Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1067: NATO zieht die Lockerbie-Karte gegen Gaddhafi (SB)


NATO zieht die Lockerbie-Karte gegen Gaddhafi

Propagandakrieger des Westens hören nicht auf zu lügen


Wie man spätestens seit den Tagen Adolf Hitlers weiß, müssen Propagandalügen vollkommen überzogen sein, um den Kriegsgegnern quasi die Menschlichkeit abzusprechen und sie als Bestien darzustellen, damit bei der Bevölkerung niemand mehr für sie Sympathie empfindet, wenn man sie in großer Zahl tötet. Das, was man dem Feind vorwirft, muß weit über das, wozu der normale Mensch sich für fähig hält, hinaus gehen, damit er sich in Abscheu von dem Gegner abwendet und ihn nicht mehr als Seinesgleichen erkennt.

Als sich zum Beispiel die USA und ihre Verbündeten im Herbst 1990 anschickten, die Iraker aus Kuwait zu vertreiben, haben amerikanische Werbefachleute einfach das Märchen in die Welt gesetzt, Saddam Husseins Truppen hätten nach dem Einmarsh ins Nachbarland im Zentralkrankenhaus von Kuwait-Stadt Brutkästen gestohlen, nachdem sie zuvor die Frühgeborenen herausgenommen und zum Sterben einfach auf den Boden geworfen hätten. Angesichts einer solchen - virtuellen - Schreckenstat nahm im Westen lediglich eine Minderheit daran Anstoß, als im Frühjahr 1991 bei der Operation Wüstensturm die zivile Infrastruktur des Iraks zerstört und zahlreiche Zivilisten getötet wurden, während irakische Soldaten zu Tausenden in ihren Schützengräben von amerikanischen Planierraupen lebendig begraben oder sogar nach der Verkündung des offiziellen Waffenstillstands beim Rückzug aus Kuwait auf der sogenannten "Straße des Todes" völkerrechtlich illegal massakriert wurden. Für diese grausame Episode erfanden die daran beteiligten US-Militärs scherzhaft-prahlerisch den Begriff "turkey shoot". Erst im Frühjahr 1999 im Kosovo-Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien wurde die PR-Lüge von den "Brutkastenbabys" übertroffen. Damals versuchte der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping der Weltöffentlichkeit weiszumachen, serbisch-jugoslawische Soldaten Slobodan Milosewic' hätten mit dem Kopf eines getöteten kosovo-albanischen Kinds Fußball gespielt bzw. eine schwangere Frau ermordet, ihr ungeborenes Kind aus dem Leib gerissen, es aufgespießt und gegrillt, bevor sie es wieder in die Gebärmutter hineinschoben.

Seit fast drei Wochen befindet sich die NATO wieder im Krieg, diesmal mit Libyen. Auch wenn der offizielle Auftrag des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen lediglich Schutz der Zivilbevölkerung lautet, besteht für niemanden Zweifel, daß das eigentliche Ziel der Operation Odyssey Dawn der Sturz Muammar Gaddhafis und ein "Regimewechsel" in Tripolis ist. Ein Propagandaargument, das zunehmend wichtiger wird, je länger der von der NATO angeheizte Bürgerkrieg zwischen den regulären libyschen Streitkräften und den Rebellen im Osten des Landes andauert und je mehr sich die Eingangsthese der westlichen Interventionisten vom angeblich drohenden Völkermord an der Zivilbevölkerung als überzeichnet entpuppt, um so wichtiger wird die These von der Verwicklung Gaddhafis in den Lockerbie-Anschlag. Sollten sich alle anderen Vorwürfe als haltlos oder übertrieben erweisen, wird die Behauptung, der libysche Revolutionsführer habe den schwersten "Terrorangriff" der britischen und europäischen Geschichte zu veranworten und sei damit quasi ein Massenmörder, die Forderung nach dem Rücktritt Gaddhafis von der Macht begründen.

Dies hat der frühere libysche Justizminister Mustafa Abdel Jalil als erster erkannt und deshalb am 23. Februar, gleich nach dem Wechsel zur Opposition, gegenüber der schwedischen Zeitung Expressen erklärt: "Ich habe Beweise, daß Gaddhafi den Befehl für Lockerbie gab." Es sollte sich für Abdel Jalil lohnen, indirekt der damals besonders von den Regierungen David Camerons in Großbritannien und Nicolas Sarkozys in Frankreich erhobenen Forderung nach einer internationalen Militärintervention in Libyen zusätzlichen Auftrieb verschafft zu haben. Als kurz danach die aus Monarchisten, Islamisten, Stammeskämpfern, Wendehälsen und CIA-Kontaktleuten bestehende Rebellenbewegung ihren Nationalen Übergangsrat gründete, wurde Abdel Jalil zu dessen Vorsitzenden. Am 11. März hat Frankreich als erster Staat dieses Gremium als einzige legitime Regierung Libyens anerkannt.

Doch es sind hauptsächlich die Medien in Großbritannien und den USA, woher die meisten Opfer des Lockerbie-Anschlages stammen, die dieses Thema am Kochen halten. Einen besonderen Erfolg wollten die Vertreter der These der Verantwortung Gaddhafis für jenes Verbrechen am 31. März für sich verbuchen, als sich der libysche Außenminister Mussa Kussa nach England absetzte. Kussa, der jahrelang als einer der engsten Vertrauten Gaddhafis galt, hat sich von diesem inzwischen offiziell abgewandt und um Asyl in Großbritannien gebeten. Der ehemalige Chef des libyschen Geheimdienstes wird seit seiner Ankunft in Großbritannien von Vertretern des Außenministeriums und des Auslandsgeheimdienstes MI6 an einem unbekannten Ort vernommen. Am 7. April wurden Vertreter der schottischen Polizei, die für den Fall Lockerbie zuständig sind, zu Kussa zugelassen, um mit ihm darüber zu sprechen. In der britischen und amerikanischen Presse werden Erwartungen geweckt, Kussa könnte endlich "die Wahrheit" über die Hintergründe des Lockerbie-Anschlages sagen und den endgültigen Beweis für die Schuld Gaddhafis erbringen.

Entgegen dem von den westlichen Medien erzeugten Eindruck gibt es überhaupt keinen Anlaß, von Kussa oder Abdel Jalil Erhellendes zum Thema Lockerbie zu erwarten. Das Gegenteil ist der Fall. Kussa hat lediglich eine wichtige Rolle gespielt, als Tripolis den mutmaßlichen Bombenleger Abdul Barsit Al Megrahi, ein Mitglied des libyschen Geheimdienstes, an ein schottisches Sondergericht im niederländischen Camp Zeist ausgeliefert hat - wo dieser 2001 schuldig gesprochen wurde - und im Sommer 2009, als derselbe Mann aufgrund einer Krebserkrankung aus einem Gefängnis in Schottland freigelassen wurde und in seine Heimat zurückkehren durfte. Das heißt aber noch lange nicht, daß Kussa etwas Genaues über den Lockerbie-Anschlag weiß.

In einem Artikel, der am 2. April bei der konservativen britischen Zeitung Daily Telegraph erschienen ist, heißt es unter Verweis auf Regierungsdokumente, Kussa habe zugestimmt, daß Megrahi, der stets seine Unschuld beteuert hat, im Falle der Freilassung auf seine Berufung gegen das Urteil von 2001 verzichten würde, vermutlich "weil er nicht wünschte, daß weitere Details über den Anschlag vor Gericht öffentlich" wurden. Hier haben wir es mit einer Spekulation des Telegraphs, der den Leser in ganze falsche Richtung weisen sollte, zu tun.

Zum Zeitpunkt seiner Abschiebung nach Libyen stand Megrahi kurz davor, einen neuen Prozeß zu bekommen, bei dem er sehr gute Chancen gehabt hätte, seine Unschuld zu beweisen. 2007 hatte die Scottish Criminal Cases Review Commission (SCCRC) nach einer vierjährigen Untersuchung einen 800seitigen Bericht veröffentlicht, in dem sie zahlreiche Aspekte des ursprünglichen Urteils für mangelhaft erklärte und einen neuen Prozeß empfahl. Im selben Jahr hat Ulrich Lumpert, ein ehemaliger Angestellter des Schweizer Elektronikunternehmens Mebo, in einer gegenüber den französischen Justizbehörden geleisteten, eidesstattlichen Erklärung zugegeben, Vertretern der angloamerikanischen Geheimdienste jenen Zeitzünder ausgehändigt zu haben, von dem später beim Lockerbie-Prozeß im Camp Zeist die Staatsanwaltschaft ein verkohltes Überbleibsel als das in den Flugzeugtrümmern gefundene, entscheidende Beweismittel vorlegte.

Im vergangenen Dezember hat der britische Außenminister William Hague verfügt, daß besagter SCCRC-Bericht unter Verschluß bleiben und es keine neue öffentliche Untersuchung des Lockerbie-Falls, wie von den britischen Opferfamilien gefordert, geben wird. Zur Begründung seiner Entscheidung erklärte Hague, die Einrichtung einer Untersuchungskommission in Sachen Lockerbie läge "nicht im öffentlichen Interesse". Hier verwechselt Hague die Interessen der Öffentlichkeit mit denen der Sicherheitsapparate in London und Washington, die seit Jahren davon abzulenken versuchen, daß nicht Libyen, sondern eine palästinensische Gruppe, das PFLP-GC, im Auftrag des Irans per Bombe den Pan-Am-Jumbo "Maid of the Seas" am 20. Dezember 1988 über dem schottischen Ort Lockerbie zur Explosion brachte. Es kamen dabei 253 Insassen der Maschine sowie 17 Bewohner Lockerbies, die von herunterfallenden Trümmerteilen getroffen wurden, ums Leben.

Man vermutet, daß der Iran den Anschlag als Retourkutsche für den Abschuß einer iranischen Pilgermaschine im Sommer 1988 über dem Persischen Golf durch den US-Lenkwaffenzerstörer Vincennes durchführen ließ. Als jedoch die irakische Armee im August 1990 Kuwait eroberte und die USA eine Streitmacht nach Saudi-Arabien verlegte, um sie zu vertreiben, haben London und Washington die Ermittlungen gegen PLFP-GC und die Regierung in Teheran fallengelassen. Das war der Preis dafür, daß sich der Iran aus dem Golfkrieg heraushielt und Saddam Hussein seinen westlichen Gegnern überließ. Nach dem Abhandenkommen der eigentlichen Hauptverdächtigen im Fall Lockerbie haben CIA, FBI und MI6 Libyens Gaddhafi, der ohnehin im Ruf, ein "Terrorpate" zu sein, stand, aus dem Hut gezaubert. Die Äußerungen Abdel Jalils und Kussas zu Lockerbie sollte man daher mit Vorsicht genießen. Man könnte ihnen eine gewisse Plausibität einräumen, sollten sie erklären können, wie Megrahi es geschafft haben soll, daß der Bombenkoffer nach der angeblichen Abgabe auf dem Flughafen Luqa auf Malta durch Megrahi ohne Begleitung über Frankfurt und wiederum über den Londoner Heathrow den Weg in den Gepäckraum der 747 "Maid of the Seas" fand. Das hat bisher niemand geschafft und wird auch vermutlich niemand schaffen, denn die These von der libyschen Verantwortung für Lockerbie ist niemals etwas anderes als inoffizielle Kriegspropaganda gewesen.

8. April 2011