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MILITÄR/933: Rüstung - die Wahrheit stirbt zuerst ... (SB)


Rüstung - die Wahrheit stirbt zuerst ...


Für die Aufkündigung des Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty von 1987 durch die USA am 2. Februar machen Politik und Medien im Westen Rußland allein verantwortlich. Demnach habe Moskau gegen den vor 42 Jahren von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichneten Vertrag, der den Besitz ballistischer Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometer verbietet, auf gröbste Weise verstoßen und zwar durch die Erforschung und Indienststellung der RS-26-Rakete - nicht in der Langstreckenversion, was völlig legal wäre, sondern in der Mittelstreckenversion. Für diese Behauptung, die erstmals 2014 von der Regierung Barack Obamas formell erhoben wurde, fehlt zumindest bis heute jeder Beweis.

Als US-Präsident Donald Trump am 1. Oktober offen mit dem Austritt Washingtons aus dem INF-Vertrag drohte, bot die russische Regierung eine eingehende Untersuchung der fraglichen Rakete durch die Rüstungsexperten des Pentagons in Moskau an, um das Abkommen doch noch zu retten. Den Vorschlag des Kremls schlugen die Amerikaner nicht nur aus, sie verlangten sogar ultimativ die Verschrottung aller Exemplare der RS-26 bis zum 1. Februar. Schlimmer noch erklärte am 2. Februar auf einer Pressekonferenz in Brüssel die US-Botschafterin bei der NATO und ehemalige republikanische Senatorin aus Texas, Kay Baily Hutchinson, in einem Akt von Hybris und Verantwortungslosigkeit, zur Not könnten die US-Streitkräfte die umstrittene Waffe der Russen einfach "ausschalten".

Seit der Ära George W. Bushs als US-Präsident beschwert sich Moskau über den Aufbau eines Raketenabwehrsystems der NATO in Osteuropa, das man bis heute als Verstoß gegen den INF-Vertrag und zugleich akute Bedrohung des russischen Westens einschließlich der beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg betrachtet. Immer wieder hat der Kreml das Weiße Haus um eine schriftliche Zusicherung gebeten, daß das ambitionierte System wie stets von Washington und Brüssel behauptet ausschließlich gegen ballistische Langstreckenraketen aus dem Iran gerichtet sei. Doch zu einer solchen vertrauensbildenden Maßnahme ist die nordatlantische Allianz niemals bereit gewesen. Statt dessen setzte sich die westliche Politik über die Einwände Wladimir Putins hinweg, und die Presse beiderseits des Atlantiks tat die Ängste der Russen als unbegründet und überzogen ab.

Nun hat Theodore Postol in einem umfassenden Artikel, der am 7. Februar auf der Website des weltweit anerkannten Bulletin of Atomic Scientists unter der Überschrift "Russia may have violated the INF Treaty. Here's how the United States appears to have done the same" ("Rußland mag gegen den INF-Vertrag verstoßen haben. Doch die Vereinigten Staaten scheinen dasselbe getan zu haben") erschienen ist, die Raketenabwehrbatterien, welche die USA in Rumänien und Polen installiert haben respektive noch installieren, unter die Lupe genommen. Er kam zu dem Schluß, daß Rußland mit seinen Verdachtsmomenten der NATO gegenüber richtig liegt. So wie die Anlagen und die dazu gehörigen Raketen aufgestellt sind, strafen sie laut Postol dem im INF-Vertrag innewohnenden Versprechen der USA auf Nicht-Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa und damit in unmittelbarer Nähe der russischen Westgrenze Lügen.

Auch wenn die hiesigen Medien den erbrachten Beweis der Doppelzüngigkeit der NATO ignorieren, hat Postols Urteil unter Fachleuten, die von der Materie etwas verstehen, Gewicht. Der 72jährige emeritierte Professor für Wissenschaft, Technologie und internationale Sicherheit am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat früher als Nuklearphysiker am Nationallabor Argonne und später als wissenschaftlicher Berater des Chief of Naval Operations, des Stabchefs der US-Marine im Pentagon, gearbeitet. In letztgenannter Funktion trug er erheblich zur Modernisierung der US-Kriegsflotte samt der dazugehörigen Raketen- und Raketenabwehrtechnologie bei.

Ungeachtet oder vielleicht gerade wegen seiner Position hat sich der 1946 geborene Postol zum vielleicht schärfsten internen Kritiker im US-Militärapparat entwickelt. Nach dem Golfkrieg 1991 analysierte er quasi im Alleingang die technischen Daten der tatsächlich erbrachten Leistung der Patriot-Rakete bei der Abwehr irakischer Scud-Raketen und entlarvte die vom Pentagon angegebene Erfolgsquote als vollkommen übertrieben und damit falsch. Demnach lag sie nicht bei 97 Prozent, wie von Präsident George Bush sen. im Kriegsrausch behauptet, sondern laut Postol bei "weniger als zehn Prozent, eventuell sogar bei Null".

Seit George Bush jun., Dick Cheney und Donald Rumsfeld im Jahr 2001 mit dem hochambitionierten Aufbau eines Raketenabwehrsystems begonnen haben, das das US-Festland und Hawaii vor - wohlgemerkt nicht einmal existierenden - Interkontinentalraketen Nordkoreas und des Irans schützen sollte, prangert Postol das Projekt als Subvention für die amerikanische Rüstungsindustrie und Betrug am Steuerzahler an, weil die Abfangraketen die erwünschte Zielgenauigkeit niemals erreichen werden und die echten gegnerischen Sprengköpfe von den mitausgesandten Attrappen im Ernstfall unmöglich zu unterscheiden sein dürften. Bereits Mitte der neunziger Jahre hat Postol Nira Schwartz, einer Ingenieurin, die das Frisierung von Testdaten bei den Raketenabwehrsensoren durch die Herstellerfirma TRW enthüllte, öffentliche Rückendeckung verschafft.

2009 revidierte die Regierung des frischgewählten Barack Obama, der George W. Bushs Verteidigungsminister, Ex-CIA-Chef Robert Gates, einfach übernommen hatte, das geplante Raketenabwehrsystem der NATO in Osteuropa grundlegend. Statt neue Abfangraketen von der Sorte, welche die Vorgängeradministration in Alaska stationieren ließ, sollten in Rumänien und später in Polen SM-3-Raketenbatterien des Aegis-Systems der US-Marine installiert werden. Postol gilt schon länger als Skeptiker, was die Funktionsfähigkeit der SM-3-Rakete betrifft, und hat schon damals die Entscheidung des Weißen Hauses für eine landgestützte Übernahme des Raketensystems der Klasse des Aegis-Lenkwaffenzerstörers als verfehlt bezeichnet.

In seinem neuen Artikel für das Bulletin of Atomic Scientists geht Postol mit der NATO und den USA scharf ins Gericht. Demnach kann die SM-3-Rakete aufgrund ihrer kurzen Reichweite niemals die ihr zugedachte Aufgabe erfüllen, ballistische Interkontinentalraketen des Irans in großer Höhe und mit hoher Geschwindigkeit vor dem Einschlag auf Ziele in Nordamerika abzufangen. Von daher war nach Ansicht Postols Obamas und Gates' Entscheidung für den auf vorhandene Aegis-Technologie basierenden European Phased Adaptive Approach (EPAA) von Anfang an eine reine Mogelpackung.

Mit der Schutzbehauptung der Kriegsplaner im Pentagon und in Brüssel, die Silos der Aegis-Batterien in Osteuropa seien ausschließlich für die gegen feindliche Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie Satelliten in niedriger Höhe ausgerichtete SM-3-Rakete gedacht und könnten nur mit großem technischen Aufwand als Abschußvorrichtung für den Tomahawk-Marschflugkörper - der sich bekanntlich auch als Mittel- und Langstreckenwaffe zum Transport von Atomsprengköpfen eignet - umfunktioniert werden, räumt Postol gnadenlos auf. Er vergleicht das Aegis-Silo mit einem PC. Genau wie der herkömmliche Computer jeden USB-Stick auf Anhieb erkennt und mit ihm kommuniziert, passen SM-3-Rakete und Tomahawk unterschiedslos in den Aegis-Silo, werden von ihm mit Zieldaten gespeist und können im Notfall auch abgefeuert werden. Als wissenschaftlicher Berater der US-Marine kennt sich Postol mit dem Tomahawk aus, gehört der Marschflugkörper doch seit 1983 zur Standardausrüstung der amerikanischen Kriegsflotte. Seinen höchst empfehlenswerten Artikel beim Bulletin of Atomic Scientists schließt Postol mit folgendem an die Adresse aller Beteiligten gerichteten Aufruf zur Vernunft (in der Übersetzung der SB-Redaktion):

Die politische Lage zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland ist gefährlich - möglicherweise so gefährlich wie noch nie - und es gibt mit Sicherheit Gründe für den Westen, sich Sorgen um das russische Verhalten, einschließlich eines möglichen Verstoßes gegen den INF-Vertrag, zu machen. Doch die Vereinigten Staaten sowohl unter demokratischer als auch republikanischer Führung weisen eine lange Geschichte der sinnlosen politischen Entscheidungen zum Einsatz ineffektiver Raketenabwehrsysteme auf - Entscheidungen, die sie dann mittels Desinformation zu rechtfertigen versuchen, selbst wenn technische und militärische Experten diese leicht durchschauen können.

Daß sich die USA routinemäßig auf falsche Behauptungen in bezug auf Raketenabwehrsysteme verlassen und die westliche Presse diese unhinterfragt weiter verbreitet, trägt zu einer Situation bei, in der fremde Mächte, Freunde und Feinde, zurecht dem Wort amerikanischer Politiker und Militärs mißtrauen. Die Ausblendung der faktischen Realität hat zum drohenden Niedergang des INF-Vertrags beigetragen. Den INF-Vertrag zu retten oder ihn durch ein anderes Abkommen zu ersetzen, das die extrem destabilisierende Verbreitung von Mittelstreckenraketen eingrenzt, erfordert, daß sowohl die USA als auch Rußland ihre Bemühungen zur Entwicklung und Indienststellung solcher Raketen offenlegen müssen. Die Realität nicht anzuerkennen ist eine schlechte Strategie zur Erhöhung der Sicherheit der USA oder Rußlands und trägt zu einer Art von Rüstungskontrolle, die einen Atomkrieg unwahrscheinlicher macht, nicht gerade bei.

12. Februar 2019


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