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LATEINAMERIKA/2394: Protektorat Haiti - Feldversuch humanitärer Intervention (SB)


"Neugründung" des Landes im Zeichen dauerhafter Okkupation


Kolonialismus und Imperialismus europäischer Mächte und der Vereinigten Staaten haben Haiti für die Erbsünde abgestraft, dem napoleonischen Expeditionsheer die Stirn zu bieten und als erste schwarze Republik Weltgeschichte zu schreiben. Das Armenhaus der westlichen Hemisphäre ist ein genuines Produkt der Unterwerfung und Ausplünderung unter Partizipation einer kleinen einheimischen Elite, weshalb das Propagandakonstrukt, man wolle das Land nach dem großen Erdbeben neu gründen, nur der Gipfel des Hohns und der Auftakt zur Durchsetzung eines innovativen Entwurfs auswegloser Abhängigkeit sein kann. Nachdem man die Haitianer mehr als zwei Jahrhunderte lang nicht aus ihrer Not erhoben, sondern im Gegenteil immer tiefer ins Elend getrieben hat, bot die Naturkatastrophe einen willkommenen Anlaß, unter dem Eindruck umfassender Zerstörung ein humanitäres Protektorat zu installieren.

Völkerrechtliche Souveränität könne in einem Armutsstaat wie Haiti nur kontraproduktiv sein, befanden USA und Europäische Union, die sich eigenmächtig das Mandat erteilten, Unabhängigkeit zum Anachronismus zu erklären, das Recht auf Selbstbestimmung auszuhebeln und den Katastrophenschutz zu militarisieren. Wie die Intervention von 12.000 US-Soldaten eindrucksvoll unterstrich, standen hegemonialer Vormachtanspruch Washingtons und das Primat der Sicherheitspolitik an erster Stelle. Dann erst gab man den internationalen Hilfsorganisationen Raum, das Ihre zur administrativen Regulation der Misere beizutragen. Geschützt werden jedoch nicht die Menschen in dem heimgesuchten Land, sondern die Interessen der "humanitären" Interventionsmächte.

Wenngleich das weithin ärmste Land dieser Weltregion, hat Haiti einiges zu bieten. Da sind zum einen die vermuteten Ölvorkommen des Landes, deren Erschließung in Zeiten weltweit rückläufiger Förderung, aber weiter wachsenden Bedarfs lohnenswert wird. Brasilien und die USA tragen sich mit dem Gedanken, möglichst große Segmente der Karibik und Mittelamerikas in eine riesige Plantage zur Agrospritproduktion zu verwandeln. Auch der Anbau von Mangos für Coca Cola ist ein Thema, und nicht zuletzt hat sich allen voran der UNO-Sondergesandte Bill Clinton dafür starkgemacht, die haitianischen Niedriglöhne in Sweatshops der Textil- und Elektronikproduktion zu verwerten.

Zugleich dient Haiti als Feldversuch zur Verwaltung einer Armutsregion, bei dem sich studieren läßt, wie man Menschen mit minimaler Versorgung im Zaum halten kann, um bei Bedarf ihre Arbeitskraft auszubeuten und sie ansonsten ihrem Elend zu überlassen, ohne daß Hungerrevolten ausbrechen oder gar der Ruf nach einem Leben in Würde um sich greift. In einer Weltregion konkurrierender Gesellschaftsentwürfe ist es für Washington und seine Verbündeten unabdingbar, Haiti dem möglichen Einfluß Venezuelas und Kubas zu entziehen und jedem Bündnis unter dem Vorzeichen einer unabhängigen Entwicklung abspenstig zu machen.

Die "Internationale Geberkonferenz für eine neue Zukunft Haitis", die am 31. März bezeichnenderweise im New Yorker Hauptquartier der UNO über die Bühne ging, generierte ein ebenso milliardenschweres wie haltloses Versprechen. Dies war ein Angebot, das Präsident René Préval nicht abschlagen konnte, worauf er die Schlüssel seines Landes einem Konsortium ausländischer Regierungen und Banken aushändigte, die nun darangehen, die vom Erdbeben am 12. Januar verwüstete Nation "besser wiederaufzubauen".

Daß auf der Konferenz führende haitianische Wirtschaftsvertreter frei nach dem Motto, was ihren Geschäften nütze, sei gut für ihr Land, mitreden durften, liegt auf der Hand. Schließlich haben sie schon in der Vergangenheit erfolgreich verhindert, daß der Mindestlohn von drei Dollar pro Tag angehoben wurde oder die Ansichten Jean-Bertrand Aristides allzu sehr Fuß faßten. Dessen Anhänger mußten natürlich draußen bleiben, wie überhaupt die vielzitierte Zivilgesellschaft des Landes allenfalls in Gestalt von Feigenblattvertretern zugegen war. Warum auch mit Leuten reden, die beim Pläneschmieden nichts zu sagen haben, weil ihnen die Mittel fehlen, aus der Not ihren Vorteil zu ziehen!

Handfeste Vorschläge und substantielle Ansätze, um Haiti auf den Weg zur Selbstversorgung zu bringen, sind durchaus vorhanden, aber nicht im großen Entwurf vorgesehen. Die Regierung in Port-au-Prince wird unter die Supervision ausländischer Geber gestellt, die darüber befinden, welche Projekte lohnenswert sind. Die Interimskommission für den Wiederaufbau Haitis, bestehend aus dreizehn Ausländern und nur sieben Haitianern, erteilt oder versagt ihre Zustimmung. Und schließlich überwacht eine dritte ausländische Instanz die Umsetzung der Vorhaben durch die Regierung. So wurden Präsident René Préval und Premierminister Jean Max Bellerive samt ihrer Regierung einerseits bestätigt und andererseits zu Handlangern degradiert, damit man treuherzig die Zusammenarbeit im Munde führen kann, während man das Protektorat realisiert.

Daß die "Neugründung" des Landes unter diesen Umständen für Millionen ohnehin bitter armer und überdies erdbebengeschädigter Haitianer vor allem dergestalt in Erscheinung tritt, daß ihre Entwurzelung und Niederdrückung auf das äußerste Existenzminimum zum massenhaftem Dauerzustand wird, verwundert nicht. Fast fünf Monate nach dem schweren Beben, bei dem zwischen 250.000 und 300.000 Menschen ums Leben gekommen und bis zu 90 Prozent der Wohnhäuser in der Hauptstadt zerstört worden sind, leben noch immer 1,3 Millionen Menschen, die ihre Wohnungen verloren haben, auf der Straße oder in Notlagern, Zelten und unter Plastikplanen. [1]

Der Strukturplan, Port-au-Prince zu entlasten und die obdachlos gewordenen Bewohner in anderen Regionen anzusiedeln, würde voraussetzen, die bislang nur als Fiktion herumgeisternden dauerhaften Unterkünfte samt Infrastruktur zügig in Angriff zu nehmen. Davon kann jedoch bislang so gut wie keine Rede sein, da es die Hilfsorganisationen allenfalls schaffen, eine tendentielle Verschiebung der Menschen aus in der Regenzeit durch Überflutung gefährdeten Bezirken in andere Notunterkünfte zu bewältigen. In den unter den heftigen Niederschlägen zunehmend in Mitleidenschaft gezogenen Zeltstädten verschlechtert sich die Lage dramatisch, zumal immer mehr Menschen aus anderen Landesteilen in die Hauptstadt zurückkehren, weil dort noch am ehesten humanitäre Hilfe zu erwarten ist. [2]

Ohne die enormen Anstrengungen der Hilfsorganisationen in Abrede zu stellen, zeichnen sich doch immer deutlicher grundsätzliche Probleme ab, die aufs engste mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verflochten sind. Vielfach fehlt es schlichtweg an den erforderlichen Grundstücken, um neue Unterkünfte zu errichten, da die Regierung nicht in der Lage ist, entsprechende Flächen zuzuweisen. Weil die Besitzverhältnisse schon in der Vergangenheit häufig eher naturwüchsig als eindeutig rechtlich geklärt waren und die spärlichen Unterlagen der Behörden größtenteils vernichtet wurden, verhindern nun die ungeklärten Verhältnisse privaten Grundbesitzes vielfach die Nutzung desselben. Zugleich fürchten Gemeinden oder Institutionen, daß auf ihrem Terrain zunächst übergangsweise untergekommene Flüchtlinge dauerhaft bleiben könnten, weshalb man zunehmend versucht, diese Menschen gar nicht erst hereinzulassen oder schnellstmöglich wieder loszuwerden. Auch wendet sich eine Gruppe gegen die andere, wenn beispielsweise Kinder im Namen ihrer Eltern fordern, die Schulgelände müßten endlich von Flüchtlingen geräumt werden, damit der Unterricht wieder aufgenommen werden kann. Und selbst in Fällen, in denen Wohnungen nicht zerstört und inzwischen von Experten für sicher erklärt wurden, fehlt es vielen früheren Mietern mangels Arbeit schlichtweg an Geld, um sich eine Rückkehr leisten zu können.

Vertreter von Hilfsorganisationen reiben sich im Dauerstreit um Zuständigkeiten, Befugnisse und Maßnahmen mit der Regierung auf, alte Seilschaften reißen sich den kaum in Angriff genommenen Wiederaufbau unter den Nagel, Kriminalität kehrt als einzig verbliebener Erwerbszweig auf breiter Front zurück. Die berechtigte Furcht, womöglich die nächsten zehn oder zwanzig Jahre in Notunterkünften und Lagern leben zu müssen, greift in den Zeltstädten um sich, zumal die einzig vernehmliche Botschaft von Regierungsseite im Aufruf zur Geduld besteht. [3]

In Ermangelung jeglichen erkennbaren Gesamtplans eines Wiederaufbaus verfestigt sich einerseits die immer schärfer in Erscheinung tretende Spaltung in "NGO-Land", wo man die eine oder andere Erleichterung und Unterstützung abzubekommen hofft, und dem im Stich gelassenen Rest der Gesellschaft. Selbsthilfe nimmt unter diesen Umständen vielfach die Form einer eskalierenden Vorteilsnahme zu Lasten anderer an, welche die chaotische Verhältnisse vertieft. Das inzwischen nicht mehr existierenden Parlament hat es vor seiner Auflösung versäumt, wenigstens einige strukturelle Ansätze zur Beförderung des Wiederaufbaus zu verankern, so daß nun das Regime ganz und gar in Händen des als Marionette vorgehaltenen Präsidenten und seines Kabinetts liegt, hinter denen die Wiederaufbaukommission unter Führung Bill Clintons thront.

Der vollmundig angekündigte Neuanfang diente offensichtlich in erster Linie dem Zweck, den verheerenden Status quo zu zementieren und die Menschen ohne absehbares Ende hinzuhalten. Die nur allzu verständliche Forderung "Nieder mit Préval", die längst zur allgegenwärtigen Abkürzung und Standardformel für eine ständig wachsende Liste existentieller Nöte geworden ist, greift zu kurz, um die Probleme des Landes auch nur ansatzweise substantiell in Angriff zu nehmen. Letzten Endes sind es die herrschenden Verhältnisse von privatem Grundbesitz, Lohnarbeit und fundamentalem Konkurrenzverhalten, die eine Bewältigung der Katastrophenfolgen ebenso langfristig verhindern, wie sei eine Neugründung des Landes zugunsten der Mehrheit seiner Bewohner ausschließen.

Anmerkungen:

[1] Erdbeben in Haiti. Probleme beim Wiederaufbau (23.05.10)
http://www.zeit.de/wirtschaft/2010-05/haiti-wohnungen-eigentum

[2] Still Homeless in Haiti (14.05.10)

New York Times

[3] Rubble of a Broken City Strains Haitians‹ Patience (29.05.10)
New York Times

2. Juni 2010