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NAHOST/1434: Türkei verlegt Bodentruppen in den Norden des Iraks (SB)


Türkei verlegt Bodentruppen in den Norden des Iraks

Ausländische Großmächte fallen über Irak und Syrien her


Seit 2011 findet in Syrien neben dem innenpolitischen Konflikt zwischen sunnitischen Dschihadisten und denjenigen, die am säkularen Staat festhalten wollen, ein Stellvertreterkrieg statt. Während die islamistischen Gotteskrieger Unterstützung von der Türkei, den arabischen Monarchien am Persischen Golf, den USA, Großbritannien und Frankreich erhalten, wird der Syrischen Arabischen Armee (SAA) von Rußland, dem Iran sowie der schiitisch-libanesischen Hisb-Allah-Miliz militärisch unter die Arme gegriffen. Am 24. November ist der Syrienkrieg aber in eine neue und gefährlichere Phase getreten, als Kampfjets der türkischen Luftwaffe vom Typ F-16, die vermutlich in direkter Verbindung mit Aufklärungsflugzeugen der NATO standen, einen russischen Kampfbomber vom Typ Tu-24 angeblich wegen einer kurzen Grenzverletzung abschossen. Während ein russischer Pilot lebend geborgen werden konnte, wurde sein Kamerad erschossen, als er sich noch in den Seilen seines Fallschirms hängend dem Boden näherte. Das Kriegsverbrechen sollen syrische Rebellen turkmenischer Abstammung begangen haben, die von Alparslan Celik, einem Mitglied der faschistisch-türkischen Grauen Wölfe, angeführt werden.

Bereits seit September 2014 greifen Flugzeuge der USA und ihrer Verbündeten im Rahmen der Operation Inherent Resolve Stellungen der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) an, die weite Teile Ostsyriens und des irakischen Nordwestens kontrolliert. Seit September dieses Jahres nimmt die russische Luftwaffe zur Unterstützung der SAA am Boden von Stützpunkten in der Mittelmeerprovinz Latakia aus am syrischen Bürgerkrieg teil. Nach den "Terroranschlägen" von Paris, bei denen am 13. November 137 Menschen starben, ist auch Frankreichs Armee in Syrien Kriegsteilnehmer. In den letzten Tagen haben unter dem Vorwand der Bekämpfung von IS auch das Unterhaus in London und der Bundestag in Berlin für eine Beteiligung der königlichen britischen Streitkräfte respektive der deutschen Bundeswehr am Krieg im Nahen Osten gestimmt.

Seit dem Abschuß des russischen Kampfbombers verschlechtern sich die Beziehungen zwischen Moskau und Ankara zusehends. Wegen der Weigerung der Türken, sich für den Vorfall zu entschuldigen, hat Rußland schwere Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei verhängt. Russische Touristen sollen zum Beispiel die Badeorte der Türkei künftig meiden. Inzwischen will Rußland sogar seine Öl- und Gaslieferungen an die Türkei aussetzen. Um den Ausfall zu kompensieren, führt Ankara bereits entsprechende Verhandlungen mit den Regierungen in Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan und Katar. Der Energiestreit mit Rußland erklärt auch die dramatische Entscheidung Ankaras, am 4. Dezember 150 Soldaten und bis zu 25 Panzer und Panzerfahrzeuge in die nordirakische Stadt Baschika zu verlegen. Die irakische Zentralregierung, die nach eigenen Angaben über die Maßnahme nicht informiert worden war und darin eine nicht hinnehmbare Verletzung der staatlichen Souveränität sieht, hat in der Angelegenheit den UN-Sicherheitsrat angerufen und mit einer militärischen Gegenreaktion gedroht, sollte die Türkei das Truppenkontingent bis zum 8. Dezember nicht vollständig abgezogen haben.

Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu hat die Führung in Bagdad mit der Erklärung, die Truppenverstärkung diene lediglich der bereits seit zwei Jahren laufenden Ausbildung der Polizei und Armee der Kurdischen Autonomieregierung (Kurdistan Regional Gouvernment - KRG) und keineswegs einer Annektion irakischen Bodens durch die Türkei, zu beschwichtigen versucht. Die Beteuerungen Ankaras dürften die Befürchtungen Bagdads kaum mildern. Baschika liegt rund 30 Kilometer nordöstlich von Mossul, der Hauptstadt der Provinz Ninawa, wo seit Juni 2014 die schwarz-weiße Fahne des IS weht. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte die damalige Region Mossul zum Osmanischen Reich. Nur widerwillig hat die Türkei 1928 die von Großbritannien diktierte Integration des ölreichen Gebiets in den neuen Staat Irak akzeptiert.

Seit dem Sturz Saddam Husseins infolge der angloamerikanischen Invasion 2003 liegen die irakische Zentralregierung Bagdad und die KRG im Streit um die Aufteilung der staatlichen Einnahmen aus dem Ölexport. Trotz Protesten aus Bagdad verkauft die KRG in den letzten Jahren größere Mengen Öl in die Türkei, die entweder dort verbraucht oder über den Mittelmeerhafen Ceyhan weiter exportiert werden. Branchenkenner vermuten, daß über dieselben Wege Öl aus den Ölfeldern Ostsyriens und Nordwestiraks, die sich in den Händen des IS befinden, auf den internationalen Markt kommt. Russische Experten behaupten sogar, daß Bilal, der Sohn des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan, in das kriminelle Geschäft mit dem IS-Öl verstrickt ist.

Der Verdacht, hinter der türkischen Truppenverlegung nach Baschika stecke der Wunsch Ankaras, die Kontrolle über die Ausbeutung der fossilen Energiereserven der Region um Mossul zu erlangen, liegt auf der Hand. Wie die türkische Zeitung Hurriyet am 5. Dezember berichtete, haben KRG-Präsident Massud Barsani und der türkische Außenminister Feridun Sinirlioglu bei dessen Besuch in Erbil am 4. November ein Abkommen über die dauerhafte Stationierung türkischer Soldaten in Baschika unterzeichnet. Mit diesem Schritt hat der konservative Barsani der Ausrichtung des irakischen Kurdistans von Bagdad weg und hin nach Ankara Nachdruck verliehen. Mit Hilfe des kurdischen Klanhäuptlings versuchen die Neo-Osmanen Erdogan und Davutoglu das Streben der fortschrittlicheren kurdischen Kräfte in der Türkei und Syrien, der PKK beziehungsweise YPG, nach Selbstbestimmung bzw. Unabhängigkeit zu durchkreuzen.

Die Lage im Osten Syriens und Nordwesten Syriens könnte sich also bald deutlich verschärfen. Am 7. Dezember hat Hadi Al Ameri, Chef der mächtigen irakisch-schiitischen Badr-Miliz mit schweren Konsequenzen gedroht, sollten die Türken ihre Soldaten nicht bald aus Baschika abziehen. An die Adresse der türkischen Führung in Ankara gerichtet, erklärte er bei einer Rede an der Bagdader Universität Al Muntansiriya: "Türkische Panzer werden gesprengt werden, sollten sie den Irak nicht sofort verlassen. Sie haben einen russischen Kampfjet wegen sieben Sekunden [im türkischen Luftraum - Anm. d. SB-Red.] abgeschossen; wie konnten Sie nun die Souveränität des Iraks verletzen?". Über den türkischen Vorstoß bei Mossul ist der Iran, Hauptverbündeter der irakischen Schiiten, verärgert. Teheran bezeichnete die Stationierung türkischer Streitkräfte in Baschika als eine "Bedrohung der regionalen Sicherheit", die nur noch mehr Chaos verursachen würde.

Jene Einschätzung hat sich durch die Meldung, in der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember hätten US-Kampjets ihren ersten Angriff auf die syrischen Streitkräfte geflogen, bewahrheitet. Ziel der Operation war Saeka, eine der letzten Militärbasen der SAA in der weitgehend vom IS kontrollierten ostsyrischen Provinz Deir ez-Zor. Bei dem Raketenangriff auf Saeka, nahe der Stadt Ajjasch, sollen vier syrische Soldaten getötet, dreizehn verletzt und wichtige Waffen- und Munitionsbestände zerstört worden sein. Für diejenigen, die vermuten, daß die Türkei und die USA den IS heimlich fördern, um ihren lang gehegten Traum von einem "Regimewechsel" in Damaskus zu verwirklichen, liefert der Luftangriff auf Saeka einen handfesten Beweis.

7. Dezember 2015


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