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LATEINAMERIKA/2407: Mexikaner meiden Urnengang - Regionalwahlen im Kriegszustand (SB)


Notallianz bremst Durchmarsch der alten Regierungspartei


Von den 108 Millionen Einwohnern Mexikos leben 47 Millionen unter der Armutsgrenze, wovon 23 Millionen in extremem Elend existieren müssen. Drei Jahrzehnte der Stagnation in der Landwirtschaft und eine neoliberale Politik, die allen Wohlstand versprochen, doch nur die Eliten genährt hat, haben den Lebensstandard gedrückt und das Elendsheer vermehrt, zu dessen Lasten das komfortable Dasein einer Minderheit generiert wird. Die zum Himmel schreiende soziale Frage auszublenden, zählt zu den vordringlichsten strategischen Zielen des sogenannten "Antidrogenkriegs", der die Sicherheitspolitik in den Rang der alles entscheidenden Maßgabe erhebt. Präsident Felipe Calderón hat den Kartellen gleich nach seinem Amtsantritt im Jahr 2006 den Krieg erklärt und inzwischen 50.000 Soldaten in die Schlacht geworfen. Das Resultat sind fast 23.000 Todesopfer, wobei allein im vergangenen Jahr 6.500 Menschen getötet und in diesem bereits 5.000 Tote gezählt wurden.

Die Mehrzahl der Mexikaner hätte also gute Gründe, den herrschenden Kräften eine Absage zu erteilen, wogegen freilich im Rahmen der repräsentativen Demokratie Mexikos mächtige Schranken errichtet worden sind. Unmut wird kanalisiert, Aufbegehren sanktioniert, womit die Entscheidung an der Wahlurne gemessen an den existentiellen Nöten vollends zu einer Farce degeneriert. Vielleicht trug diese düstere Aussicht in guten Teilen dazu bei, daß am Wochenende nur dürftige 36 Prozent der Stimmbürger die Wahllokale aufsuchten, um auf regionaler Ebene das Gefüge parteipolitischen Einflusses umzurühren.

Mitmischen wollten diesmal auch die Kartelle, die der staatlicherseits vorgetragene Generalangriff aus den Verstecken eingespielter Gebietsabsprachen und geschmierter Behördenabläufe auf die Straße getrieben hat, wo sie wild um sich schießend blutige Machtkämpfe austragen. "Wir können und dürfen nicht erlauben, daß das organisierte Verbrechen uns seinen Willen und seine perversen Spielregeln aufzwingt", erklärte Präsident Calderón in einer Fernsehansprache nach dem Mord an dem Gouverneurskandidaten Rodolfo Torre. Wie so oft in der Vergangenheit wertete der Staatschef auch diese Eskalation als ein Zeichen dafür, daß die in die Enge getriebenen Drogenbanden nur noch verzweifelt um sich schlagen - eine Interpretation, die offenbar immer weniger seiner Landsleute teilen können.

Hatten sich die Drogenkartelle früher darauf beschränkt, Politiker zu bestechen und Allianzen im Verborgenen zu schmieden, so lassen sie heute im Wahlkampf auch die Waffen sprechen. Torre war das weitaus prominenteste, doch keineswegs das einzige Opfer in Politikerkreisen. Beispielsweise wurde im Mai in der Stadt Villahermosa ein Kandidat für das Bürgermeisteramt erschossen, worauf seine Partei beschloß, im ganzen Bundesstaat auf einen öffentlichen Wahlkampf zu verzichten. Im Bundesstaat Chihuahua fanden in etlichen Gemeinden öffentliche Kundgebungen nur dann statt, wenn die Kandidaten vorher bei den örtlichen Kartellvertretern eine Genehmigung eingeholt hatten.

Bei den Gouverneurs- und Regionalwahlen in rund der Hälfte der mexikanischen Bundesstaaten hat die oppositionelle Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) wie erwartet die Rückeroberung verlorengegangenen Terrains fortgesetzt, wenngleich ihr dabei der angestrebte Durchmarsch nicht gelang. Vor einem Jahr hatte die klerikal-konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) von Staatschef Felipe Calderón bei der Parlamentswahl eine klare Niederlage erlitten. Der aktuelle Urnengang galt auch als inoffizielle Abstimmung über die Politik des Staatschefs im Kampf gegen die Kartelle, dessen Blutzoll von Jahr zu Jahr sprunghaft gestiegen ist.

In zwölf der 31 Bundesstaaten wurden neue Gouverneure und Bürgermeister gewählt, in 14 Staaten standen regionale Kongreßwahlen an. Die PRI erreichte bei den Gouverneurswahlen in Zacatecas, Aguascalientes und Tlaxcala einen Machtwechsel zu ihren Gunsten. In Chihuahua, Durango, Hidalgo, Quintana Roo, Tamaulipas und Veracruz stellt sie weiterhin den Gouverneur. Allerdings verlor sie ihre traditionellen Hochburgen Oaxaca im Südosten und Sinaloa im Westen des Landes sowie den zentralmexikanischen Bundesstaat Puebla. In Oaxaca und Sinaloa setzte sich ein Bündnis aus der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) von Staatschef Felipe Calderón und der linksbürgerlichen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) durch. [1]

In Oaxaca, dessen scheidender Gouverneur Ulyses Ruiz von der PRI sich durch massive Repression gegen Oppositionelle und Basisorganisationen ausgezeichnet hat, machte der populäre Lokalpolitiker Gabino Cué, der für die Koalition aus PAN und PRD antrat, das Rennen. Deren Kandidat Rafael Moreno Valle setzte sich in Puebla gegen Javier Lopez Zavala durch, und in Sinaloa gab Mario López Valdez nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen Jesús Vizcarra das Nachsehen, dem man Verbindungen zu Drogenkartellen nachgesagt hatte. [2]

Die PRI hatte Mexiko zwischen 1929 und 2000 ununterbrochen regiert und wollte bei der Regionalwahl ihr Wiedererstarken fortsetzen, um die Grundlage für eine Rückkehr an die Macht bei der Präsidentenwahl 2012 zu legen. Dies sei gescheitert, erklärte der Vorsitzende der PRD, Jesús Ortega: "Die Rückkehr des alten autoritären PRI-Regimes kann verhindert werden". Dem hielt PRI-Präsidentin Beatriz Paredes entgegen, ihre Partei habe bewiesen, daß sie die stärkste politische Kraft Mexikos sei. [3] Die Fraktionsvorsitzende der PAN im Kongreß, Josefina Vasquez Mota, bezeichnete mit Blick auf den Machtwechsel in Oaxaca, Sinaloa und Puebla die Behauptung der PRI, sie habe auf ganzer Linie gesiegt, als unzutreffend: "Wir haben in Bundesstaaten gewonnen, in denen bislang ausschließlich die PRI regiert hat."

Die PAN machte die im Bundesstaat Veracruz regierende PRI für die Razzia in zwei ihrer Parteizentralen mit insgesamt zwölf Festnahmen verantwortlich. Im Gegenzug verwahrte sich die PRI gegen den Vorwurf der PAN, sie gehe eine Allianz mit Drogenkartellen ein, und erklärte, solche haltlosen Bezichtigungen heizten die Situation noch mehr an. Mit beiderseitigen Einsprüchen gegen einzelne Wahlergebnisse ist daher zu rechnen.

Nachdem der Wahlkampf im Zeichen der Gewalt gestanden hatte, verlief der Urnengang weitgehend ruhig. Allerdings wurden aus dem nördlichen Bundesstaat Chihuahua 20 Tote im Zusammenhang mit dem Drogenkrieg gemeldet. Bezeichnend waren die niedrige Beteiligung und eine auffallende Selbstzensur der Presse, die auf weit verbreitete Angst schließen lassen. Lokalen Medienberichten zufolge erschien etwa ein Fünftel aller staatlichen Wahlhelfer offenbar aus Furcht vor Zwischenfällen nicht am Einsatzort. Der Chefredakteur der Zeitung "Reforma" beschrieb die Situation mit folgenden Worten: "Was macht man, wenn sogar viele Wahlprüfer dem Wahllokal fernbleiben, wenn die Polizei willkürlich Leute verhaftet und wenn es nicht um Ideale und Projekte, sondern um [die Millionen des mexikanischen Staatshaushalts] geht?" [4]

Im nordöstlichen Bundesstaat Tamaulipas gewann der kurzfristig aufgestellte PRI-Gouverneurskandidat Egidio Torre. Er ist der Bruder des ursprünglichen Bewerbers Rodolfo Torre, der vor wenigen Tagen zusammen mit vier weiteren Menschen in einem Hinterhalt ermordet worden war. Egidio Torre, der deutlich mit 66 Prozent der Stimmen gewann, zeigte sich zufrieden über den Erfolg, doch zugleich "sehr bestürzt, auch traurig über die Tragödie" um seinen Bruder. Bei diesem Mordanschlag handelte es sich um den spektakulärsten seit dem Attentat gegen den PRI-Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio im Jahr 1994. Während dieser jedoch einer innerparteilichen Intrige zum Opfer gefallen war, starb Torre allem Anschein nach durch die Hand eines Drogenkartells.

Zeugenaussagen zufolge wurden dessen Auto und ein Begleitfahrzeug auf einer Landstraße von drei Pick-ups aufgehalten, deren Insassen das Feuer mit großkalibrigen Waffen eröffneten. Torre, sein Wahlkampfleiter und drei Leibwächter wurden erschossen, zwei weitere Leibwächter und zwei Begleiter überlebten schwerverletzt. Auf den Scheiben der Pick-ups war ein großes "Z" aufgemalt, weshalb man die "Zetas" für die Urheber des Anschlags hält. Bei diesen handelt es sich um eine frühere Killertruppe des Golf-Kartells, die sich selbständig gemacht hat und nun mit beispielloser Brutalität um Einflußbereiche und Drogenkorridore kämpft. Der Pressesprecher der Zetas stritt jedoch ab, daß seine Organisation hinter dem Politikermord steckt.

Da Rodolfo Torre in den Umfragen klar in Führung gelegen hatte, diente der Anschlag offenbar dem Zweck, seinen absehbaren Wahlsieg zu verhindern. Das Muster des Überfalls trägt die Handschrift der Kartelle und ist den "Zetas" ohne weiteres zuzutrauen, was deren Täterschaft nahelegt, aber nicht mit letzter Sicherheit beweist. Sollte das Ziel eine Schwächung der PRI gewesen sein, wurde es dank der Wahl Egidio Torres zum Gouverneur anstelle des getöteten Bruders verfehlt. Möglicherweise handelte es sich aber um eine Machtdemonstration eines Kartells oder eine Abrechnung, deren Hintergründe bislang im Dunkeln liegen.

Erfahrungsgemäß geben die Ergebnisse der Regionalwahlen vor allem die Stimmung vor Ort wieder, die von lokalen Konflikten und Persönlichkeiten geprägt ist. Von diesen Resultaten auf den voraussichtlichen Ausgang der Präsidentschaftswahl 2012 zu schließen, ist daher nur unter Vorbehalt möglich. Die wiedererlangte Stärke der PRI zeichnet sich jedoch deutlich ab, zumal ihr Durchmarsch in allen Bundesstaaten nur durch das aus Opportunismus und Schwäche zusammengeflickte Bündnis der an sich verfeindeten Konkurrenten PAN und PRD verhindert wurde.

Anmerkungen:

[1] Sieg der Institutionalisierten Revolution (05.07.10)
http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/mexiko-sieg-der-institutionalisierten-revolution_aid_526874.html

[2] Once-Dominant Party in Mexico Seems Resurgent (05.07.10)
New York Times

[3] Mexikaner trotzen den Kartellen (05.07.10)
http://www.tagesspiegel.de/politik/mexikaner-trotzen-den-kartellen/1876228.html

[4] Blutiger Wahlkampf in Mexiko (05.07.10)
http://www.berlinerumschau.com/index.php?set_language=de&cccpage=05072010ArtikelPolitikSansigre1

6. Juli 2010