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NAHOST/1142: Krisenherd Irak destabilisiert die ganze Region (SB)


Krisenherd Irak destabilisiert die ganze Region

Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten nehmen zu



An diesem Tag sollte in Syrien der sechs Punkte umfassende Friedensplan Kofi Annans, des ehemaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, greifen. Demnach sollten die syrischen Streitkräfte ihre schweren Waffen aus allen Städten des Landes bis zehn Uhr morgens Ortszeit abgezogen haben. In den darauffolgenden 48 Stunden wäre dann im ganzen Land zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und bewaffneten Gegnern der Regierung in Damaskus um Präsident Baschar Al Assad eine Feuerpause in Kraft getreten. Aufgrund der Heftigkeit der Kämpfe am 9. April, die zudem erstmals über die Grenze Syriens in die Türkei, wo zwei Flüchtlinge im Gewehrfeuer starben, und in den Libanon, wo ein Kameramann erschossen wurde, übergriffen, haben westliche Spitzendiplomaten bereits jetzt den Annan-Friedensplan für gescheitert erklärt. Die nächste Eskalationsstufe - offene anstelle der bisher versteckten Unterstützung des Auslands für die Rebellen der "Freien Syrischen Armee" (FSA) sowie Luftangriffe der NATO - scheint vorprogrammiert zu sein.

Recht schnell wurden die letztjährigen, zunächst friedlichen Proteste in Syrien gegen das seit 1963 vorherrschende Ein-Parteien-Regime der Baath-Partei von denjenigen gekapert, die Damaskus seit langem aus seiner Allianz mit dem schiitischen Iran und der ebenfalls schiitischen Hisb-Allah-Bewegung des Libanons herauszulösen trachten. Hierzu gehören in erster Linie Saudi-Arabien, das sich als Sachwalter des sunnitischen und damit einzigen "wahren" Islams betrachtet, und die Weltmacht USA. Sowohl Riad als auch Washington haben sich bis heute nicht mit der Tatsache abgefunden, daß im Irak seit dem gewaltsamen Sturz des Baath-"Regimes" des Sunniten Saddam Hussein infolge der angloamerikanischen Invasion im Frühjahr 2003 pro-iranische Schiiten das Sagen haben. Der Groll darüber, daß ausgerechnet die Mullahs in Teheran am meisten vom "Regimewechsel" in Bagdad profitieren, sitzt bei den Saudis und Amerikanern offenbar so tief, daß diese bereit sind, Syrien in einen blutigen Bürgerkrieg zu stürzen, um am geopolitischen Schachbrett einen halbwegs angemessenen Abtausch zu erzielen.

Als sich die ausländischen Streitkräfte im Irak 2004 mit einem wachsenden, mit konventionellen Mitteln nicht zu bezwingenden Aufstand konfrontiert sahen, haben Pentagon und CIA erfolgreich zur sogenannten "Salvador-Option" gegriffen. Mittels "terroristischer" Bombenanschläge und Überfälle gegen Sunniten und Schiiten hat man die Milizen der beiden größten Religionsgemeinden des Iraks dazu gebracht, von den Besatzungstruppen abzulassen und hauptsächlich Glaubensbrüder der anderen Konfession umzubringen. In den Jahren 2005 und 2006 folgte ein blutiges Gemetzel, das Hunderttausenden Menschen das Leben kostete, Millionen zu Flüchtlingen im In- und Ausland machte und dessen Grausamkeit das gesellschaftliche Miteinander im Zweistromland nachhaltig gestört hat.

Bis heute ist der Irak nicht richtig zur Ruhe gekommen. Jeden Tag fallen Menschen im Kugelhagel oder werden von einem Bombenanschlag in den Tod gerissen. Die interkonfessionelle Regierung in Bagdad befindet sich seit Ende letzten Jahres endgültig in der Krise, nachdem der schiitische Premierminister Nuri Al Maliki gleich am Tag nach dem Abzug der letzten US-Soldaten einen Haftbefehl gegen den Stellvertretenden irakischen Präsidenten, Tarek Al Haschemi, ausstellen ließ. Haschemi, dem vorgeworfen wird, sunnitische Todesschwadrone geführt und einen Staatsstreich geplant zu haben, war daraufhin in den Norden des Iraks geflohen, wo er seitdem den Schutz der kurdischen Autonomiebehörden genießt. Er weist alle Vorwürfe von sich und weigert sich aus Angst um sein Leben, nach Bagdad zurückzukehren und sich der Justiz dort zu stellen.

Aus Verärgerung darüber, daß die Zentralregierung in Bagdad einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Erlöse aus dem Ölexport für sich behält, haben die Kurden vor einigen Tagen alle Öllieferungen aus dem irakischen Norden gestoppt. Nach einem Treffen mit US-Präsident Barack Obama am 5. April im Weißen Haus hat Massud Barsani, Präsident des kurdischen Autonomiegebiets Nordirak, der arabischen Zeitung Al-Hayat ein Interview gegeben, in dem er Maliki heftig dafür kritisierte, nicht nur Premierminister, sondern auch "Verteidigungsminister, Innenminister, Geheimdienstchef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte" in einem zu sein. Barsani warnte vor einer erneuten Diktatur im Irak und drohte für diesen Fall mit der Unabhängigkeit Kurdistans vom restlichen Land. Kurz zuvor hatte sich Ex-Premierminister Ijad Allawi, der, obwohl selbst Schiite, auch Chef der größten sunnitischen Gruppierung Al Iraqiya ist, in einem Brief an Präsident Jalal Talabani darüber beschwert, daß Maliki Tausende seiner politischen Gegner willkürlich verhaften und foltern ließ.

Währenddessen ist Al Haschemi zu einer Reise nach Katar und Saudi-Arabien aufgebrochen, deren Führungen am lautstärksten eine offene Unterstützung des Auslands für die sunnitischen Rebellen in Syrien fordern und sie seit Monaten heimlich mit Geld, Waffen und ausländischen Salafisten à la Al Kaida unterstützen. Zwei Tage nach dem Gipfel der Arabischen Liga in Bagdad, zu der die meisten mehrheitlich sunnitischen Staaten der Organisation ihre Regierungschefs demonstrativ nicht hingeschickt hatten, traf am 1. April Haschemi in Katar ein. Dort wurde der Noch-Vizepräsident des Iraks von Katars Emir, Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani, und Premierminister, Scheich Hamad Bin Jassem bin Jabr Al Thani mit höchsten Ehren empfangen. In Doha hat man Bagdads Proteste und Forderung nach Auslieferung des flüchtigen, mutmaßlichen "Terrorchefs" einfach ignoriert. Genauso verhielt sich die Regierung in Riad, wo Al Haschemi am 4. April eintraf und Gespräche mit Außenminister Saud Al Faisal führte. Derselbe Faisal hatte beim Treffen der "Freunde Syriens" drei Tage zuvor in Istanbul den Standpunkt vertreten, das Ausland hätte die "Pflicht" die Gegner des Alewiten Baschar Al Assad militärisch zu unterstützen. Al Haschemis Reise führte ihn am 9. April nach Ankara, wo er mit Premierminister Recep Tayyip Erdogan zusammenkam.

Während Syrien zunehmend in den Bürgerkrieg hineinschliddert, droht im Irak eine Neuauflage der Kämpfe von vor sechs, sieben Jahren. Nichts verdeutlicht dies besser als das überraschende Auftauchen Izzat Ibrahim Al Douris. Der ehemalige irakische Vizepräsident befindet sich seit dem Fall Bagdads im Untergrund. Von dort aus führt das meistgesuchte und ranghöchste Mitglied der verbotenen Baath-Partei des Iraks einen Guerillakrieg gegen die ausländischen Truppen und ihre einheimischen Verbündeten. In einer Videobotschaft, die am 7. April im Internet erschienen ist, warnte die frühere rechte Hand Saddams vor den kommenden Gefahren und verurteilte Al Maliki dafür, Bagdad zu einer schiitischen Hauptstadt deklariert zu haben.

Im Februar 2007 hat der berühmte Enthüllungsjournalist Seymour Hersh in der Zeitschrift New Yorker Pläne publik gemacht, die der damalige US-Vizepräsident Dick Cheney und Saudi-Arabiens damaliger nationaler Sicherheitsberater und ehemaliger Botschafter in Washington, Prinz Bandar bin Sultan, geschmiedet hatten, um durch die Aufwiegelung und Bewaffnung sunnitischer Extremisten den "schiitischen Bogen" zwischen Iran, Syrien und Hisb Allah zum Einsturz zu bringen. Auf diese Weise sollte ein "Regimewechsel" in Damaskus und Teheran in die Wege geleitet und die Hisb Allah in ihre Schranken verwiesen werden. Die blutige Entwicklung in Syrien und im Irak läßt erkennen, daß an der Umsetzung jener Pläne weiterhin gearbeitet wird.

10.‍ ‍April 2012