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NAHOST/1271: Milizionäre massakrieren Zivilisten in Tripolis (SB)


Milizionäre massakrieren Zivilisten in Tripolis

Libyens Milizen setzen sich mit brutaler Gewalt durch



Beim schwersten Ausbruch von Gewalt in der libyschen Hauptstadt seit dem Sturz Muammar Gaddhafis vor zwei Jahren haben am 15. November Milizionäre mindestens 31 unbewaffnete Zivilisten erschossen und mehr als 235 verletzt. Anlaß des Massakers war nach Angaben des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera eine Demonstration einfacher Bürger in Tripolis gegen die Milizen, die seit zwei Jahren das Alltagsleben in Libyen unsicher machen und sich der mehrmaligen Aufforderung, ihre Waffen abzugeben oder sich in die staatliche Armee und Polizei einzugliedern, widersetzen. Auch wenn die Empörung über den jüngsten Vorfall groß sein dürfte, bleibt es ein Rätsel, wie Libyens Zentralregierung das Milizenproblem lösen will.

Am 4. und am 5. November hatten sich zwei rivalisierende Milizen heftige Kämpfe in Tripolis geliefert, nachdem die eine Gruppe ein Mitglied einer anderen, das mit einem Auto ohne Nummernschilder unterwegs gewesen ist, zwecks Identitätsüberprüfung vorübergehend festgenommen hatte. Nach dem Sturz Gaddhafis hatte die neue Regierung in Tripolis die rund 225.000 Milizionäre quasi zu Hilfssheriffs gemacht. Gegen ein Gehalt vom Staat sollten sie für Ruhe und Ordnung sorgen. Das Experiment ist jedoch gründlich gescheitert. Die Milizen bekämpfen sich gegenseitig nach wie vor, führen Raubüberfälle und Entführungen durch und haben einige der größten Raffinerien des Landes lahmgelegt. Durch die Besetzung des Parlaments haben sie die Entlassung aller Gaddhafi-Getreuen aus dem Staatsdienst erzwungen. Selbst vor der vorübergehenden Festnahme des Premierministers Ali Zeidan im Oktober sind sie nicht zurückgeschreckt.

Seit vergangenem Jahr findet gegen führende, in Dienst befindliche oder ehemalige Armee- und Polizeioffiziere eine Attentatsserie statt, die dem Zweck zu dienen scheint, die staatlichen Streitkräfte zu schwächen und das Milizenwesen am Leben zu erhalten. Jüngstes Opfer der "Säuberungswelle" ist Farag Muftah Al Fitouri. Der einstige Armeekommandeur, der zum Imam eines Sufi-Ordens geworden war, wurde am 14. November in der ostlibyschen Rebellenhochburg Benghazi getötet, als eine Bombe unter seinem Auto explodierte. Für die strenggläubigen Salafisten, die bei den libyschen Milizen den Ton angeben - bestes Beispiel die al-kaida-nahe Ansar Al Scharia - sind die Sufis bekanntlich Ketzer, deren Ideen und Lebensweise bekämpft werden müssen. Säkularisten und Muslime, welche eine fundamentalistische Auslegung des Islams ablehnen, gelten in den Augen der Salafisten als Apostaten und damit als Feinde.

Dies erklärt vielleicht das jüngste blutige Ereignis in Tripolis. Seit Tagen hatten Imame dort zu einer großen Protestaktion am 15. November gegen die Gewalt und Gesetzeslosigkeit der Milizen aufgerufen. Nach dem Freitagsgebet an dem Tag versammelten sich Hunderte Demonstranten auf dem Meliana-Platz im Herzen der libyschen Hauptstadt. Weiße Fahnen schwenkend und die Nationalhymne singend marschierten die Protestierenden zum Stadtteil Gharghour. Dort wollten sie am Hauptquartier der Misrata-Miliz ein Protestschreiben einreichen und die Gruppe dazu auffordern, die Stadt zu verlassen. Bei der Ankunft in Gharghour wurde die Demonstranten jedoch mit einem Kugelhagel empfangen. Nach Angaben der BBC wurde auf die Menschen mit schwerkalibrigen Waffen und sogar mit einer Panzerfaust geschossen.

In Tripolis herrscht nun Krise. Die Armee hat den Stadtteil Gharghour abgeriegelt. Über der Stadt fliegen Kampfjets. In einer Fernsehansprache hat Premierminister Zeidan alle Milizen erueut zur Selbstauflösung aufgefordert und bekräftigt, daß ab Ende des Jahres nur noch jene Kämpfer ein Gehalt vom Staat erhalten werden, die entweder Polizei oder Armee beigetreten sind. Inwieweit die Zeidan-Regierung das staatliche Gewaltmonopol in Libyen durchsetzen bzw. wiederherstellen kann, ist fraglich. Eher sind es die Milizen, die dabei sind, den libyschen Staat nach ihren eigenen Vorstellungen umzugestalten.

Am 14. November meldete die Nachrichtenagentur Middle East Online, das libysche Justizministerium habe vor kurzem ein sechzehnköpfiges Gremium eingerichtet, das Empfehlungen zur stärkeren Anpassung der staatlichen Gesetze als bisher an die Scharia machen solle. In der Meldung von Middle East Online hieß es: "Mit seinem Plan scheint das Justizministerium den Forderungen salafistischer bzw. extremistischer sunnitisch-muslimischer Gruppen ... nachzukommen." Gerade zwei Tage zuvor hatte die Ansar Al Scharia, die unter anderem für den Überfall letztes Jahr auf das US-Konsulat in Benghazi und den Tod des amerikanischen Botschafters Christopher Stevens mitsamt drei seiner Mitarbeiter verantwortlich gemacht wird, eine Erklärung herausgegeben, in der es hieß, nur mittels islamischer Rechtsprechung könnten Sicherheit und Ordnung in Libyen wiederhergestellt werden.

16. November 2013