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LATEINAMERIKA/2443: Protest gegen die zügellose Militarisierung Mexikos (SB)


Stadtbewohner von Apatzingán fordern Abzug der Bundespolizei


Die Zeiten, in denen die Bevölkerung Mexikos mehrheitlich im proklamierten "Antidrogenkrieg" Präsident Felipe Calderóns die Antwort auf ihre vordringlichsten Probleme sah, dürften endgültig der Vergangenheit angehören. Ob sich die Erkenntnis durchsetzt, daß die mit Brachialgewalt auf die Tagesordnung gesetzte Sicherheitsfrage der Strategie geschuldet war, den Verfall der Lebensverhältnisse zahlloser Menschen zur Nebensache zu erklären, die hinter der nationalen Offensive gegen die Kartelle zurückzustehen habe, muß sich noch erweisen. Fest steht indessen, daß der von höchster Stelle geschmiedete Konsens, wonach die Bekämpfung des Drogengeschäfts jede repressive Verschärfung der Innenpolitik bis hin zu deren weitreichender Militarisierung rechtfertige, zu brechen beginnt.

In Apatzingán, einem rund 300 Kilometer westlich von Mexiko-Stadt gelegenen Ort im zentralmexikanischen Bundesstaat Michoacán, sind die Bewohner auf die Straße gegangen, um gegen die permanente Präsenz der Polizei und Armee zu Felde zu ziehen. Zuvor war ein hochrangiger Anführer des ansässigen Drogenkartells "La Familia" von den Sicherheitskräften getötet worden, was die Menschen nicht etwa mit der obligatorischen Begeisterung erleichterten Bürgertums feierten, sondern im Gegenteil zu Hunderten mit Parolen wie "Lang lebe 'La Familia' in Michoacán" quittierten. Ihr Zorn richtete sich gegen das brutale Vorgehen der Soldaten und Polizisten, deren ständige Gegenwart sie offensichtlich als gravierendere Beeinträchtigung ihres alltäglichen Lebens empfinden als jene des Kartells. [1]

Am letzten Dienstag hatten die Sicherheitskräfte José Antonio Arcos festgenommen, der ebenfalls der Führung dieses Kartells zugerechnet wird. In einem blutigen Feuergefecht am Donnerstag wurde Nazario Moreno Gonzáles erschossen, ein einflußreicher Mitgründer von "La Familia". Im Verlauf dieser wilden Schießerei starben in Apatzingán zudem drei weitere Mitglieder des Kartells und fünf Polizisten, aber auch drei Zivilisten, darunter ein Baby und eine 16 Jahre alte Jugendliche, was die Bevölkerung des Ortes zweifellos besonders aufgebracht hat.

Am Sonntag wurde die zuvor verhängte Ausgangssperre aufgehoben und die Hauptzugangsstraße nach Apatzingán wieder geöffnet, wobei zunächst eine Reihe im Kugelhagel zerstörter Fahrzeuge weggeräumt werden mußte. Als die Bewohner nach dem tagelangen Belagerungszustand endlich ihre Häuser wieder verlassen durften, machten rund 500 Menschen ihrem Unmut über die massive Präsenz der Sicherheitskräfte Luft. "Bundespolizei raus aus Michoacán" und "Herr Gouverneur, wir wollen Frieden und Ruhe", standen eindeutige Forderungen auf mitgeführten Transparenten zu lesen. Wie der Bürgermeister des Ortes, Genaro Guizar, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP berichtete, stehe man praktisch unter der Belagerung von Armee und Marine. Seinen Angaben zufolge dauern die Einsätze uniformierter Kräfte in den umliegenden Bergen weiter an. Schwere Verbrechen wie Mord oder bewaffnete Auseinandersetzungen seien der Zuständigkeit der Stadt vollkommen entzogen und in die Hand der Bundesbehörden übergeben worden.

Da der getötete Nazario Moreno Gonzáles zu den meistgesuchten Straftätern des Landes gehört hatte, wollte man seine Leiche zum Zeichen des Triumphs im Scheinwerferlicht der Medien öffentlichkeitswirksam zur Schau stellen. Das mißlang jedoch, da die menschliche Trophäe trotz einer großangelegten Suchaktion in der Stadt und den umliegenden Dörfern nicht aufzufinden war. Offenbar haben überlebende Mitglieder des Kartells die Leiche nach der Schießerei in die Berge geschafft - das jedenfalls vermuten die Behörden. [2]

Mexikos Präsident Felipe Calderón hatte nach seinem Amtsantritt im Dezember 2006 den Kartellen den Krieg erklärt. Die Folge war eine beispiellose Eskalation des Mordens, das die Regierung mit einer fortgesetzten Aufstockung der entsandten Kontingente von Streitkräften und Bundespolizei nicht eindämmen konnte, sondern unablässig anheizte. Seit dem Beginn der mit Unterstützung der Armee geführten Offensive wurden mehr als 28.000 Menschen getötet. Neben den elf Toten von Apatzingán wurden aus dem Bundesstaat Guerrero ebenfalls in den letzten Tagen sieben Leichen an Straßen in der Nähe des Badeortes Acapulco gemeldet - drei von ihnen waren geköpft und zwei hingen von einer Brücke herunter. Im Bundesstaat Jalisco waren zuvor auf einem öffentlichen Platz elf Menschen bei einer Schießerei getötet worden. Ob diese Todesopfer im unmittelbaren Zusammenhang mit "La Familia" stehen, ist noch nicht bekannt. Wie man jedoch weiß, hat das 2006 gegründete Kartell seine Aktivitäten zuletzt auf die benachbarten Bundesstaaten Guerrero und Jalisco ausgeweitet.

Da Präsident Felipe Calderón selbst aus dem Bundesstaat Michoacán stammt, wird die von ihm forcierte Konfrontation mit dem Kartell "La Familia", das den Drogenhandel in dieser Region seit Jahren kontrolliert, nicht zuletzt als persönlicher Machtkampf des Staatschefs mit seinen Intimfeinden wahrgenommen. Mitte letzter Woche sperrten Bewaffnete mehrere Hauptverkehrsstraßen in Calderóns Heimatstadt Morelia, worauf sie die Fahrer von Autos, Lastwagen und Bussen zwangen, ihre Fahrzeuge zu verlassen, die sie dann mitten auf großen Kreuzungen in Brand steckten. Die Blockade endete erst, als sämtliche Fahrzeuge ausgebrannt waren. [3]

Da in den zurückliegenden Monaten mehrere hochrangige Anführer von "La Familia" festgenommen worden waren, handelte es sich zweifellos um eine erneute Machtdemonstration des Kartells, das dem Staat de facto den Krieg erklärt und damit endgültig die vielzitierten kolumbianischen Verhältnisse der Ära Pablo Escobars herbeigeführt hat. Die Stadt Morelia ist seit mehreren Jahren Schauplatz von Gewalttaten, die sich gezielt gegen die Bevölkerung richten. So warfen am Unabhängigkeitstag 2008 Unbekannte mehrere Handgranaten in die versammelte Menge. Dabei wurden acht Menschen getötet und über hundert weitere verletzt.

Der Verdacht fiel damals sofort auf das Kartell "La Familia", das den Amphetaminhandel in diesem Bundesstaat kontrolliert und in jüngerer Zeit durch gesteigerte Grausamkeit in Erscheinung getreten ist. Während die Kartelle jedoch in der Regel keine Hemmungen an den Tag legen, sich ihrer Untaten zu rühmen, und dies als erwünschte Machtdemonstration anstreben, schwor "La Familia" seinerzeit Stein und Bein, nichts mit diesem Angriff auf Unbeteiligte zu tun zu haben. Ursprünglich als eine Art Bürgerwehr zum Schutz des Bundesstaats gegen Drogenkartelle ins Leben gerufen, verwandelte sich "La Familia" im Laufe der Zeit selbst in ein Kartell, das seinen selbsterklärten Ethos, die Sicherheit der Menschen in ihrem Einflußbereich zu garantieren, mehr oder minder preisgab. Dies als zwangsläufige Entwicklung nichtstaatlicher bewaffneter Akteure zu klassifizieren, unterschlägt freilich die Beteiligung massiver staatlicher Repression an diesem Prozeß, der die Reste zunächst vorhandener sozialer Anliegen zermalmt und in den Krieg mündet.

Anmerkungen:

[1] Drogenboss getötet. Polizei löst Proteste aus (13.12.10)
http://www.n-tv.de/panorama/Polizei-loest-Proteste-aus-article2137041.html

[2] Proteste in Mexiko gegen Polizei nach Tötung von Drogenboss (13.12.10)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5gdO5DH8FIXS59eeKH006RvEL3qsQ?docId=CNG.19f5e80255321562ef2caa4ebbbcf4f6.a1

[3] Mexican City Is Blockaded by Gunmen (09.12.10)

New York Times

13. Dezember 2010