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MILITÄR/823: Raketenabwehr funktioniert nur in mehreren Schichten (SB)


Raketenabwehr funktioniert nur in mehreren Schichten

Militärisch-industrieller Komplex entpuppt sich als Traumfabrik


An Dreistigkeit hat es den Verfechtern des amerikanischen Raketenabwehrsystems im Pentagon, im Kongreß und bei der US-Rüstungsindustrie niemals gefehlt. Ohne diese Eigenschaft hätten sie es vermutlich niemals geschafft, ihr milliardenverschlingendes Lieblingsprojekt trotz wiederholter gescheiterter Tests und Skandale um manipulierte Anordnungsreihen seit Ronald Reagans Verkündung seiner zurecht als "Krieg der Sterne" verspotteten Strategic Defense Initiative (SDI) am 23. März 1983 bis heute am Leben zu erhalten. Kritiker des Systems haben am Anfang den Ansatz, eine ballistische Rakete mit einer zweiten abschießen zu wollen, mit dem Versuch verglichen, sich gegen eine mit hoher Geschwindigkeit nahende Gewehrkugel durch den Abschuß einer zweiten zu wehren. So etwas zu vollbringen ist in der Wirklichkeit schwer bis unmöglich und am besten Berufsmagiern wie David Copperfield überlassen, die ohnehin mit Tricks arbeiten.

Die Raketenabwehrbefürworter in den USA verkaufen ebenfalls eine Illusion, nämlich daß ihr scheinbar dauerhaft im Entwicklungsstadium befindliche System irgendwann einmal funktionieren wird. Um diese Illusion aufrechtzuerhalten, wurde zum Beispiel der Einsatz der ersten Patriot-Rakete im Golfkrieg 1991 und ihres Nachfolgemodells PAC-3 im Irakkrieg 2003 übertrieben positiv dargestellt. Das haben später unabhängige Forscher nach Auswertung der Einsatzberichte festgestellt. Das gleiche gilt für die Bemühungen der israelischen Streitkräfte im Libanonkrieg 2006, die Kurzstreckenraketen der Hisb-Allah-Miliz am Erreichen Israels zu hindern. Dessen ungeachtet läßt die Regierung Barack Obamas in Osteuropa und Kuwait sowie in Japan, Südkorea und Taiwan Patriot-Raketen-Abwehrbatterien aufstellen, welche die ballistischen Raketen des Irans und Nordkoreas abfangen sollen.

Trotz der jüngsten Mißerfolge bei Tests des Raketenabwehrsystems verbreitete der US-Armeegeneralleutnant Patrick O'Reilly, der Direktor der Missile Defense Agency (MDA) im Arlingtoner Verteidigungsministerium, am 17. August bei einem Gespräch mit Pressevertretern puren Optimismus. Über die Begegnung mit O'Reilly anläßlich eines Frühstücks der Defense Writers Group berichtete am selben Tag Elaine Wilson auf der Webseite des American Forces Press Service unter der Überschrift "General Calls Layers Key to Missile Defense Strategy". Demnach liegt der "Schlüssel" zu einer erfolgreichen Raketenabwehr in mehreren Schichten. Man benötige "verschiedene Raketensysteme, damit man, wenn das eine versagt oder überlistet wird, ein ganz anderes Raketensystem hat, um einen zweiten Schuß abfeuern zu können", so O'Reilly. Diese etwas primitive wie zugleich verkürzte Erläuterung ergänzte der MDA-Chef laut Wilson durch den Hinweis, daß es für die Rakete des Angreifers "eine große Herausforderung" sei, "durch zwei Systeme zu kommen".

Das ist natürlich alles Humbug, besonders der plumpe Versuch, die Mehrschichtigkeit einer Raketenabwehr als neue Erkenntnis zu verkaufen. Dabei war das vor einigen Jahren von National Missile Defense (NMD) System in das weniger bombastisch-chauvinistisch klingende Ballistic Missile Defense (BMD) System von vornherein mehrstufig angelegt gewesen. Es bestand im wesentlichen aus drei Abwehrsystemen: jeweils eines für die Antriebsphase, der mittleren Flugphase und der Endflugphase der feindlichen Rakete. Besonders bei Interkontinentalraketen gilt dasjenige für die Antriebsphase bis heute als das vielversprechendste, weil das abzuschießende, mehrstufige Objekt recht groß und verhältnismäßig langsam unterwegs ist. Liegt die Startrampe der feindlichen Rakete in Küstennähe, so sind die Chancen nicht schlecht, daß die Abwehrrakete ihr Ziel trifft (Natürlich ist das auch eine Situation, die man mit einem von einem Kampfjet oder einem U-Boot aus abgefeuerten Marschflugkörper erledigen könnte).

Ganz anders sieht es bei den Systemen der mittleren Flugphase und der Endflugphase aus. In beiden Fällen ist das abzuschießende Objekt klein - entweder als Rakete ohne die meisten der früheren benötigten Treibstofftanks oder als Sprengkopf - und rast mit hoher Geschwindigkeit durch die Atmosphäre. In dieser Konstellation war bisher praktisch allen Tests kein Erfolg beschieden, meistens entweder weil die X-Band-Radaranlagen oder die Sensoren der Abfangrakete versagt und diese nicht an ihr Ziel herangeführt haben. Wenn es Treffer gegeben hat, dann fast ausschließlich am Rumpf der Rakete. Die Flugbahn der Rakete wurde durch die Zerstörung ihres Rumpf zwar verändert, dennoch schlug die Sprengkopf(attrappe) in der Nähe ihres Ziels auf. Mit einem entsprechenden Bericht für die in Washington ansässige Abrüstungsorganisation Arms Control Association über diesen Mangel haben im Mai die beiden Wissenschaftler George N. Lewis und Theodore A. Postol die MDA und das Pentagon in ziemliche Verlegenheit gebracht. Dies hinderte im selben Monat den zuständigen Unterauschuß des Repräsentantenhauses jedoch nicht daran, die Ausgaben für das US-Raketenabwehrsystem im Fiskaljahr 2011 von 9,9 auf 10,3 Milliarden Dollar zu erhöhen.

Die Unterstützung der Spendenempfänger der Rüstungslobby im Kongreß erklärt daher die Zuversicht, die der MDA-Chef O'Reilly beim Frühstück mit den Washingtoner Militärkorrespondenten versprühte. Dessen Hinweis auf ein mehrschichtiges Raketenabwehrsystem läßt an dasjenige denken, mit dem die USA in den letzten Jahren unter großem finanziellen und technischen Aufwand den Staat Israel ausgestattet haben. Es besteht aus Arrow-3-Raketen, mit denen man im Ernstfall iranische Langstreckenraketen in der oberen Atmosphäre abschießen können will, aus den zum System Davids Schleuder gehörenden Abfangraketen mit einer Reichweite zwischen 70 und 250 Kilometern und aus dem System Iron Dome zum Abschuß von Flugzeugen und Raketen in einem Radius von 60 Kilometern.

Arrow-3 ist ein gemeinsames Projekt von Boeing und Israel Aerospace Industries. Die IAI hat sich in den letzten Jahren als Exporteurin von Drohnenflugzeugen einen Namen gemacht. Seit 2006 soll die Installierung des mehrschichtigen israelischen Raketenabwehrsystems dem US-Steuerzahler mindestens eine Milliarde Dollar gekostet haben. Im Juli hat der US-Kongreß weitere Investitionen in das System für das Jahr 2011 in Höhe von 422,7 Millionen Dollar - darunter 109 Millionen für die Arrow-3-Komponente - bewilligt. Sollte der Atomstreit der USA mit dem Iran tatsächlich demnächst in eine militärische Auseinandersetzung ausarten, dann wird man vielleicht erfahren, ob Israels "eiserne Kuppel"-, "Davids Schleuder"- und "Pfeil"-Systeme, allesamt Abfallprodukte von Reagans SDI, überhaupt zu etwas taugen, außer amerikanische und israelische Rüstungsbetriebe am Leben zu erhalten.

20. August 2010