Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1084: Ex-Mossad-Chef Dagan rät vom Krieg gegen den Iran ab (SB)


Ex-Mossad-Chef Dagan rät vom Krieg gegen den Iran ab

Premierminister Benjamin Netanjahu sieht sich in der Kritik


Gleich zwei schwere Dämpfer haben in den vergangenen Tagen diejenigen in den USA und Israel, die das iranische Atomprogramm zu einer inakzeptablen, so rasch wie möglich zu beseitigenden Bedrohung des Weltfriedens aufbauschen, hinnehmen müssen. In der jüngsten Ausgabe des New Yorker, die auf dem 6. Juni datiert, jedoch bereits am 31. Mai im Internet erschienen ist, hat der Pulitzerpreisträger Seymour Hersh enthüllt, daß die US-Geheimdienste ungeachtet der Auswertung aller Daten und mehrerer ausgeklügelten Ausspähaktionen im Iran selbst bis heute keine stichhaltigen Beweise haben zutage fördern können, daß die Iraner parallel zu ihrem zivilen Kernenergieprogramm heimliche Atomwaffenforschungen betreiben. Auf einer Konferenz in Tel Aviv hat am 1. Juni Meir Dagan, der ehemalige Leiter des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, von einem Luftangriff auf die iranischen Atomanlagen abgeraten, weil eine solche Maßnahme einen Regionalkrieg nach sich zöge, der für den Staat Israel existenzgefährdend wäre.

Bereits am 7. Mai hatte Dagan auf einer Konferenz an der Hebrew University in Jerusalem bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seit dem Rücktritt als Mossad-Chef im vergangenen Januar die Vorstellung, die israelische Luftwaffe könnte mit einem Überraschungsangriff die iranischen Nuklearanlagen zerstören und das Atomprogramm der Islamischen Republik stoppen, als "das Dümmste, was ich jemals gehört habe," bezeichnet. Mit diesem Spruch hatte er weltweit für Schlagzeilen gesorgt und die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu, der bekanntlich seit Jahren den Oberfalken in der Iran-Frage markiert, in Verlegenheit gebracht. Mit der jüngsten Stellungnahme hat Dagan seinen Warnungen zusätzlichen Nachdruck verliehen.

Wohlwissend, daß sich für einen ehemaligen leitenden Staatsbeamten solche Kritik an der aktuellen Regierungspolitik nicht ziemt, hat Dagan seine Ausführungen damit begründet, er könne es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, daß sich eine ähnliche Katastrophe wie beim Nahostkrieg 1973 wiederholte. Damals hatte die Regierung in Tel Aviv Warnungen der eigenen Militärs vor einer bevorstehenden Offensive der ägyptischen und syrischen Armeen im Sinai respektive auf den Golanhöhen ignoriert, was nach Ausbruch der Feindseligkeiten zu hohen Verlusten auf israelischer Seite führte. Mit einem Seitenhieb an die Adresse Netanjahus und Ehud Baraks erklärte Dagan laut einer Abschrift der Nachrichtenagentur Associated Press: "Ich fühle mich verpflichtet, meine Meinung zu bestimmten Themen kundzutun. Der Premierminister und der Verteidigungsminister haben zwar das Sagen, doch manchmal haben sinnvolles Handeln und gute Entscheidungen nichts mit dem Gewinnen von Wahlen zu tun."

Unumwunden stellte Dagan, der während seiner Zeit beim Mossad als absoluter Hardliner galt, fest, daß Israel "nicht die Fähigkeit, das iranische Atomprogramm zu stoppen, sondern lediglich zu verzögern" habe und fügte folgende Überlegungen hinzu: "Der Krieg wird sich nicht auf den Iran beschränken, sondern zu einem Regionalkrieg werden, und in dem Fall hätte man dem Iran den bestmöglichen Grund geliefert, das Atomprogramm fortzusetzen. ... Ich rate dem Premierminister dazu, keinen Angriffsbefehl zu erteilen. ... Wenn jemand ernsthaft einen Angriff in Betracht zieht, muß er verstehen, daß er Israel in einen Regionalkrieg zieht, aus dem heraus es den Weg schwer wieder fände. Die Sicherheitsanforderung würde unerträglich werden. ... Die militärische Option ist die letzte Alternative, nicht die bevorzugte oder eine mögliche, sondern die allerletzte Option. Jede andere Alternative muß vor dem Einsatz von Gewalt erwogen werden."

Dagan beließ es nicht bei einer Kritik an der Iran-Politik Netanjahus, sondern bezog auch noch Position gegen den bisherigen Umgang Tel Avivs mit den Palästinensern. Unter Netanjahu forcieren die Israelis im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem den Bau jüdischer Siedlungen und machen damit alle Bemühungen der Regierung von US-Präsident Barack Obama um eine Wiederbelebung des sogenannten Nahost-Friedensprozesses zunichte. Ungeachtet der vor wenigen Wochen unter der Vermittlung Ägyptens zustandegekommenen Versöhnung zwischen Fatah und Hamas erklärte Dagan: "Ich befürworte eine diplomatische Initiative gegenüber den Palästinensern. Sie sind hier, und eine Verständigung mit ihnen sollte erreicht werden. Wenn wir nichts anbieten und einfach abwarten, könnten wir es mit einer Situation zu tun bekommen, in der uns Sachen aufgezwungen werden. Wenn es um die Wahl zwischen Initiative und Zwang geht, bevorzuge ich die Initiative."

4. Juni 2011