofern diese nicht im Zeichen eines ultimativen Diktats der Administration Uribes stehen. Bei der erfolgreichen Operation handelte es sich um die bedeutendste Freilassung von Gefangenen seit 2001. Seinerzeit hatte die FARC rund 300 Soldaten und Polizisten auf freien Fuß gesetzt.

Am 28. Februar 2008 erfolgte wiederum unter Vermittlung des venezolanischen Staatschefs die Freilassung von vier weiteren gefangenen Politikern. Es handelte sich um drei Männer und eine Frau, die früher dem Kongreß angehört und sich seit mehr als sechs Jahren in der Gewalt der Rebellen befunden hatten. Gloria Polanco de Losada, Orlando Beltrán, Luis Eladio Pérez und Jorge Eduardo Gechem, die 2001 gefangengenommen worden waren und deren Gesundheit nach den Jahren in Dschungellagern gelitten hatte, wurden auf freien Fuß gesetzt. Die Rebellen übergaben sie an einem Ort im Süden Kolumbiens, worauf man die Freigelassenen in die venezolanische Hauptstadt Caracas flog, wo Präsident Chávez sie wie Staatsgäste empfing und mit ihren Angehörigen zusammenführte.

Die FARC erkannte den venezolanischen Präsidenten damals als vertrauenswürdigen Vermittler an und arbeitete mit ihm bei der Freilassung der ersten Geiseln auf eine Weise zusammen, die der Regierung in Bogotá, die ins Hintertreffen zu geraten drohte, zweifellos ein Dorn im Auge war. Die Administration Präsident Uribes unternahm daraufhin in Kumpanei mit der Regierung in Washington enorme Anstrengungen, um die Initiative wiederzugewinnen und die ursprüngliche Strategie durchzusetzen, die auf Vernichtung der Guerilla, nicht aber Friedensverhandlungen hinausläuft, bei denen womöglich Kompromisse geschlossen werden müßten.

Wäre es Hugo Chávez und seinem Amtskollegen in Ecuador, Rafael Correa, damals gelungen, weitere Geiseln und insbesondere die prominenteste Gefangene, Ingrid Betancourt, freizubekommen, hätte dies möglicherweise einen Dammbruch in der internationalen Haltung gegenüber der Führung in Caracas und ihren Verbündeten wie auch mit Blick auf die FARC herbeiführen können. Während erste Schritte eines Friedensprozesses in greifbare Nähe gerückt wären, hätte sich in aller Deutlichkeit abgezeichnet, daß es die kolumbianische Führung unter Präsident Uribe und die US-Regierung waren, die jede Annäherung verhinderten und die Vernichtung der Insurgenten als ausschließliche Option vorhielten.

Folglich mußten die Machthaber in Washington und Bogotá eine Scharade entwerfen und umsetzen, welche die Freilassung weiterer Geiseln verhinderte, die FARC diffamierte und nicht zuletzt Hugo Chávez so nachhaltig diskreditierte, daß die Anerkennung zunichte gemacht wurde, die er mit seiner erfolgreichen Vermittlung gewonnen hatte. Anfang März griffen kolumbianische und mutmaßlich auch US-amerikanische Streitkräfte ein Lager der FARC in Ecuador an und liquidierten unter anderem Raúl Reyes, den Sprecher und Verhandlungsführer der Guerilla, der als designierter Nachfolger des legendären Gründers und Anführers Manuel Marulanda galt. Dieser erlag wenige Wochen später einem Herzinfarkt, worauf die ranghöchste Position auf den damals 58 Jahre alten Alonso Cano überging, der mit bürgerlichem Namen Guillermo León Sáenz Vargas heißt.

Mit diesem Militärschlag im Nachbarland, der Auseinandersetzungen bis hin zu einem Regionalkrieg zu provozieren drohte, sabotierte Bogotá die geplante Freilassung weiterer Geiseln, darunter offenbar auch Ingrid Betancourt. Die französisch-kolumbianische ehemalige Präsidentschaftskandidatin war die bei weitem bekannteste Gefangene der FARC, deren Befreiung Uribe keinesfalls den Präsidenten Venezuelas und Ecuadors überlassen wollte. Er war eher bereit, selbst die prominentesten Geiseln im Urwald sterben zu lassen, als seinen außenpolitischen Intimfeinden den Erfolg ihrer Befreiung auf dem Verhandlungsweg zu gönnen. Man konnte sich daher ausmalen, wie wenig ihn der namenlose Rest der Gefangenen interessierte, wenn er zum Sturmangriff auf die Rebellen blasen läßt.

Der Angriff auf das Lager der FARC in Ecuador beendete schlagartig die Option eines Gefangenenaustausches und der Vorbereitung von Friedensgesprächen, die damals in der Luft zu liegen schienen. Er sabotierte die Vermittlung durch Hugo Chávez, bezichtigte die Guerilla mit neuer Wucht als "internationale Terrororganisation" und rief nach Sanktionen gegen Venezuela. Am 2. Juli 2008 folgte die spektakuläre Befreiung Ingrid Betancourts, dreier Mitarbeiter eines privaten US-amerikanischen Militärdienstleisters und weiterer namhafter Geiseln durch eine unblutig verlaufene Operation der kolumbianischen Streitkräfte. Diese hatten sich eines riskanten Bestechungs- und Täuschungsmanövers bedient, bei dem laufende Vermittlungsbemühungen und die Symbole des Roten Kreuzes mißbraucht wurden, um die Rebellen zu täuschen. Präsident Uribe und die Militärs konnten sich im Glanz dieses weithin gefeierten Erfolgs baden, als sei es eine bewundernswerte Leistung, ohne Rücksicht auf das Leben dieser und anderer Gefangener eine Demonstration überlegener Stärke und Verschlagenheit zu geben.

Anmerkungen:

[1] FARC-Rebellen lassen Geisel in Kolumbien frei (29.03.10)
http://www.focus.de/politik/ausland/konflikte-farc-rebellen-lassen-geisel-in-kolumbien-frei_aid_494018.html

[2] Calvo ist frei, Moncayo folgt morgen (29.03.10)
http://www.redglobe.de/amerika/kolumbien/3614-calvo-ist-frei-moncayo-folgt-morgen

29. März 2010