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NAHOST/1404: Gefährliches Doppelspiel der Türkei im Syrien-Krieg (SB)


Gefährliches Doppelspiel der Türkei im Syrien-Krieg

Präsident Erdogan holt den Syrienkrieg ins eigene Land


Seit dem 24. Juli greift die Türkei mit Luftangriffen in das Kriegsgeschehen in Syrien ein und hat sich damit nach fast einem Jahr der militärischen Zurückhaltung endgültig zum vollwertigen Mitglied der von den USA angeführten Koalition entwickelt, die angeblich dem Treiben der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) ein Ende machen will. Auffällig am Vorgehen Ankaras ist jedoch, daß weit weniger die Kämpfer des IS als vielmehr die kurdischen Milizionäre von der PKK und deren syrischer Ableger YPG die Bomben und Raketen der türkischen Streitkräfte zu spüren bekommen. Damit hat die Regierung der Türkei den seit Jahren von ihr verfolgten Friedensprozeß mit der PKK einseitig aufgekündigt. Für die plötzliche Kehrtwende Ankaras gibt es mehrere Gründe.

Durch die Neuauflage des Kampfes gegen die PKK im Südosten Anatoliens will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen muslimisch-konservative AK-Partei bei den Parlamentswahlen am 7. Juni ihre bisherige Mehrheit verloren hat, die ethnische Polarisierung in der Türkei anheizen. Auf diese Weise hofft Erdogan, die linke, kurdische Formation HDP, der mehrere Millionen liberale nicht-kurdische Wähler jüngst zum erstmaligen Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde verholfen haben, wieder aus dem Parlament herausdrängen zu können. Deshalb hat die AK-Partei, unter der Leitung von Noch-Premierminister Ahmet Davutoglu, die Sondierungsgespräche über eine mögliche Regierungskoalition mit der republikanisch-nationalistischen CHP bzw. den "Grauen Wölfen" von der militant-chauvinistischen MHP absichtlich scheitern lassen, was wiederum dem Staatsoberhaupt erlaubte, Neuwahlen für den 1. November anzusetzen.

Ob die Rechnung Erdogans aufgeht, scheint fraglich. Zu durchsichtig ist sein Manöver und zu unverantwortlich sein Spiel mit dem Feuer. Den letzten Umfragen zufolge sind dermaßen viele Türken von den Machenschaften ihres Präsidenten, der den von ihm seit vier Jahren forcierten Krieg gegen das "Regime" Baschar Al Assads in Syrien nun auch noch ins eigene Land geholt hat, so angewidert, daß die AKP bei der bevorstehenden Wahl weitere Stimmenverluste erleiden wird, während die kurdische HDP ihre gerade erstrittene Präsenz im Parlament wird halten können. Auch wenn Erdogans großer Traum von einer Zweidrittelmehrheit für die AKP, damit er in der Türkei ein präsidentielles Regierungssystem einführen kann, erst einmal in weite Ferne gerückt ist, dürfte die von ihm initiierte Offensive gegen die PKK und YPG mindestens bis November dauern. Für die Botschaft von Cemil Bayik, einem Mitglied des dreiköpfigen PKK-Führungsgremiums, man sei zu einer Feuerpause unter US-Vermittlung mit den türkischen Streitkräften bereit, zeigt sich Ankara bislang taub.

In der Regierung von US-Präsident Barack Obama ist die anfängliche Euphorie über den überraschenden Einstieg der Türkei in die große Anti-IS-Koalition und die Freigabe des türkischen Luftwaffenstützpunkts Incirlik zwecks Nutzung durch NATO-Kampfjets für Angriffe auf IS-Stellungen in Syrien und im Irak schnell verflogen. Ein spektakulärer Bericht der amerikanischen Zeitungsgruppe McClatchy vom 24. August, geschrieben von deren Türkei-Korrespondent Mitchell Prothero in Gaziantep, wonach der türkische Geheimdienst der Al-Nusra-Front Informationen hat zukommen lassen, wodurch der Al-Kaida-Ableger am 29. Juli 54 Mitglieder einer vom US-Militär ausgebildeten Rebellengruppe namens Division 30 festnehmen konnte, gerade als diese die Grenze zu Syrien überschritten, hat die Beziehungen zwischen Washington und Ankara schwer belastet. Laut Prothero hat die hinterhältige Aktion der Türken, "den Plänen der Obama-Administration zur Bekämpfung des Islamischen Staats einen erniedrigenden Schlag verpaßt". Prothero zitiert ein nicht namentlich genanntes Mitglied des türkischen Geheimdienstes und Mustafa Abdi, einen Kommandeur der kurdischen YPG, dahingehend, daß die Türkei mit der Aktion die USA zwingen wolle, die Unrealisierbarkeit des Aufbaus einer eigenen "gemäßigten" Rebellenarmee in Syrien einzusehen und statt dessen die Stellvertreter Ankaras wie die Al-Nusra-Front und Ahrar Al Sham mit zu unterstützen.

Womöglich geht die Rechnung Ankaras auf. Wie der Zufall es will, erschien am 26. August in der New York Times unter der Überschrift "In Syria, Potential Ally's Islamist Ties Challenge U.S." ein Artikel, in dem über Ahrar Al Sham auffällig positiv berichtet wurde und deren Verbindungen zur Al Kaida und Al Nusra stark relativiert wurden. In dem Artikel aus der Feder Ben Hubbards sprach sich Robert Ford, der letzte US-Botschafter in Damaskus, dessen demonstrative Einmischung 2011 in die inneren Angelegenheiten Syriens zum Ausbruch des Bürgerkrieges beitrug, für eine Kontaktaufnahme der USA zu Ahrar Al Sham aus, weil letztere "bei eventuellen Friedensgesprächen eine große Rolle spielen" würden.

Den Vorwurf, sich islamistischer "Terroristen" zu bedienen und sie finanziell, logistisch, militärisch und nachrichtentechnisch zu unterstützen, um einen "Regimewechsel" in Damaskus herbeizuführen, kann man nicht nur gegen die Türkei, sondern auch gegen die USA, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien und Katar erheben. Den jüngsten Beleg für diese verbrecherische Strategie lieferte kein geringerer als Generalleutnant a. D. Michael Flynn, der frühere Chef der Defense Intelligence Agency (DIA), am 31. Juli in einem aufsehenerregenden Interview mit dem Nachrichtensender Al Jazeera. Gegenüber Reporter Medhi Hassan enthüllte Flynn, der in den vergangenen zehn Jahren im Irak und Afghanistan an vorderster Front im "Antiterrorkrieg" gedient hat, daß die Obama-Regierung bereits 2012 dringende Warnungen der eigenen Geheimdienste über die Gefahr der Entstehung eines dschihadistischen Gottesstaates im irakisch-syrischen Grenzgebiet und Syrien "mutwillig ignoriert" habe.

Vor diesem Hintergrund ist die offizielle Legende vom Kampf gegen den IS mit Vorsicht zu genießen. Man sollte auch nicht allzu große Erwartungen in die jüngsten diplomatischen Bemühungen setzen. Zwar hat die Beilegung des Atomstreits mit dem Iran im Juni für eine gewisse Entspannung auf dem diplomatischen Parkett gesorgt, doch nach wie vor halten Rußland und Teheran an Assad fest, während die USA und ihre sunnitischen Verbündeten weiterhin den Machtwechsel in Damaskus anstreben. Solange die am Syrienkrieg beteiligten Staaten ihre Partikularinteressen verfolgen, werden die Waffen dort nicht zum Schweigen kommen, wird der Flüchtlingsstrom in Richtung EU nicht abreißen. Durch die Angriffswelle auf PKK und YPG sorgt die Türkei zunächst einmal dafür, daß die kurdischen Milizen nicht einen Großteil der Grenze zu Syrien unter ihre Kontrolle bringen können, und halten damit die Versorgung der Dschihadisten mit Waffen, Munition und ausländischen Freiwilligen weiterhin offen. Derzeit kursieren in der Türkei sogar Gerüchte, hinter den Plänen Ankaras zur Schaffung einer "Schutzzone" in Norden Syriens stecke die Absicht, die Region um die Handelsmetropole Aleppo dauerhaft zu besetzen und sich eventuell sogar einzuverleiben.

27. August 2015


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