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SOZIALES/2100: Regierungskoalition verschärft das Asylrecht (SB)



Generalangriff auf die Grundrechte von Schutzsuchenden

Die Bundesregierung hat in den zurückliegenden Monaten zahlreiche Asylrechtsverschärfungen auf den Weg gebracht und die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber mittels neuer Regelungen erleichtert. Wie aus einer Antwort der Regierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht, hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière den Familiennachzug von Flüchtlingen aus Griechenland massiv eingeschränkt. Seit April nimmt Deutschland demnach nur noch maximal 70 Angehörige von Asylsuchenden im Monat auf. Nach Auffassung der Linken-Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke verstößt dies gegen europäische Bestimmungen, da Flüchtlinge laut der Dublin-Verordnung einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug besäßen. Jelpke wies einen monatlichen Bedarf von 400 Personen aus und erklärte, die Bundesregierung trete erneut EU-Recht und Kindeswohl mit Füßen. Die Begründung des Ministeriums, das von "begrenzten Betreuungs- und Unterbringungskapazitäten" sowie einem "erheblichen logistischen Koordinierungsaufwand von Landes- und Bundesbehörden" spricht, verwarf sie als eine "erbärmliche Ausrede" und forderte die Bundesregierung auf, die Deckelung zurückzunehmen. [1]

Wenige Monate vor der Bundestagswahl haben die Regierungsfraktionen Union und SPD nun die Regeln für Abschiebungen und den Umgang mit Asylbewerbern erneut verschärft. Der Bundestag hat ein umstrittenes Gesetzespaket für eine weitere Verschärfung des Asylrechts beschlossen, das Thomas de Maizière als Schlußpunkt in dieser Legislaturperiode bezeichnete. Man kann davon ausgehen, daß Union und SPD die Innere Sicherheit auch im Wahlkampf zu einem zentralen Thema machen werden. Die Koalition hatte das "Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" als Konsequenz aus dem Fall des Berlin-Attentäters Anis Amri auf den Weg gebracht. Damit schreitet der Umbau Deutschlands vom Aufnahmeland zum Abschiebeland massiv voran, indem die Maschinerie der Abschiebung perfektioniert wird, um die Betroffenen außer Landes zu schaffen. Sozialverbände, Menschenrechtsorganisationen und Opposition zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einzelner Neuerungen und sprechen insgesamt von einem Angriff auf die Grundrechte von Schutzsuchenden.

So soll Abschiebehaft künftig auch für ausreisepflichtige Ausländer gelten, von denen "eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit" ausgeht. Dieser Haftgrund war im vergangenen Sommer von De Maizière ins Gespräch gebracht worden und wird von der SPD nach anfänglichem Zögern inzwischen mitgetragen. Volker Beck, der migrationspolitische Sprecher der Grünen, bezeichnete das Gesetz als "eine Blendgranate", mit der die Koalition über Fehler im Fall Amri hinwegtäuschen wolle: "Unser Rechtssystem lässt es nicht zu, Menschen, die weder eine Straftat begangen haben noch eine solche nachweislich vorbereiten, in Haft zu nehmen." Abschiebehaft sei zudem nur gerechtfertigt, wenn sie einer Abschiebung diene. Sie könne künftig auch dann verhängt werden, wenn nicht gesichert sei, daß die Abschiebung innerhalb von drei Monaten vollzogen werden kann, etwa weil der Herkunftsstaat keine Papiere ausgestellt hat. Aus ebendiesem Grund war Amri aus der Abschiebehaft entlassen worden.

Ausreisegewahrsam kann der nun beschlossenen Verschärfung zufolge weiter unmittelbar vor einer Abschiebung verhängt werden, um Sammelabschiebungen besser organisieren zu können. Da nach Ansicht der Koalition die bisherige Frist von vier Tagen nicht ausreicht, kann der Gewahrsam nun auf bis zu zehn Tage ausgeweitet werden.

Die Residenzpflicht als Vorgabe für Personen, die ihre Identität verschleiern oder keine Angaben zur Person machen, soll verhindern, daß sich Ausreisepflichtige der Abschiebung entziehen. Auch soll ihnen die Abschiebung nicht mehr angekündigt werden.

Die Elektronische Fußfessel, eine Maßnahme, die schon bei verurteilten Straftätern außerhalb der Haft zur Überwachung genutzt wird, soll nun auch bei ausreisepflichtigen "Gefährdern" zum Einsatz kommen.

Zudem dürfen Informationen auf Handys und Computern von Flüchtlingen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ausgewertet werden, sofern die betreffenden Personen keine Ausweisdokumente vorlegen. Über Adreßdaten oder gespeicherte Verbindungsdaten sollen Rückschlüsse auf eine Staatsangehörigkeit oder Mehrfachidentitäten gezogen werden. Außerdem darf das Bundesamt sensible Daten, beispielsweise über den psychischen Gesundheitszustand von Flüchtlingen, an andere Behörden weitergeben. Ulla Jelpke von der Linksfraktion bezeichnete dies im Bundestag als einen "massiven Angriff auf die Grundrechte von Flüchtlingen".

Asylsuchende können künftig bis zum Ende des Asylverfahrens - maximal zwei Jahre - in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden. Gegen diese Neufassung laufen insbesondere die Asylrechtsorganisationen Sturm. So appellierte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, an die Bundesländer, diese Verschärfung nicht durchzuwinken, weil sie gegen EU-Recht verstoße: Flüchtlinge, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung leben, dürfen in Deutschland nicht arbeiten. Laut EU-Recht müsse aber nach neun Monaten der Zugang zum Arbeitsmarkt sichergestellt werden. Volker Beck sprach von einer "Bankrotterklärung mit Ansage". Integrationspolitisch sei die lange Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung eine Katastrophe, weil dieses Verfahren zwangsläufig zu sozialen Spannungen führen werde. [2]

Abgeordnete von Union und SPD verteidigten das Gesetz, allen voran der Bundesinnenminister. Wie er erklärte, brauche es bei den nicht Schutzbedürftigen Härte und Rückführung, "insbesondere bei denen, die täuschen, tricksen und sich strafbar machen". Zur Handyauslesung sagte De Maizière: "Wir können es in einem Rechtsstaat nicht hinnehmen, dass Asylbewerber weitgehend sanktionslos und nach Belieben verschiedene Namen und Staatsangehörigkeiten angeben, keine brauchbaren Auskünfte geben und darauf hoffen, dass im Falle der Ablehnung des Asylantrags eine Abschiebung an der Beschaffung von Passersatzpapieren scheitert."

Hingegen kritisierte Ulla Jelpke das Gesetz als "Sammelsurium flüchtlingsfeindlicher Schweinereien", "widerwärtig" und skandalös. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sprach von einem massiven Grundrechtseingriff. Der Sozialverband AWO erklärte, durch die Verschärfungen würden Schutzsuchende immer weiter entrechtet. Caritas-Präsident Peter Neher rügte, das Gesetz sei unverhältnismäßig, einseitig und stelle Flüchtlinge unter den Generalverdacht der Identitätsverschleierung. Auch die Kirchen hatten zuvor große Bedenken angemeldet. [3]

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl beklagte, das Gesetz baue Deutschland vom Aufnahmeland zum Abschiebeland um. Derzeit jage eine Asylrechtsverschärfung die nächste. Was im Eiltempo auf den Weg gebracht werde, lasse dramatische Folgen erwarten. Das Recht auf Familiennachzug werde eingeschränkt, es würden unfaire Asylschnellverfahren eingeführt, Flüchtlinge mit Wohnsitzauflagen und anderen Schikanen an der Integration gehindert, auch kranke Menschen sollen künftig abgeschoben werden können. Die Beschneidung der Flüchtlingsrechte ziele auf Abschreckung und Ausgrenzung, wo doch ganz im Gegenteil ein Integrationsprogramm erforderlich sei, das es Schutzsuchenden ermöglicht, in Deutschland gut Fuß zu fassen. [4]


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article164725768/Regierung-schraenkt-Familiennachzug-offenbar-massiv-ein.html

[2] http://www.tagesspiegel.de/politik/verschaerfung-des-asylrechts-von-abschiebehaft-bis-fussfessel/19830586.html

[3] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-05/fluechtlingspolitik-bundestag-asylrecht-abschiebungen-thomas-de-maiziere

[4] https://www.proasyl.de/news/hau-ab-gesetz-bundestag-entscheidet-ueber-erneute-asylrechtsverschaerfung/

20. Mai 2017


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