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NAHOST/1662: Libyen - ohne Sinn und ohne Ende ... (SB)


Libyen - ohne Sinn und ohne Ende ...


22 Tage nach Auftakt einer Großoffensive zur Einnahme der libyschen Hauptstadt Tripolis dürfen die Hoffnungen von Feldmarschall Khalifa Hifter auf einen Blitzsieg seiner Libyschen Nationalarmee (LNA) verflogen sein. Zwar ist der befürchtete Häuserkampf bislang ausgeblieben, dafür liefern sich die LNA und die militanten Anhänger der Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch rund 60 Kilometer südwestlich von Tripolis heftige Kämpfe. Bisher hat Hifters Sturm auf Tripolis rund 300 Menschen das Leben gekostet, mehr als 1000 verletzt und rund 35.000 zur Flucht veranlaßt. Auch wenn die militärische Pattsituation eine Feuerpause samt Verhandlungen ratsam erscheinen läßt, ist mit einem schnellen Ende der Kämpfe nicht zu rechnen. Dafür haben sich Hifter und sein Unterstützerkreis, bestehend aus Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Frankreich, den USA und Rußland, zu sehr aus dem Fenster gelehnt.

Der Kern des Konflikts liegt im Jahr 2014. Damals wurde ein neues Parlament gewählt, das den von islamistischen Kräften dominierten Allgemeinen Nationalkongreß, der nach dem Sturz und der Ermordung Muammar Gaddhafis drei Jahre zuvor Libyen mehr schlecht als recht verwaltet hatte, ersetzen sollte. Doch die Islamisten, unterstützt von der Moslembruderschaft sowie der Türkei und Katar, wollten ihre neugewonnene Macht nicht abgeben. Nach kurzen Kämpfen flohen die frischgewählten Parlamentarier in die im Osten liegende Stadt Tobruk und formierten sich dort unter dem Schutz der LNA als House of Representatives (HoR). Im selben Jahr hat Hifter, ein ehemaliger Vertrauter Gaddhafis, der rund 20 Jahre im US-Bundesstaat Virginia gelebt hatte und 2011 von der CIA in seine alte Heimat geflogen worden war, unter dem Titel "Operation Würde" den "Terroristen" den Krieg erklärt. Drei Jahre hat Hifter dafür gebraucht, die al-kaida-nahe Ansar Al Scharia aus Benghazi zu vertreiben. Am Ende der Aktion lag die Innenstadt Benghazis in Schutt und Asche, weswegen man ein ähnliches Szenario in Tripolis befürchtet.

Im Februar und März ist die LNA, die bis dahin den ganzen Osten Libyens kontrollierte, durch den Süden und Südwesten durchmarschiert, hat vereinzelte Milizen bezwungen, die meisten Stammeskrieger auf die eigene Gehaltsliste gesetzt und nebenbei das größte Ölfeld Libyens in Beschlag genommen. Warum die LNA ihre Offensive in nördliche Richtung bis an die Westküste Libyens fortsetzte, ist bis heute ein Rätsel. Zwar hatte die unter internationaler Vermittlung 2016 eingesetzte GNA militärisch die Lage dort nicht unbedingt im Griff, doch es herrschte einigermaßen Frieden, und Premierminister Al Sarradsch genoß die Unterstützung der Vereinten Nationen, deren Sondergesandte Ghassan Salamé für Mitte April eine große Konferenz der nationalen Versöhnung geplant hatte. In den internationalen Medien kursieren verschiedene Erklärungen für Hifters plötzlichen Griff nach der alleinigen Herrschaft.

Am 16. April vertrat Korrespondent Borzou Daragahi im Londoner Independent die These, die Tripolis-Offensive der LNA sei zu einem Zeitpunkt losgetreten worden, als in Istanbul der Betrieb vom alten auf den neuen Flughafen verlegt wurde; dies hätte Riad und Abu Dhabi ein Zeitfenster eröffnet, in dem Ankara und Doha ihren Verbündeten in Tripolis nicht per Luft zu Hilfe kommen könnten - eine Gelegenheit, die Saudis, Emirater und Hifter nicht ungenutzt verstreichen lassen wollten. Am 20. April behauptete Tom Stevenson bei der Onlinezeitung Middle East Eye, die politischen Umwälzungen in Algerien, die Massenproteste, die dort im März das "Regime" von Präsident Abdelasis Bouteflika weggefegt haben, hätten Hifter zum raschen Handeln veranlaßt, bevor der große Nachbar im Westen, der sich auch als regionale Ordnungsmacht versteht, Einspruch einlegen konnte.

Fest steht jedenfalls, daß Hifter sein Vorgehen vorab mit den Despoten in Riad und Abu Dhabi abgesprochen hat. Zur Finanzierung der Offensive soll er von den Saudis größere Mengen Bargeld sowie zur militärischen Bezwingung seiner Gegner von den Emiratern modernste High-Tech-Waffen erhalten haben. Am 22. April hat es erste Berichte über Drohnenangriffe gegen Ziele in Tripolis gegeben. Die Drohnen, die nachts über die Stadt geflogen sind, sollen aus emiratischen Beständen stammen. Angeblich haben die Emirater einen entsprechenden Kommandostand auf dem Militärstützpunkt Al Khadim nahe Benghazi eingerichtet. Die Drohnenangriffe, die eine gefährliche Eskalation des Konflikts bedeuten, erfolgten einen Tag nachdem US-Präsident Donald Trump ein Telefonat mit Hifter vier Tage zuvor über die "laufende Antiterroroperation" bekanntgab. In der Erklärung des Weißen Hauses wurde die "bedeutende Rolle" des CIA-Verbindungsmanns bei der "Terrorismusbekämpfung und der Sicherung der Ölressourcen Libyens" lobend hervorgehoben; Trump und Hifter hätten über ihre "gemeinsame Vision eines Übergangs Libyens hin zu einem stabilen, demokratischen Politiksystem" diskutiert, hieß es.

Doch jener Übergang gestaltet sich äußerst schwierig. Statt die potentiellen Gegner rechtzeitig auf seine Seite zu ziehen, hat Hifter fast die gesammelte Milizenschaft des libyschen Nordwestens, in den Städten Tripolis, Misurata und Zawiya gegen sich und die LNA aufgebracht. Militärhilfe erhalten diese Gruppen inzwischen von Katar und der Türkei. Italien und der UN-Sondergesandte Salamé halten weiterhin zur GNA und betonen deren Legitimität. Die LNA behauptet sogar, von Scharfschützen der britischen und italienischen Spezialstreitkräfte in Tripolis angeschossen worden zu sein. Gerade letzte Woche wurden rund ein Dutzend französische Spezialstreitkräfte, die Libyen auf den Landweg verlassen wollten, an der tunesischen Grenze mit Waffen und Munition vorübergehend festgenommen.

Praktisch alle Libyen-Experten sind sich einig, daß es keine militärische Lösung zur Beendigung der politischen Rivalitäten in dem nordafrikanischen Land geben wird, weil Hifter und die LNA bei der Bevölkerung an der Westküste über keinen Rückhalt verfügen. Hinzu kommt, daß noch mehr Krieg und Chaos zahlreiche junge Männer in die Arme der Dschihadisten treiben werden. In einem Artikel, der am 22. April beim Londoner Guardian erschienen ist, warnte Anas El Gomati, Leiter der libyschen Denkfabrik Sadeq Institute, Libyen drohe angesichts der Einmischung Saudi-Arabiens und der VAE zum "Jemen am Mittelmeer" zu werden. Die Zivilbevölkerung dürfte bei einer solchen Entwicklung einen hohen Preis bezahlen, wohingegen sich die Rüstungsfabrikanten in Frankreich und den USA - wie schon im Jemen - am Blutbad eine goldene Nase verdienen.

26. April 2019


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