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SOZIALES/2087: Europäische Union bereitet sich auf Unruhen vor (SB)


Finanz- und Wirtschaftskrise als Vorwand für Repressionen

Auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rats soll über Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle beraten werden


2009 wird ein Jahr schlechter Nachrichten, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel rechtzeitig angekündigt, damit sie hinterher behaupten kann, sie habe es ja gesagt. Mit den schlechten Nachrichten meinte sie sicherlich nicht das für März anberaumte Frühjahrstreffen des Europäischen Rats, bei dem Maßnahmen gegen Demonstrationen und Proteste, wie sie in den letzten Wochen in zahlreichen europäischen Ländern zugenommen haben, beschlossen werden sollen. Es läßt sich jetzt schon absehen, daß die EU-Ratsmitglieder dann weitere Einschränkungen der Meinungsfreiheit und schärfere Bestrafungen bei Zuwiderhandlungen vereinbaren werden. Auch ist damit zu rechnen, daß die Sicherheitsstrukturen weiter ausgebaut werden, um bevorstehende Aufstände niederwerfen zu können. Wenn das keine schlechte Nachricht ist ...

Die EU-Mitgliedsstaaten verfolgten "intensiv" das Risiko von Aufständen in Europa, berichtete kürzlich Leigh Phillips für den EU-Observer (22.1.2009). Vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise und der in der Regel sozialfeindlichen Reaktionen seitens der Regierungen war es in den letzten Wochen zu teils schweren Ausschreitungen unter anderem in Griechenland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Ungarn, Polen und zuletzt Island gekommen. Aufgrund des Drucks der Bevölkerung, die vor dem isländischen Parlamentsgebäude Althingi den Rücktritt der Regierung forderte, wurden auf der hochverschuldeten Insel Neuwahlen ausgerufen. Bei den schwersten Ausschreitungen auf Island seit 50 Jahren war die Polizei mit Pfefferspray und Tränengas auf die Demonstranten losgegangen.

Die anhaltendsten Proteste erlebte Griechenland im Dezember, nachdem die Polizei einen Schüler erschossen hatte und der Vorfall unter den Tisch gekehrt werden sollte. Bei den anschließenden Demonstrationen in Athen, die Tage darauf in anderen europäischen Hauptstädten aufgegriffen wurden, wurden Schäden in Milliardenhöhe verursacht.

Es verhält sich ja nicht so, daß die europäischen Regierungen nicht über die Mittel und Wege verfügen, um die soziale Erhebungen bereits bei ihren Voraussetzungen wie beispielsweise den extremen Eigentums- und Einkommensunterschieden in der Gesellschaft sowie der völlig unzureichenden Partizipation des einzelnen an politischen Entscheidungen, die maßgeblich über sein Leben bestimmen, aufzufangen. Mit den vielen Milliarden, die den Banken in den Rachen geschoben werden, nur damit sie ihre Spekulationsgeschäfte weiterbetreiben und dem Staat, der sie vor dem Untergang gerettet hat, Gelder zu hohen Zinsen zu leihen, ließe sich schon einiges anstellen, wenn es darum ginge, Aufstände zu verhindern, indem man erst gar keinen Anlaß entstehen läßt.

Die EU-Botschafter in Brüssel erhalten regelmäßig Updates über die Lage, schrieb der EU-Observer unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten Beamten in Brüssel. Es werde geprüft, ob die Aufstände Ausdruck "eines sozialen Trends" sind oder ob sie von Oppositionellen manipuliert werden. Die baltischen EU-Mitglieder Litauen, Lettland und Estland tauschen sich laufend über das Thema aus und stehen auch im Gespräch mit Ländern wie Polen, Frankreich oder Deutschland.

IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn sagte am vergangenen Mittwoch gegenüber der BBC, daß der Wirtschaftsabschwung zu weiteren Unruhen führen wird. Das könnte in jedem Land geschehen, ganz sicher in Europa, und auch in Schwellenländern. Streiks, die zunächst normal erscheinen, könnten sich in den nächsten Monaten verschlimmern. Am gefährdetsten seien Ungarn, Ukraine, Lettland und Weißrußland. Aber auch Frankreich, Großbritannien und Osteuropa könnten betroffen sein. Die Lage sei "sehr, sehr ernst".

Wie ernst, bekamen die litauischen Parlamentarier am 16. Januar zu spüren. Da griffen Demonstranten das Parlamentsgebäude in Vilnius mit Steinen, Rauchbomben und anderen Wurfgeschossen an. Fensterscheiben gingen zu Bruch, und die wütende Menge forderte den Rücktritt der Regierung. Die Polizei griff hart durch und trieb die schätzungsweise 7.000 Demonstranten mit Tränengas und Gummigeschossen auseinander. Zwei Tage zuvor war es zu ähnlichen Szenen in der bulgarischen Hauptstadt Sofia gekommen.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1990 hatte es auch in Lettland nicht mehr so große Demonstrationen gegeben. Aus einem Demonstrationszug von rund 10.000 friedlichen Personen löst sich eine Gruppe von Protestierern, warf einen Polizeiwagen um und zerstörte die Fensterscheiben des Finanzministeriums.

Die Entwicklungen gleichen sich: Eine Regierung beschließt einen strikten Sparkurs, um die Finanz- und Wirtschaftskrise abzufedern, und nimmt dabei vor allem die sozial Schwachen der Gesellschaft ins Visier. Die Menschen spüren deutliche Einschränkungen ihrer Grundversorgung mit Nahrung und Energie und protestieren gegen diese Entwicklung. Da die Regierungen in der Regel nicht einlenken, nehmen die Spannungen zu und damit verstärkt sich auch die Bereitschaft der Bevölkerung, direkte Gewalt gegen Dinge und Menschen auszuüben.

Noch flogen "nur" Eier und Getränke auf den Wagen des isländischen Premierministers Geir Haarde, der von Sicherheitskräften gerettet werden mußte. Dabei dürfte es aber nicht bleiben. Wenn die Menschen erkennen, daß alle Appelle nichts fruchten, der Staat stärkere Repressionen vornimmt und nicht bereit ist, adäquate Mindeststandards der Versorgung der Menschen zu gewährleisten, besteht die Gefahr, daß dies in vermutlich keiner allzu fernen Zukunft mit schärferer Munition beantwortet wird.

Das Werben des deutschen Innenministers für den Einsatz der Bundeswehr im Innern - was ein Bruch mit dem Grundgesetz darstellte -, wird zwar von ihm mit der vermeintlichen Notwendigkeit der Terrorismusbekämpfung begründet. Aber spätestens seit dem G8-Treffen 2007 in Heiligendamm ist klar, daß die Bundeswehr andere Aufgaben im Innern übernehmen soll. Sie soll größere Menschenmassen, denen eine gewisse Konfliktbereitschaft attestiert wird, überwachen, einschüchtern und auch lenken. Anscheinend sehen Schäuble und andere Sicherheitsapologeten auch auf Deutschland eine Entwicklung zukommen, wie sie in jüngster Zeit insbesondere in der europäischen Peripherie auftrat.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy warnte kürzlich, daß in Europa wieder Massendemonstrationen stattfinden könnten, wie sie im Frühjahr 1968 mehrere europäische Hauptstädte lahmgelegt hätten. Fredrik Erixon vom European Centre for International Political Economy in Brüssel hält diesen Vergleich für untertrieben. Laut dem kanadischen Nachrichtendienst Canwest News Service vom 22. Januar 2009 sagte er, angesichts der Proteste in Island und einigen baltischen Staaten wäre ein Vergleich mit der Französischen Revolution 1789 passender.

Falls Erixons historischer Vergleich den politischen Entscheidungsträgern der Europäischen Union als Handlungsgrundlage dienen sollte, wäre damit zu rechnen, daß auf dem Gipfeltreffen im März so weitreichende Maßnahmen beschlossen werden, daß eine gewaltsame Erhebung gegen die herrschende Klasse eingedämmt werden kann. Selbstverständlich werden die Staats- und Regierungschefs dies nicht ankündigen, bestände dann doch die Gefahr, daß sich die Demonstranten darauf vorbereiteten und die eingesetzten Mittel an Wirksamkeit verlören.

Es wäre ein Irrtum, die Finanz- und Wirtschaftskrise als schicksalshaftes Ereignis anzusehen, durch das die Regierungen genötigt werden, Maßnahmen zu ergreifen, die sie am liebsten vermeiden würden. Statt dessen dient die Krise, die schon immer zur Qualifizierung von Herrschaft geführt hat, den vorherrschenden Kräften als Vorwand zum Ausbau und zur Sicherung ihrer eigenen Vorteilsposition.

27. Januar 2009