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NAHOST/1015: Israel kommt mit neuer Rolle der Türkei schwer klar (SB)


Israel kommt mit neuer Rolle der Türkei schwer klar

Ankaras neues Selbstbewußtsein stellt Tel Aviv vor Probleme


Ungeachtet der am 2. August bekanntgegebenen Entscheidung Tel Avivs, doch noch mit der internationalen Kommission zusammenzuarbeiten, die im Auftrag des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen den Überfall der israelischen Marine auf den Gaza-Hilfskonvoi in den frühen Morgenstunden des 31. Mai im östlichem Mittelmeer untersuchen soll, ist eine schnelle Besserung der Beziehungen Israels zur Türkei nicht in Sicht. Bei dem Überfall wurden neun türkische Männer, von denen einer neben der türkischen Staatsbürgerschaft auch noch die der USA besaß, durch Schüsse israelischer Marinesoldaten getötet. Zur Bedingung einer Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen verlangt die Türkei eine Entschuldigung von der israelischen Staatsführung. Dies zu leisten, weigert sich die Regierung in Tel Aviv, für die das Aufbringen des Gaza-Schiffskonvois ein legitimer Akt der Selbstverteidigung war, bislang kategorisch. Für Israel, dessen politische und militärische Elite seit einiger Zeit mehr oder weniger offen damit droht, einen Überraschungsangriff auf den Iran wegen dessen Kernenergieprogramm durchzuführen, um das "Mullah-Regime" am Erlangen des Status einer auch nur virtuellen Atommacht zu hindern, wird die Eigenständigkeit Ankaras immer mehr zum Problem.

Nichts zeigt dies besser als der jüngste Zwist der sich entfremdeten NATO-Verbündeten über die Ernennung Hakan Fidans, des ehemaligen politischen Beraters von Premierminister Recep Tayyip Erdogan, zum neuen türkischen Geheimdienstchef. Am 2. August wurde Gaby Levy, der israelische Botschafter in Ankara, ins türkische Außenministerium wegen einer Rede einbestellt, in der Israels Verteidigungsminister, General a. D. Ehud Barak, Fidan als einen "Freund Irans" bezeichnet und die Übernahme der Leitung des Nationalen Nachrichtendienstes (MIT) der Türkei durch ihn zur Gefährdung der Zusammenarbeit beider Staaten in Sicherheitsfragen hochstilisiert hatte. Zuvor waren im israelischen Armeerundfunk Ausschnitte aus der Rede ausgestrahlt worden, die Barak am 25. Juli hinter verschlossenen Türen vor Mitgliedern der israelischen Arbeiterpartei, deren Vorsitzender er ist, gehalten hatte. In dem ausgestrahlten Ausschnitt, der die Proteste Ankaras auslöste, hatte der ehemalige israelische Premierminister Fidan mehr oder weniger als Maulwurf Teherans dargestellt: "Wir haben den Türken nicht wenige unserer Geheimnisse anvertraut, und der Gedanke, daß sie den Iranern in den kommenden Monaten offengelegt werden könnten, ist, sagen wir es mal so, recht beunruhigend."

Bereits als Fidan Ende Mai türkischer Geheimdienstchef wurde, waren Mißtöne aus Israel zu vernehmen. Am 6. Juni veröffentlichte die linksliberale israelische Tageszeitung Ha'aretz ein Profil Fidans, das keinerlei konkrete Informationen enthielt, welche die reißerische Überschrift "Israel worried by new Turkey intelligence chief's defense of Iran", zu deutsch "Israel besorgt über Verteidigung des Irans durch den neuen türkischen Geheimdienstchef", gerechtfertigt hätten. Offenbar reichen aus israelischer Sicht die Tatsachen, daß Fidan Erdogans islamischer Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) nahesteht, letztes Jahr als türkischer Vertreter bei der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) auf das Recht des Irans als Unterzeichnerstaat des Nichtverbreitungsvertrags auf die "friedliche Nutzung" der Kernkraft hinwies und zusammen mit Außenminister Ahmed Davutoglu und den Vertretern Brasiliens einen Uranaustauschplan ausgearbeitet hat, der eine friedliche Beilegung des sogenannten "Atomstreits" ermöglichen sollte, um zum "Freund" oder "Verteidiger" des Irans abgestempelt zu werden.

Ein solcher Begriff könnte den Eindruck erwecken, der 42jährige Fidan wäre vielleicht ein radikaler Moslem, der einen Großteil seines Erwachsenenlebens als Koranschüler in der iranischen Pilgerstadt Qom verbracht hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Der neue MIT-Direktor hat 15 Jahre lang beim türkischen Militär gedient, seinen Bachelor an der Universität von Maryland in den USA und anschließend in Ankara den Master und Doktortitel erworben. Für seine Dissertation schrieb er eine vergleichende Analyse der Geheimdienststrukturen der USA, Großbritanniens und der Türkei. Er gilt als Befürworter einer Aufspaltung des MIT in einen Inlands- und einen Auslandsgeheimdienst ähnlich dem britischen MI5 und MI6 und könnte daher als demokratischer Reformer bezeichnet werden.

Nichtsdestotrotz wird Fidan im besagten Ha'aretz-Artikel zusammen mit Erdogan und Außenminister Davutoglu als Mitglied eines mächtigen Triumvirats in Ankara gezeichnet, das "die gezielte Veränderung der Beziehungen zwischen Israel und der Türkei ... orchestriert" hätte. Als Paradebeispiel dieser Veränderung wird die Unterstützung der türkischen Regierung für den Gaza-Hilfskonvoi angeführt, ganz als seien Fidan, Erdogan und Davutoglu und nicht die israelischen Behörden für den gewaltsamen Tod der neun Passagiere der Fähre Mavi Marmara verantwortlich gewesen. Gleichwohl räumt der Artikelautor Amir Oren ein, daß es "keine konkreten Hinweise auf eine Verwicklung Fidans in den Vorfall oder etwaige Verbindungen zur IHH, der Gruppe, welche die Flotille organisiert hat, gibt".

Worüber regt sich dann Ehud Barak auf und weshalb läßt er seine, hauptsächlich auf Vermutungen und Spekulationen begründeten Verdächtigungen in Bezug auf Fidan über die Medien lancieren? Die Worte des israelischen Verteidigungsministers, nämlich die Befürchtung "in den kommenden Monaten" könnte Ankara mit dem Iran Geheimdienstinformationen über Israel austauschen, verraten es. Israel bereitet derzeit einen Angriff auf den Iran vor und will nicht, daß sich die Türkei querstellt. In Tel Aviv ist man vermutlich verärgert darüber, daß Erdogan am 27. Juni den türkischen Luftraum für Maschinen der israelischen Luftwaffe gesperrt hat. Als die Israelis 2007 einen Komplex im Norden Syriens mit Bomben und Raketen aus der Luft angegriffen, von dem sie später behaupteten, es hätte sich um einen geheimen, im Bau befindlichen Atomreaktor gehandelt, durchquerten sie den türkischen Luftraum, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Ob der Angriff mit dem türkischen Militär abgesprochen war, wissen nur die Verantwortlichen in Ankara und Tel Aviv.

Durch die Sperrung des türkischen Luftraums hat Erdogan jedenfalls die israelischen Kriegsvorbereitungen erheblich erschwert. Die Türken machen seit einiger Zeit klar, daß sie nicht mehr bereit sind, Israels militärische Muskelspiele im Nahen Osten mitzutragen. Deshalb wird in den israelischen Medien der neue türkische Geheimdienstchef dem Verdacht ausgesetzt, ein Handlanger Teherans zu sein. Die These ist dennoch ungefähr so plausibel wie die abstrusen Verschwörungstheorien der pro-israelischen Neokonservativen in den USA in den ersten Tagen nach dem Überfall auf dem Gaza-Hilfskonvoi, die Türken hätten in einem Anflug neo-osmanischer Hybris dem Westen den Rücken gekehrt und wären der "Achse des Bösen" aus Syrien, dem Iran, der libanesischen Hisb Allah und der palästinensischen Hamas beigetreten.

5. August 2010