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NAHOST/1481: USA verschlimmern das Chaos in Syrien zusehends (SB)


USA verschlimmern das Chaos in Syrien zusehends

Washingtons Lösung für den Syrienkonflikt lautet mehr Krieg


Die Feuerpause in Syrien, die nach der Friedensinitiative der Außenminister Sergej Lawrow und John Kerry am 12. September begann und bei Aufrechterhaltung für eine Woche zu einer dauerhaften Deeskalation des militärischen Konflikts führen sollte, ist gescheitert. Am 19. September hat die Regierung in Damaskus die Feuerpause unter Hinweis auf anhaltende Verstöße seitens "gemäßigter" Rebellengruppen sowie auf den tödlichen Überfall der Luftstreitkräfte Australiens, Dänemarks, Großbritanniens und der USA auf eine Position der Syrischen Arabischen Armee (SAA) im Nordosten des Landes, bei dem 83 Soldaten getötet und mehr als 100 schwer verletzt wurden, aufgekündigt. Somit dürfte die geplante Einrichtung eines gemeinsamen amerikanisch-russischen Kommandozentrum zwecks Bekämpfung der "Terrormilizen" Islamischer Staat (IS) und Al-Nusra-Front - eine Idee, gegen die sich das US-Militär von vornherein zur Wehr gesetzt hatte - vom Tisch sein. Da fällt es schwer zu glauben, daß es sich beim Angriff der westlichen Anti-IS-Koalitionäre auf die SAA-Stellung auf dem Berg Dschebel Tharda nahe des seit über einem Jahr umkämpften Luftwaffenstützpunkts in Deir Ezzor um einen "Fehler" gehandelt haben soll.

Daß die Kräfte im US-Sicherheitsapparat, die weiterhin am Ziel eines "Regimewechsels" in Damaskus festhalten, in der Lage sind, den Lawrow-Kerry-Plan zu torpedieren, heißt aber noch lange nicht, daß sie irgend etwas im Griff hätten. Die obsessive Verfolgung einer militärischen Lösung für die Probleme in Syrien und im Nachbarland Irak ist eher Ausdruck der Hilflosigkeit und des beschränkten geistigen Horizonts gemäß dem Motto "Nach uns die Sintflut". Denn in Syrien und im Irak stecken die USA bis zum Hals in Problemen, die mit Waffengewalt schwer bis unmöglich zu lösen sind.

Rußland und der Iran sperren sich gegen den Sturz Baschar Al Assads, weil ansonsten Syrien zu einem unregierbaren Ort der Instabilität ähnlich Libyen nach der Ermordung Muammar Gaddhafis 2001 würde. Das Pentagon und die CIA halten hingegen am Märchen von den "gemäßigten" Rebellengruppen fest, weil sie sonst keine Stellvertreterarmeen hätten, mit denen sie die SAA ernsthaft in Bedrängnis bringen könnten. Dies hat zur Folge, daß Waffen und Munition, die seit fünf Jahren an "gemäßigte" Aufständische geliefert werden, größtenteils über kurz oder lang bei Al-Nusra oder mit ihr verbündeten sunnitischen Dschihadistengruppen wie Ahrar Al Scham oder Dschaisch Al Islam landen. Zwischenzeitlich ist es in Syrien sogar zu Kämpfen zwischen Gruppen gekommen, die teils vom Pentagon, teils von der CIA unterstützt wurden.

Jüngster Höhepunkt dieses Wahnsinns war ein Vorfall, der sich am 16. September in der Kleinstadt Al Rai nahe der Grenze zur Türkei ereignet hat. Dort haben bewaffnete Anhänger der sogenannten "Freien Syrischen Armee", des Aushängeschilds "gemäßigten" Rebellentums in Syrien schlechthin, rund ein Dutzend Mitglieder der US-Spezialstreitkräfte als "Ungläubige" und "Kreuzzügler" beschimpft und unter Todesandrohung verjagt. FSA-Freiwillige, die seit dem 22. August an der Seite der türkischen Invasionstruppen gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kämpfen, wurden einem Bericht des britischen Daily Telegraph zufolge unter anderem mit den Worten "Christen und Amerikaner haben keinen Platz unter uns", "Sie führen einen Kreuzzug zur Besetzung Syriens" und "Sie führen einen Kreuzzug gegen Syrien und den Islam" zitiert. Andere Beteiligte an dem Aufruhr beschimpften die Mitglieder der YPG, die mit Hilfe von US-Spezialstreitkräften seit über einem Jahr im Nordwesten Syriens eine Offensive gegen den IS führen, als "Hunde" und "Schweine".

Am 17. September hat Mehmet Celik in der türkischen Zeitung Daily Sabah, die als Sprachrohr der regierenden AK-Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan gilt, das Heldengedenken in den USA für drei amerikanische Soldaten, die wenige Tage zuvor bei Kämpfen der YPG gegen den IS gefallen waren, heftig kritisiert. Die Ehrerweisung des 22jährigen Jordan McTaggart, des 24jährigen Levi Shirley und des 27jährigen William Savage nach der Überführung ihrer Leichen nach Chicago sei unangebracht, denn sie hätten zusammen mit den "YPG-Terroristen" gekämpft, so Celik. Der Kommentator warf den Behörden in den USA vor, mit dem Staatsakt für die drei Soldaten die seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei Mitte Juli angespannten Beziehungen zwischen Ankara und Washington zusätzlich strapaziert zu haben.

Bekanntlich sind die türkischen Streitkräfte in den Norden Syriens einmarschiert, um das Vordringen der YPG, die Ankara als Schwesterorganisation der kurdischen PKK in der Türkei betrachtet, westlich des Euphrats zu stoppen und die Bildung eines geschlossenen autonomen Kurdengebiets zu verhindern. Die Ziele der Türkei scheinen jedoch weitreichender zu sein. Wie die Onlinezeitung Al Monitor am 15. September berichtete, drängt die Türkei darauf, mit eigenen Streitkräften an den geplanten Offensiven gegen die IS-Hochburgen Rakka im Osten Syriens und Mossul im Norden des Iraks teilzunehmen. Beim Treffen mit dem US-Amtskollegen Barack Obama am Rande des G20-Gipfels im chinesischen Hangzhou Anfang September soll Erdogan das Anliegen vorgetragen haben. Auf dem Rückflug von Hangzhou hat Erdogan laut Al Monitor vor türkischen Journalisten erklärt: "Wir müssen unsere Präsenz in der Region zeigen. Sonst werden terroristische Gruppen wie IS, die PKK und ihre syrische Ablegerin YPG das Vakuum füllen."

Gegen das Ansinnen Ankaras dürfte die schiitisch dominierte Regierung des Iraks schwere Vorbehalte haben. Seit Monaten läuft Bagdad vergeblich gegen die ungebetene Stationierung mehrerer hundert türkischer - und damit vermutlich sunnitischer - Soldaten in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak Sturm. Ankara weigert sich, die Truppen abzuziehen, und behauptet, sie seien lediglich dort, um die Peshmerga des konservativen Präsidenten des kurdischen Autonomiegebiets, Masud Barzani, für den Kampf gegen den IS auszubilden. In den letzten Jahren hat die Türkei den Barzani-Klan im Dauerstreit mit Bagdad über die Verteilung der Einnahmen aus dem Ölexport unterstützt und sich somit eine Art Schutzmachtposition verschafft. Wie die USA die divergierenden Interessen ihrer verschiedenen Verbündeten im Länderdreieck Türkei-Syrien-Irak austarieren wollen ist unklar. Jedenfalls hat am 18. September bei einer Pressekonferenz in Bagdad Iraks Premierminister Haider Al Abadi erklärt, die illegale Anwesenheit türkischer Streitkräfte in der Nähe von Mossul "verhindere" die Bemühungen zur Rückeroberung der zweitgrößten Stadt des Zweistromlands, und Ankara erneut zu deren Abzug aufgefordert.

Währenddessen nehmen die Spannungen im Südwesten Syriens an der Grenze zu Israel zu. Am 13. September hat die israelische Luftwaffe Stellungen der SAA angegriffen, angeblich als Vergeltung für ein syrisches Artilleriegeschoß, das bei Kämpfen zwischen Rebellen und Armee in dem von Israel seit 1967 besetzten Teil der Golanhöhen eingeschlagen war. Am 16. September behauptete die SAA, sie habe einen Kampfjet und eine Drohne der israelischen Luftwaffe über dem syrischen Teil der Golanhöhen abgeschossen. Israelische Stellen haben dies umgehend dementiert. Ihrerseits behaupteten am 17. September die Israelis, mit Hilfe ihres Raketenabwehrsystems Iron Dome eine aus Syrien kommende Rakete der SAA vom Himmel geholt zu haben.

Seit Jahren wirft Damaskus Tel Aviv vor, islamistische Rebellen in Syrien heimlich zu unterstützen. Der Vorwurf ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. Mitglieder der UN-Friedenstruppe auf dem Golan haben immer wieder Fälle gemeldet, in denen Kisten unbekannten Inhalts - in denen sich vermutlich Waffen und Munition befanden - an die israelische Seite der Grenze gefahren und dort Unbekannten übergeben wurden. Zudem werden verletzte syrische Rebellen in Feldlazaretten auf dem Golan von israelischen Militärärzten zusammengeflickt und zur Teilnahme am Aufstand nach Syrien zurückgeschickt. Die Lage in Syrien ist also mehr als unübersichtlich. An den Fortbestand eines einheitlichen syrischen Staats in den Grenzen von 2011 glaubt heute kaum noch jemand.

20. September 2016


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