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LATEINAMERIKA/2435: Elendsverwaltung statt Hilfe - Haiti in Zeiten der Cholera (SB)


Wiederkehr der tödlichen Seuche ein klassisches Armutsphänomen


In den Augen der Kolonialmächte war die aus einer Revolte schwarzer Sklaven entsprungene Republik Haiti eine unverzeihliche Fehlgeburt, der niemals ein Wachstum in Unabhängigkeit zugestanden werden durfte. Gefesselt von der Last horrender Reparationszahlungen an die französische Krone und ausgehungert durch die Blockade unter Führung der Vereinigten Staaten verkam das Freiheitsstreben der Vorkämpfer gegen das Joch fremder Mächte und gab einer Selbstzerfleischung in inneren Machtkämpfen Raum, die den westlichen Teil der Karibikinsel Hispañola von einem Leuchtfeuer der Erhebung in ein abschreckendes Armenhaus verwandelten. Die Lektion, daß antikolonialer und antiimperialistischer Kampf vernichtende Sanktionen nach sich ziehen, exerzierten die europäische und in ihrem Gefolge die US-amerikanische Hegemonialmacht am haitianischen Beispiel mit einer verheerenden Mischung aus Rachsucht und Machtkalkül.

Diese Ketten hat Haiti in den zwei Jahrhunderten seiner Geschichte als der Form nach unabhängige Republik nie mehr abgestreift. Neben direkten militärischen Interventionen bediente sich Washington diktatorischer Regimes, um den Karibikstaat unablässig unter Kontrolle zu halten. So ließ man die berüchtigte Dynastie der Duvaliers fast dreißig Jahre lang gewähren, deren Tontons Macoutes das Land in den Klauen ihrer Schreckensherrschaft hielten. Rüttelten Präsidenten wie Jean-Bertrand Aristide an den Gittern dieses Gefängnisses, blockierte die US-Regierung Hilfsgelder und Kredite der Interamerikanischen Entwicklungsbank, darunter auch die Finanzierung einer Infrastruktur der Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung. Aristide wurde 2004 in einem von Washington unterstützten Putsch gestürzt, worauf zunächst US-Marineinfantristen das Land besetzten und im Anschluß die Dauerpräsenz von UN-Truppen ein verkapptes Besatzungsregime installierte.

Höchst zerstörerische Folgen zeitigte auch der erzwungene Abbau der Schutzzölle und anderen protektionistischen Handelsschranken, der es der hochsubventionierten US-Agrarindustrie erlaubte, Haiti mit billigem Reis zu überschwemmen und damit die einheimische Landwirtschaft zu ruinieren. Berücksichtigt man, daß 66 Prozent der haitianischen Bevölkerung in diesem Sektor ihren Lebensunterhalt bestreiten, kann man sich ausmalen, welche Elendsfolgen diese aufoktroyierten ökonomischen Zwänge beförderten. Ausbeutung und Unterwerfung in Gestalt US-amerikanischer Kapitalinteressen und administrativen Kontrollinstrumente halten die Haitianer am Boden, wobei eine ausgesprochen kleine, aber für die Verhältnisse des Landes unerhört reiche Elite von Profiteuren und Kollaborateuren die inneren Strukturen der Herrschaftssicherung aufrechterhält.

Nach dem verheerenden Erdbeben im Januar schickte die Obama-Regierung Truppen, um alle Fluchtversuche zu unterbinden und mögliche Aufstände im Keim zu ersticken. Diese Operation blockierte zunächst die Transportwege und verhinderte geraume Zeit die Hilfsmaßnahmen seitens internationaler Organisationen. So trat in Reaktion auf die Naturkatastrophe der Charakter dieser interventionistischen US-Politik in besonders krasser Weise zutage. Als man die Lage unter Kontrolle zu haben glaubte, gestattete man dem inkompetenten Regime Präsident René Prévals, allmählich wieder in Erscheinung zu treten und eine Pseudoregierung auszuüben. De facto war Haiti längst ein Protektorat, auch wenn diese Umwandlung offiziell nur diskutiert, aber nicht vollzogen wurde.

Angeführt vom UN-Sondergesandten Bill Clinton verfügt ein Gremium unter willfähriger haitianischer Beteiligung über den Einsatz der Gelder und die Priorität der Projekte. Dem früheren US-Präsidenten schwebt ein massiver Ausbau der Textilindustrie und anderer Niedriglohnsektoren vor, deren Sweatshops beweisen sollen, daß sich selbst im ärmsten Land Lateinamerikas menschliche Arbeitskraft profitabel restverwerten läßt. Davon abgesehen sollen vor der Küste beträchtliche Erdölvorkommen der Erschließung harren, die sich in Zeiten steigender Preise durchaus lohnen könnte.

Die permanente Zurichtung Haitis gleicht einem großangelegten Feldversuch, die Verwaltung von Menschenmassen unter extremen Bedingungen zu erproben und zu studieren. Obgleich unablässig Menschen verdursten, verhungern, Verletzungen erliegen oder Seuchen zum Opfer fallen, ist es den diversen Administratoren der Mangelversorgung und weitgehend unterlassenen Hilfeleistung bislang gelungen, die Lagerinsassen davon abzuhalten, offen zu rebellieren oder sich gar zu organisieren.

Nachdem beim Erdbeben schätzungsweise 250.000 Menschen gestorben waren, blieben etwa 1,5 Millionen bis heute ohne feste Unterkunft. Im Juli und damit ein halbes Jahr nach der Katastrophe hatte man in der Hauptstadt Port-au-Prince lediglich zwei Prozent der Trümmer beseitigt und so gut wie keine neuen Häuser errichtet. Die meisten der etwa 1.300 notdürftigen Lager verfügten über unzureichenden oder gar keinen Zugang zu Strom, Wasser und Abflußsystem. Im September kritisierte ein Bericht der Organisation Refugees International die Hilfsmaßnahmen als "dysfunktional", da die Haitianer nach wie vor im Notstand lebten, während die humanitäre Hilfe paralysiert wirke. [1] Regierungen in aller Welt haben für 2010 und 2011 insgesamt 5,3 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern zugesagt, wovon bislang weniger als zwei Prozent bei den Empfängern angekommen sind. Den Vogel schoß dabei die US-Regierung ab, von deren versprochenen 1,15 Milliarden Dollar offenbar noch kein einziger Cent ausgezahlt worden ist. [2]

Die auf inszenierten Geberkonferenzen großzügig zugesagten und von den internationalen Medien ausgiebig gefeierten Hilfsgelder erwiesen sich als Phantom im Dienst eines "humanitären" Protektorats. Die gezielt eingesetzte Propaganda, man könne und müsse den von der Naturkatastrophe heimgesuchten Haitianern die Organisation der Notversorgung und des Wiederaufbaus vollständig aus der Hand nehmen, da sie dazu nicht angemessen in der Lage seien, fand vielerorts Zustimmung. Bald feierte die absurde Phantasiedebatte Urständ, man solle die komplette Verwüstung dahingehend nutzen, eine völlig neue Hauptstadt nach großzügigsten architektonischen und infrastrukturellen Maßstäben zu errichten. Weg mit den Elendsvierteln, breite Straßen und weite Plätze, Parks und Bibliotheken, luftige Wohnquartiere und blühende Geschäftsviertel, zauberte man die Träume wohlsituierten Bürgertums vor das geistige Auge einfältiger Betrachter, die nichts von den erbärmlichen Lebensverhältnissen in den haitianischen Massenlagern wissen wollten.

Gesundheitsexperten hatten schon kurz nach dem Erdbeben im Januar vor dem Ausbruch von Seuchen gewarnt, die angesichts der völlig zerstörten Infrastruktur drohten, wenn sich zahllose Menschen unter extremsten Verhältnissen auf engstem Raum drängten. Der Ausbruch von Cholera, der inzwischen weit über 300 Menschen zum Opfer gefallen sind, hat diese Prognose auf eine Weise bestätigt, deren Tragweite nicht abzusehen ist. Sollte sich die Epidemie in den Notlagern von Port-au-Prince unkontrolliert ausbreiten, fürchten die haitianischen Gesundheitsbehörden und die Vereinten Nationen Zehntausende von Toten. In den mittleren und nördlichen Landesteilen sind mehr als 4.000 bestätigte Infektionen registriert worden, doch da 75 Prozent der von dieser Krankheit Befallenen keine Symptome zeigen, dürfte die Ausbreitung längst um ein Vielfaches größer sein.

Nachdem im 19. und frühen 20. Jahrhundert Millionen Menschen den weltweiten Cholerapandemien zum Opfer gefallen waren, sorgte die Verbesserung der Lebensverhältnisse und Infrastruktur in der westlichen Welt für das weitgehende Verschwinden dieser Krankheit. Schon eine rudimentäre Versorgung mit sauberem Wasser und Beseitigung des Abwassers erwies sich als wirksame Maßnahme, die Cholera zurückzudrängen, die mithin als ausgesprochene Armutskrankheit gilt. Vor dem Ausbruch in Haiti war sie auf der Karibikinsel praktisch unbekannt, da seit Generationen keine Krankheitsfälle aufgetreten waren und die Seuche als ausgerottet galt. Heute ist sie vor allem im südlichen Afrika wieder auf dem Vormarsch, auch aus Pakistan und Nepal wird derzeit ein Ausbruch gemeldet. Während infizierte Patienten mit vergleichsweise einfachen und billigen Mitteln wie Flüssigkeitszufuhr, Antibiotika und einer Rehydrierung mit Hilfe eines salz- und zuckerhaltigen Serums erfolgreich behandelt werden können, beträgt die Morbiditätsrate nach Auftreten der Symptome bei fehlender Behandlung bis zu 50 Prozent. Der wohlfeile Rat, nur gereinigtes Wasser zu trinken und sich die Hände mit Seife zu waschen, scheitert für viele Menschen in den Lagern von Port-au-Prince daran, daß sie weder sauberes Wasser noch Seife haben.

Wenngleich die Herkunft des Choleraerregers in Haiti aller Voraussicht nach ungeklärt bleiben wird, gilt das nicht für den Ausbruch der Krankheit und deren epidemische Verbreitung. Diese lassen sich auf die elenden Lebensverhältnisse zurückführen, die schon vor dem schweren Erdbeben herrschten und um so gravierender nach der Naturkatastrophe Hunderttausende existentiell gefährden. Schätzungen der WHO zufolge treten derzeit weltweit zwischen drei und fünf Millionen Cholerafälle pro Jahr auf, wobei bis zu 120.000 Menschen der Krankheit zum Opfer fallen. Wie wenig es bedürfte, diese Leben zu retten, zeigt das Beispiel Haitis, das zugleich in aller Deutlichkeit demonstriert, nach welchen Maßgaben Hilfe als strategisches Werkzeug der Unterwerfung eingesetzt und somit größtenteils verweigert wird.

Anmerkungen:

[1] Haiti cholera epidemic reaches Port-au-Prince (26.10.10)
World Socialist Web Site

[2] Haiti's cholera toll: An indictment of imperialism (01.11.10)
World Socialist Web Site

2. November 2010