Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

MILITÄR/803: Obamas Atomabrüstung läßt zu wünschen übrig (SB)


Obamas Atomabrüstung läßt zu wünschen übrig

USA halten eisern an den Insignien ihres Supermachtstatus fest


Ein Jahr, nachdem Barack Obama bei seinem Antrittsbesuch in Europa als George W. Bushs Nachfolger im Amt des US-Präsidenten in Prag seine Vision einer atomwaffenfreien Welt verkündet hat - was ihm einige Monate später den Friedensnobelpreis einbringen sollte -, hat er in der tschechischen Hauptstadt zusammen mit seinem russischen Amtskollegen Dmitri Medwedew einen neuen strategischen Abrüstungsvertrag unterzeichnet, der das START-Abkommen von 1991 und den Moskauer Vertrag von 2002 ersetzt. Der neue Strategic Arms Reduction Treaty sieht eine Reduzierung der stationierten amerikanischen und russischen Atomsprengköpfe von derzeit 2200 respektive 2600 auf knapp über 1500 und eine Verringerung der Trägersysteme - ballistische Raketen und Langstreckenbomber - auf jeweils 800 vor. Zwei Tage vor dem amerikanisch-russischen Gipfeltreffen hat die Obama-Regierung die neue US-Atomwaffendoktrin, welche die alte der Bush-Administration von 2002 ersetzt, der Öffentlichkeit vorgestellt.

Zusammen werden der neue START-Vertrag und die neue 72seitige Nuclear Posture Review (NPR) des Pentagons von Washington als bedeutende Schritte Richtung atomarer Abrüstung verkauft und von vielen Beobachtern, darunter auch Friedensaktivisten, als solche gedeutet. Bei näherer Untersuchung entpuppen sich die tatsächlichen Abrüstungschritte als recht bescheiden, während die Instrumentalisierung der zerstörerischsten Waffen der Welt um so heftiger ausfällt. In der neuen NPR behalten es sich die USA ausdrücklich vor, ein Land, das laut bisherigen Erkenntnissen über keine Atomsprengköpfe verfügt, nämlich den Iran, mit Kernwaffen anzugreifen, einfach weil er aus Sicht Washingtons nicht seinen Verpflichtungen als Unterzeichnerstaat des Nicht-Verbreitungsvertrages nachkommt.

Der neue START-Vertrag erlaubt den USA und Rußland, ihre aktiven Atomwaffenarsenale zu reduzieren, um die eingesparten Ressourcen in die Modernisierung ihrer strategischen Streitkräfte zu investieren. Zwar verpflichtet der Vertrag beide Seiten zu umfassenden gegenseitigen Kontrollen im militärisch-nuklearen Bereich, doch das Problem des mangelnden Vertrauens zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml bleibt bestehen. In Rußland macht man sich weiterhin Sorgen um das im Auf- und Ausbau befindliche Raktenabwehrsystem der Amerikaner und ist nicht sehr glücklich darüber, daß der neue START-Vertrag das Pentagon nicht daran hindert, im Ernstfall seine unzähligen außer Dienst gestellten Atomsprengköpfe zu reaktivieren.

Letztes Jahr ist eine unabhängige Expertenkommission, die sogenannte Jason Group, in einer Studie im Auftrag der US-Regierung zu dem Schluß gekommen, daß die amerikanischen Sprengköpfe bei regelmäßiger Wartung "auf Jahrzehnte hinaus" einsatzfähig bleiben dürften (Es überrascht daher nicht, daß Obama und die Demokraten endlich das Atomwaffenteststoppabkommen durch den US-Kongreß bringen wollen, ungeachtet der Tatsache, daß die republikanischen Hardliner und ihre Amigos bei der Rüstungsindustrie wie Frank Gaffney von der reaktionären Denkfabrik Center for Security Policy (CSP) bereits jetzt einen solchen Beschluß zum Schritt Richtung des Niedergangs Amerikas hochstilisieren). Vor diesem Hintergrund behält sich Moskau nach Angaben von Außenminister Sergej Lawrow den Austritt aus dem START-Vertrag vor, sollte sich aus seiner Umsetzung bzw. aus den laufenden rüstungstechnologischen Bemühungen der Amerikaner schwerwiegende Gefahren für die nationale Sicherheit Rußlands ergeben.

In einer Sache stellt die NPR Obamas einen gewissen Fortschritt gegenüber der von Bush jun. dar. Der Atomwaffeneinsatz gilt wieder als allerletzte Maßnahme in einer Konfliktsituation. Die Bush-Administration hatte erstmals Atomsprengköpfe zu einem Mittel unter vielen im amerikanischen Waffenarsenal gemacht und sich offen dazu bereiterklärt, sie gegebenenfalls auch gegen einen gegnerischen Staat einzusetzen, der selbst über keine Nuklearsprengköpfe verfügt, sondern lediglich auf biologische, chemische Kampfstoffe oder konventionelle Rüstung zurückgreift. Als potentielle Ziele eines amerikanischen Kernwaffenangriffs wurden damals neben den offiziellen Atommächten China und Rußland auch die sogenannten Schurkenstaaten Irak, Iran, Libyen, Nordkorea und Syrien genannt.

2003 haben die USA den Irak überfallen und Saddam Hussein, der doch nicht über irgendwelche "Massenvernichtungswaffen" verfügte, geschweige denn Verbindungen zu Osama Bin Ladens Al-Kaida-"Netzwerk" unterhielt, gewaltsam gestürzt. Im selben Jahr hat Muammar Gaddhafi auf Tripolis' bescheidenes Atomwaffenforschungsprogramm verzichtet, um sein Land endlich von den diplomatischen und wirtschaftlichen Sanktionen des Westens zu befreien. Nordkorea, der ständigen Provokationen von Bush und seinen Kriegsfalken überdrüssig, ist unter Berufung auf die offene Bedrohungslage ebenfalls 2003 aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten; 2006 und 2009 ließ die Regierung in Pjöngjang demonstrativ erste Atombombentests durchführen.

Die USA werfen dem Iran vor, unter dem Vorwand eines zivilen Kernenergieprogramms heimlich den Bau von Atomwaffen zu betreiben, und fordern von ihm, die Einstellung der Urananreicherung. Teheran, das den Vorwurf des heimlichen Atombombenbaus weit von sich weist, weigert sich, der Forderung nachzukommen, und pocht auf die Rechte des Irans als Unterzeichnerstaat des Nicht-Verbreitungsvertrages. Aus Angst vor Schikanen haben die Iraner die Wiener Atomenergieagentur (IAEA) recht spät über den Bau neuer Atomanlagen informiert. Teheran meint dennoch, den Atomwaffensperrvertrag eingehalten zu haben, denn die sechsmonatige Mindestfrist vor der Einführung von Spaltmaterial war noch nicht angelaufen. Die USA dagegen legen die Heimlichtuerei der Iraner als Verstoß gegen den Vertrag aus und bereiten eine neue, vierte Runde von Sanktionen, abgesegnet vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, vor.

Der sogenannte Atomstreit zwischen Washington und Teheran bildet den Hintergrund der neuen US-Atomwaffendoktrin. Weil die USA China und Rußland für die Verabschiedung schwerer Sanktionen gegen den Iran gewinnen wollen, kommen diese als potentielle Gegner in der neuen NPR nicht mehr vor. Das gleiche gilt für Syrien, das Washington bisher vergeblich versucht aus der Militärallianz mit dem Iran herauszuholen, um eine eventuelle kriegerische Auseinandersetzung mit der "Mullahkratie" in Teheran auf die Region um den Persischen Golf beschränken zu können. Nur die inoffizielle Nuklearmacht Nordkorea und der Iran, der über keine Nuklearsprengköpfe verfügen soll, werden als Staaten genannt, gegen die Washington den Einsatz von Atomwaffen erwägt, und zwar deshalb, weil sie angeblich den Nicht-Verbreitungsvertrag mißachten.

Die Sichtweise Washingtons strotzt nur vor Widersprüchen. Die US-Verbündeten Indien, Israel und Pakistan haben sich über die Jahrzehnte heimlich Atomwaffenarsenale zugelegt und lehnen jede Kontrolle ihrer Nuklearanlagen durch die IAEO-Inspekteure ab, doch als Staaten, die sich nicht im Einklang (non-compliant) mit den internationalen Nicht-Verbreitungsregime befinden, werden sie in der NPR des Pentagons wohlweislich nicht aufgeführt. Obama hat die Regierungschefs von 46 Ländern - Mahmud Ahmadinedschad gehört nicht dazu - für den 12. und 13. April zur großen nuklearen Abrüstungskonferenz nach Washington eingeladen. Am 17. und 18. April findet in der iranischen Hauptstadt Teheran eine ähnliche Veranstaltung unter dem Motto "Kernenergie für alle, Atomwaffen für niemanden" statt. Wäre es Obama mit der nuklearen Abrüstung ernst, würde er die Iraner beim Wort nehmen und entweder selbst an dieser Konferenz teilnehmen oder seine Außenministerin Hillary Clinton schicken.

Doch die USA denken genauso wenig, ihre Verpflichtungen nach dem Nicht-Verbreitungsvertrag zum vollständigen Abbau ihres Atomwaffenarsenals zu erfüllen, wie es die Israelis erwägen, ihren Status als einzige Nuklearmacht des Nahen Ostens aufzugeben. Folglich darf man sich nicht wundern, warum die USA auch in Obamas NPR nicht prinzipiell auf die Möglichkeit der Durchführung eines atomaren Erstschlages verzichten. Die neue Doktrin enthält dieselbe gegen den Iran gerichtete Drohung, die Bush und sein Vizepräsident Dick Cheney stets mit dem markigen Spruch "Alle Optionen sind auf dem Tisch" von sich zu geben pflegten.

8. April 2010