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LATEINAMERIKA/2480: Kein Ende des sozialen Krieges in Kolumbien (SB)



Friedensverhandlungen zwischen Regierung und ELN

"Kolumbien kann jetzt auf vollständigen Frieden hoffen", verkündete Juan Manuel Santos, Präsident und Friedensnobelpreisträger, dieser Tage in Bogotá. Mit der FARC, Kolumbiens größter Rebellengruppe, wurde bereits im Dezember ein Abkommen geschlossen, heute nimmt die Regierung im ecuadorianischen Quito offizielle Verhandlungen mit der Nationalen Befreiungsarmee ELN, der zweiten größeren kolumbianischen Guerillaorganisation auf. "Niemand hätte doch gedacht, dass die FARC eines Tages im Gänsemarsch in Lager marschieren, um ihre Waffen abzugeben und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, damit wir nach 52 Jahren Krieg wieder Frieden und Ruhe haben könnten." In einigen Monaten, hofft Santos, wird die Entwaffnung der FARC abgeschlossen sein. Bis dahin strebt er auch substantielle Fortschritte mit der ELN an, um sein historisches Befriedungswerk noch vor Ende seiner Amtszeit unter Dach und Fach zu bringen. Acht kolumbianische Präsidenten haben vor ihm vergeblich versucht, mit der ELN Frieden zu schließen. Gelingt es Santos, das Ende des Bürgerkriegs in Kolumbien zu besiegeln, ist ihm ein Platz als strahlender Held in der offiziellen Geschichtsschreibung sicher. "Kolumbien verwandelt sich in ein Licht für die Welt", wie es Oscar Arias aus Costa Rica, ebenfalls Friedensnobelpreisträger, überschwenglich formulierte. [1]

Die profane Realität der Verhältnisse ist eine gänzlich andere. Als Verteidigungsminister in der Präsidentschaft Alvaro Uribes ging Santos von 2006 bis 2009 mit eiserner Faust gegen die Guerilla vor und fügte ihr schwere Verluste zu, doch besiegen konnte er sie nicht. Ein riesiger Rüstungsetat, die mit 445.000 Mann größten Streitkräfte Südamerikas, selbst massive Finanzhilfen und direkte militärische Unterstützung seitens der USA reichten nicht aus, die zuletzt auf 5.800 Kämpfer geschrumpfte FARC und die auf maximal 2000 bewaffnete Rebellen geschätzte ELN endgültig niederzuwerfen. Nach seinem Amtsantritt 2010 vollzog Santos eine Kehrtwende und setzte sich mit der Guerilla an den Verhandlungstisch, was ihn 2014 fast die Wiederwahl gekostet hätte und ihm seinen einstigen Ziehvater Uribe zum erbitterten Feind machte.

Santos setzte sein Werk, den bewaffneten Widerstand im Land zu eliminieren, mit politischen Mitteln fort. Kolumbien befindet sich auf einer wirtschaftlichen und sozialen Talfahrt, der er mit weiteren drastischen Sparmaßnahmen und einer Militarisierung begegnen will. Eine hohe Inflation führt zu einem Rückgang der Realeinkommen, die Arbeitslosigkeit steigt, die öffentliche Verschuldung ebenso, das Steueraufkommen sinkt. Über 60 Prozent aller Familien kommen kaum über die Runden, und die geplanten Maßnahmen wie Abwertung, Steuersenkungen für Konzerne und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer werden den Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit noch weiter senken. Der alles überblendende Friedensprozeß könnte den Deckmantel für die Verschärfung der sozialen Verhältnisse abgeben.

Zudem eröffnet der Rückzug der Rebellen aus den bislang von ihnen kontrollieren Gebieten den Großgrundbesitzern die Möglichkeit, ihre Ländereien zu vergrößern, und erleichtert den Abbau von Rohstoffen unter Gewaltanwendung gegen Bauern und verarmte Landarbeiter. An den Problemen, die in den 1960er Jahren zur Gründung der FARC und der ELN geführt haben, hat sich nichts wesentliches geändert. Der Bürgerkrieg entsprang der extremen sozialen Ungleichheit der kolumbianischen Gesellschaft, eine Elite aus Bogotá und Medellín beherrscht das Land. In den Armenvierteln und außerhalb der Städte fehlt es oftmals an den grundlegenden Voraussetzungen wie Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Bildung, von der stets präsenten Gewalt bewaffneter staatlicher und nichtstaatlicher Akteure ganz zu schweigen. Wenn daher von Frieden die Rede ist, läuft das auf die Fortsetzung des sozialen Kriegs der kolumbianischen Klassengesellschaft hinaus.

Die ELN (Ejército de Liberación Nacional) wurde 1964 von Fabio Vasquez Castaño gegründet und gehört somit zu den ältesten noch aktiven Guerillaorganisationen Lateinamerikas. Sie orientierte sich anfangs an den Schriften Che Guevaras, insbesondere an der Theorie des zunächst lokal begrenzten Aufstandes, der sich letztendlich zur landesweiten Revolution ausweiten soll. Der ELN gelang es, sich in der Tradition der Bauernrevolten zu verankern, und Ende der 1960er Jahre schloß sich ihr ein beträchtlicher Teil der kolumbianischen Befreiungstheologen, darunter Camilo Torres, an. Als sich nach schweren militärischen Niederlagen ab 1978 eine Demokratisierung der Entscheidungsgremien etablierte, regenerierte sich die ELN und wuchs innerhalb von neun Jahren von drei auf über dreißig Fronten an. Es wurde das Konzept der Volksmacht entwickelt, welches die Guerilla nicht mehr als Avantgarde aller gesellschaftlichen Veränderungen begreift, sondern sozialen Bewegungen einen wesentlichen Anteil daran einräumt. Konkret wurden Selbstverwaltungsstrukturen in Gemeinden und Betrieben unterstützt.

In den von ihr kontrollierten Landstrichen installierte die ELN ein eigenes Verwaltungssystem, erhob Steuern, intervenierte im Konflikt zwischen Großgrundbesitzern und Kleinbauern und engagierte sich in örtlichen Hilfsprojekten und der Sozialfürsorge für die ländliche Bevölkerung. Die Rebellen forderten eine Nationalisierung der Bodenschätze und gingen mit Sabotageanschlägen gegen multinationale Konzerne vor. Haupteinnahmequelle waren Schutz- und Lösegelder aus Erpressungen und Entführungen, eine Besteuerung des Kokaanbaus lehnte die ELN im Gegensatz zur FARC durchweg ab. Die 1996 vorgeschlagene Einberufung eines Nationalkonvents, auf dem alle gesellschaftlichen Gruppen Konzepte zur Veränderung der Gesellschaft erarbeiten sollten, scheiterte an der Verweigerung einer demilitarisierten Zone zur Abhaltung der nationalen Versammlung seitens des Staates.

Bereits im November 2001 begannen Sondierungsgespräche zwischen ELN und Regierung in Kuba, die aber nach dem Wahlsieg Alvaro Uribes im Mai 2002 beendet wurden. Im selben Jahr wurde gemeinsam mit den USA der Plan Colombia verabschiedet, dem 2004 der Plan Patriota folgte. In Folge der damit verbundenen Militärhilfe der USA und einer forcierten Bekämpfung der Guerilla wurde auch die ELN in die Defensive gedrängt. Im Oktober 2006 begannen Friedensverhandlungen in Havanna, die Ende 2007 wieder ausgesetzt wurden. Zwischen 2006 und 2009 kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit der FARC, die von letzterer ausgingen. 2012 signalisierte die ELN erneut ihr Interesse an Friedensgesprächen mit der Regierung, Ende 2013 begannen in Ecuador und Brasilien geheime Gespräche, im Juni 2014 verkündete Präsident Santos schließlich die Übereinkunft zur baldigen Aufnahme von Friedensverhandlungen.

Nachdem am 2. Februar der Politiker Odin Sánchez, eine der letzten Geiseln der ELN, nach zehn Monaten im Dschungel freigelassen worden war, stand der Aufnahme von Verhandlungen nichts mehr im Wege. Da das Friedensabkommen mit der FARC als Blaupause dienen soll, könnte eine Teilamnestie mit Höchststrafen von acht Jahren Freiheitsentzug bei Kooperation mit den Behörden Anwendung finden. Die ELN will jedoch nach den Worten ihres Verhandlungsführers Pablo Beltrán eigene Akzente setzen:

Weder die Verhandlungsdelegation der Regierung noch die des ELN wird festlegen, welche dringenden Veränderungen unsere Gesellschaft braucht. Das ist Aufgabe der Kolumbianerinnen und Kolumbianer. Überall in Kolumbien sollen sich deshalb die Friedensaktivisten versammeln, um zu sagen, in welcher Form sie beteiligt werden sollten. [2]

Die ELN setzt also auf Basisdemokratie, was natürlich den Verhandlungsprozeß nicht gerade einfacher macht. Wenngleich die Regierung davon ausgeht, daß die Demobilisierung der FARC den Druck auf die ELN erhöht, erschwere deren dezentrale Organisierung die Gespräche. Zudem hält sie den Rebellen vor, sie hätten sich noch nicht offiziell von Praktiken wie Entführungen verabschiedet, weshalb ein Abbruch der Verhandlungen jederzeit möglich sei. Auf der Agenda stehen sechs Punkte, angefangen von der Entwaffnung der Guerilla bis zu ihrer politischen Beteiligung. Bei der hierarchisch strukturierten FARC haben sich bislang 95 Prozent der Kombattanten der Demobilisierung angeschlossen. Ob sich auch die Mitglieder der eher basisdemokratisch orientierten ELN in diesem Ausmaß an die Ergebnisse von Friedensverhandlungen gebunden fühlen, ist noch ungewiß.

Verhandlungsführer auf Regierungsseite ist der ehemalige Landwirtschaftsminister Juan Camilo Restrepo, für die ELN führt Israel Ramírez Pineda, genannt Pablo Beltrán, die Gespräche in Quito. Der 63jährige Chemieingenieur gehört zu den Kommandochefs der Guerilla. Im ersten Punkt der Tagesordnung wird es darum gehen, in welcher Form die kolumbianische Bevölkerung an den Verhandlungen beteiligt werden kann. Dann dürften Themen wie die notwendigen politischen Reformen, der Umgang mit den Opfern und die Demobilisierung der Rebellen folgen. [3]

Präsident Santos bleiben noch anderthalb Jahre im Amt, eine erneute Kandidatur ist danach nicht mehr möglich. Die Ablehnung des Friedensprozesses ist schon jetzt Wahlkampfthema der Opposition um Alvaro Uribe. Das beunruhigt auch die FARC, die darauf drängt, zentrale Punkte des Friedensabkommens so schnell wie möglich durch Gesetze zu garantieren. Eingedenk dessen, daß die Verhandlungen mit der FARC vier Jahre gedauert haben und eine Übereinkunft mit der ELN als noch schwieriger eingeschätzt wird, dürfte der künftige Verlauf des Friedensprozesses maßgeblich von der nächsten Regierung abhängen.

Es steht zu befürchten, daß für die Menschen in den bislang von den Rebellen kontrollierten Gebieten noch schwerere Zeiten anbrechen. Da der kolumbianische Staat im Hinterland oftmals keine öffentlichen Aufgaben wahrnimmt und vielerorts feudale Strukturen vorherrschen, hatte die Guerilla die Verwaltung übernommen und die Interessen der Bevölkerung in gewissem Umfang respektiert oder sogar eine soziale Versorgung organisiert. Nun erstarken die paramilitärischen Gruppen, können Großgrundbesitzer die Kleinbauern ungezügelt drangsalieren und vertreiben, drohen Nachfolgekämpfe um die Kontrolle von Drogenanbaugebieten und Transitrouten. Das sind Folgekonsequenzen, von denen die Sonntagsredner des Friedensprozesses so wenig wissen wollen wie vom Fortbestand und Ausbau der herrschenden Verhältnisse in Kolumbien - trotz oder gerade wegen des Friedensschlusses.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/beginn-neuer-friedensverhandlungen-ein-lichtblick-fuer.1773.de.html

[2] https://www.tagesschau.de/ausland/kolumbien-eln-103.html

[3] http://www.dw.com/de/streckt-kolumbiens-eln-die-waffen/a-37398282

7. Februar 2017


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