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LATEINAMERIKA/2439: Wikileaks - Inszenierter Sturm im Wasserglas? (SB)


Südamerikanische Regierungen reagieren auf Enthüllungen


Das von der Internetplattform Wikileaks inszenierte Enthüllungsdrama bedient ein von vordergründiger Aufregung, Empörung und Genugtuung überbordendes Medienfeuerwerk, dessen Weichenstellung und Tragweite es noch auszuloten gilt. Geht man der Frage nach, wie tiefgründig diese massenhafte Offenlegung bislang der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Datenmaterials ist, drängt sich der Verdacht auf, daß der Gehalt dessen, was man bei entsprechendem Interesse nicht ohnehin wissen oder zumindest mutmaßen konnte, eher gering gegenüber einem wohlfeilen Manöver daraus abgeleiteter Bezichtigung seitens der Urheber jener Dokumente wie auch einer um sich greifenden Bereitschaft ist, sich in naivem Staunen oder sensationslüsternem Ergötzen an einer unablässigen Flut angeblicher Affären zu weiden.

Jene Regierungen Lateinamerikas, die seit Jahren unter den aggressiven Anwürfen und Übergriffen des US-amerikanischen Hegemons zu leiden haben, greifen diese zwangsläufig willkommene Gelegenheit auf, ihre Kritik an der Politik Washingtons mit dem nun publizierten Material zu belegen und zu unterfüttern. So stufte die US-Botschaft in Tegucigalpa den Putsch in Honduras, bei dem Präsident Manuel Zelaya Ende Juni 2009 gewaltsam entmachtet und außer Landes gebracht wurde, eindeutig als illegal ein. Dies geht aus einem nun veröffentlichten Bericht des US-Botschafters hervor. Dieser Einschätzung ungeachtet hielt die US-Regierung die politischen und wirtschaftlichen Kontakte zum Putschregime aufrecht und unterstützt die aus ihm hervorgegangene De-facto-Regierung. [1]

Da die Obama-Administration gesetzlich verpflichtet gewesen wäre, im Falle eines Staatsstreichs alle Finanzhilfen und Handelskontakte auszusetzen, täuschte sie eine neutrale Haltung vor, die sich einer konsequenten Verurteilung des Umsturzes enthielt. Obgleich die USA als weitaus wichtigster Bündnispartner der Eliten und Militärs des mittelamerikanischen Landes vor allen anderen Staaten und Organisationen in der Lage gewesen wären, durch entsprechende Sanktionen Druck auf die Putschisten auszuüben, beließ sie es bei milden Rügen und eher symbolischen Strafmaßnahmen. Für Washington war in diesem Konflikt von entscheidender Bedeutung, den Vormarsch jener Bestrebungen zurückzudrängen, die sich der US-Dominanz widersetzen und eine unabhängige Entwicklung auf Grundlage regionaler Bündnisse und anderer internationaler Handelspartner anzustreben. Die mehr als klammheimliche Unterstützung des Staatsstreichs, während man sich vor der Weltöffentlichkeit die Hände in Unschuld wusch und sich als Vermittler anbot, entsprach der Strategie einer verdeckten Intervention, um die seit der Präsidentschaft Bill Clintons das Repertoire der Zugriffssicherung in Lateinamerika ergänzt worden war.

Eine mehrseitige Analyse, die US-Botschafter Hugo Llorens am 24. Juli 2010 und damit knapp einen Monat nach dem Putsch an das US-Außenministerium gesandt hatte, spricht eine deutliche Sprache. Wie es in dem als vertraulich eingestuften Dokument heißt, sei der Vorwurf, Präsident Zelaya habe das Gesetz gebrochen, eine "nicht belegte Annahme". Es gebe "keinen Zweifel daran, daß das Militär, der Oberste Gerichtshof und der Kongreß den Putsch gegen die Regierung geplant haben". Auch kommt Llorens zu dem Schluß, daß die Amtsübernahme durch Roberto Micheletti zweifellos illegitim war. Den angeblich freiwilligen Rücktritt Zelayas stuft er als "klare Fälschung" ein.

Auch in Paraguay hat man gute Gründe, dem aus den bislang veröffentlichten Dokumenten gespeisten Verdacht auf den Grund zu gehen. Offenbar gab das US-Außenministerium im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im April 2008 Anweisung, detaillierte Informationen über die Kandidaten zu beschaffen. Angefordert wurden demnach ein Scanbild der Iris, Fingerabdrücke und DNA-Proben mehrerer Bewerber, darunter auch des späteren Wahlsiegers und amtierenden Präsidenten Fernando Lugo. Nach den Worten des Parlamentspräsidenten Víctor Bogado sind diese Berichte "sehr schwerwiegend", da es sich im Falle der Verifizierung ihrer Echtheit um einen gravierenden Verstoß gegen die nationale Souveränität seines Landes handle.

Hinsichtlich Argentiniens hatte Washington von seinen Diplomaten in Buenos Aires Berichte über den "Geisteszustand" von Präsidentin Cristina Fernández angefordert. Die argentinische Regierung überließ dem venezolanischen Staatschef Hugo Chávez das Feld, der sich mit Fernández solidarisierte, den Betreibern von WikiLeaks für ihren Mut gratulierte und US-Außenministerin Hillary Clinton zum Rücktritt aufforderte. Wie aus weiteren veröffentlichten Dokumenten hervorgeht, hatte das US-Außenministerium seine Diplomaten angewiesen, ihn in Südamerika zu isolieren. Zudem wird ein französischer diplomatischer Berater mit den Worten zitiert, Chávez sei "verrückt". "Das Imperium ist nackt", stach der Präsident Venezuelas ins Wespennest, wobei er die USA als einen "illegalen, gescheiterten Staat" bezeichnete, der sogar den Respekt gegenüber seinen Verbündeten über Bord geworfen habe, um seine Herrschaft zu bewahren. [2]

Ecuador hat dem Mitbegründer des Enthüllungsportals, Julian Assange, Asyl angeboten. Man sei bereit, ihm ein Aufenthaltsrecht ohne Probleme und Bedingungen anzubieten, sagte der stellvertretende Außenminister des Landes, Kintto Lucas. Sollte Assange eine Aufenthaltsberechtigung für Ecuador beantragen, könne er dieses Gesuch entsprechend der geltenden Normen des Landes einreichen, bestätigte das Außenamt dem Australier in einer offiziellen Pressemitteilung das Angebot. Da Assange inzwischen von Interpol per Haftbefehl gesucht wird, erstaunt die Reaktion von Wikileaks nicht, das die Einladung in einer über den Internetdienst Twitter verbreiteten Nachricht als "sicheren Hafen" bezeichnete.

Soweit bekannt, liegen dem Portal aus der US-Botschaft in Caracas 2.340 Berichte vor, darunter 46 "geheime" und fast 2.000 "vertrauliche" Depeschen. Die diplomatische Vertretung der USA in La Paz lieferte rund 3.000 Berichte, während sich die Regierung in Quito von dem Asylangebot offenbar Zugriff auf 1.450 Dokumente der US-Botschaft verspricht, die bislang noch nicht veröffentlicht worden sind. Natürlich darf auch Havanna nicht fehlen, das mit 507 Meldungen vertreten ist. Aus Brasilien sollen dem Vernehmen nach 3.070 und aus Kolumbien 2.896 Dokumente vorliegen. In Mexiko, das unter Präsident Felipe Calderóns eskaliertem "Antidrogenkrieg" eng an die Seite der USA gerückt ist, wird man die vorliegenden 2.836 Depeschen gründlich studieren, von denen 26 als geheim eingestuft waren.

In den USA versuchten Lateinamerikaexperten die Bedeutung der Enthüllungen herunterzuspielen, indem sie insbesondere die Regierungen Venezuelas und Ecuadors bezichtigten. "Das ist eine goldene Gelegenheit für Hugo Chávez oder [den ecuadorianischen Staatschef Rafael Correa], erklärte Riordan Roett, Direktor des Programms für Lateinamerikanische Studien an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies. "Chávez sucht ständig nach einer Chance, mit dem Finger auf die USA zu zeigen oder sich über sie lustig zu machen. (...) Das ist doch nur die übliche Rhetorik." Christopher Sabatini, Herausgeber des New Yorker Politikjournals "Americas Quarterly", stufte die Einladung Ecuadors an die Adresse Assanges als eine "leere, nationalistische, anti-US-amerikanische Geste" ein. "Alles in allem bin ich der Meinung, daß das meiste, was dabei gefunden wird, vor allem für andere Staatsführer und nicht so sehr für US-amerikanische peinlich ist." [3]

Wollte man diese groteske Verdrehung des Offensichtlichen für bare Münze nehmen, müßte man ernsthaft am Horizont und den Kapazitäten dieser Experten zweifeln. Vor dem strategischen Hintergrund, den sogenannten Cyberwar in den Fundus des "Antiterrorkriegs" zu integrieren, macht die Stoßrichtung der zitierten Äußerungen jedoch Sinn. Dabei drängt sich zwangsläufig die Frage auf, ob die in wesentlichen Teilen geradezu boulevardeske Enthüllungskampagne der Internetplattform Wikileaks nicht als solche zu eben diesem Zweck funktionalisiert wird.

Anmerkungen:

[1] Undiplomatisches Vorgehen im so genannten Hinterhof. USA verweigerten in Honduras Konsequenzen aus der Putsch-Verurteilung (01.12.10)


[2] Sicherer Hafen für Assange. Ecuador lädt Wikileaks-Gründer ein. Lateinamerika empört über Enthüllungen (01.12.10)
junge Welt

[3] Ecuador and Venezuela compete to praise WikiLeaks' Julian Assange (30.11.10)
The Christian Science Monitor

1. Dezember 2010