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USA/1226: Streit um Afghanistan-Strategie vollends entbrannt (SB)


Streit um Afghanistan-Strategie vollends entbrannt

Botschafter Eikenberry lehnt McChrystals Truppenaufstockungspläne ab


Seit mehreren Monaten berät die Regierung Barack Obamas über den künftigen Kurs in der Afghanistan-Frage. Begleitet wird die Diskussion von Indiskretionen seitens des Pentagons, dessen Führung, allen voran der CENTCOM-Chef General David Petraeus und der ISAF-Oberbefehlshaber General Stanley McChrystal, darauf drängt, weitere 40.000 Soldaten nach Afghanistan zu schicken, um mit der angeblich bereits im Irak erfolgreichen Aufstandsbekämpfungstrategie dieser beiden Kommandeure die Taliban in die Knie zu zwingen. Wegen des selbstherrlichen Agierens der Generäle sah sich Obama bereits Ende September veranlaßt, McChrystal nach Kopenhagen zu zitieren und mit ihm in der Air Force One auf dem Rollfeld des Flughafens der dänischen Hauptstadt unter vier Augen ein ernstes Wörtchen zu reden, nachdem am Tag davor Amerikas "Zen-Krieger" bei einem öffentlichen Auftritt in London die Anregung von Vizepräsident Joseph Biden, die US-Truppenpräsenz in Afghanistan zu reduzieren und künftig den Kampf gegen Al Kaida vornehmlich per Raketenangriffe der CIA und Einsätze der Spezialstreitkräfte zu führen, als ein Rezept für das Chaos abtat.

Auch wenn keine Entscheidung bei der laufenden Strategiedebatte gefallen und nicht vor der Rückkehr Obamas von seiner Antrittsreise in Asien zu erwarten ist, berichten führende US-Zeitungen seit Tagen unter Verweis auf "gutinformierte Quellen", daß der Präsident bereits beschlossen habe, zwar McChrystals Bitten nicht gänzlich zu entsprechen, jedoch die Zahl der US-Soldaten in Afghanistan um rund 30.000 zu erhöhen (Seit dem Amtsantritt Obamas hat sich die Zahl der amerikanischen Soldaten am Hindukusch bereits von 31.000 auf rund 68.000 mehr als verdoppelt). Jetzt haben die sogenannten "Realisten" gekontert - und zwar ordentlich. Auf der Titelseite der heutigen Ausgabe - wie bereits seit gestern abend im Internet - berichtet die New York Times unter Verweis auf "drei hohe Regierungsbeamte", daß der US-Botschafter in Kabul, Karl Eikenberry, letzte Woche ein Memorandum an Obama geschickt hat, in dem er die Entsendung weiterer Soldaten nach Afghanistan als "keine gute Idee" bezeichnete. Durch die Bekanntgabe dieser Mitteilung ist es zur jüngsten Auflage des klassischen Dauerkonflikts in Washington zwischen Verteidigungs- und Außenministerium gekommen. Man fühlt sich an frühere Titanenkämpfe zwischen Casper Weinberger und George Schultz oder Donald Rumsfeld und Colin Powell erinnert. Über den Vorstoß Eikenberrys soll McChrystal "außer sich" sein.

Der Vergleich mit früheren Kämpfen um Macht, Einfluß und vor allem das Ohr des Präsidenten zwischen Pentagon und State Department hinkt etwas. Eikenberry ist kein klassischer Diplomat, sondern ein Quereinsteiger mit militärischem Hintergrund. Der Generalleutnant a. D., der an der Universität Harvard internationale Politik mit Spezialgebiet Ostasien studierte und Mandarin fließend spricht, hat zweieinhalb der letzten acht Jahre als Armeeoffizier in Afghanistan gedient. Beim ersten Einsatz 2002/2003 war er für die Koordination zwischen den US-Streitkräften und ihren NATO-Verbündeten sowie für den Aufbau der afghanischen Armee und Polizei zuständig, und beim zweiten, der 18 Monate dauerte und 2007 zu Ende ging, Oberbefehlshaber der Koalitionsstreitkräfte. Er residiert seit Mai als Botschafter in Kabul und kennt sich von allen Mitgliedern der Obama-Administration in Afghanistan vermutlich am besten aus. In letzter Zeit ist er vor allem durch Kritik an Afghanistans Präsident Hamid Karsai und den korrupten Praktiken von dessen Regierung sowie durch die Forderung, deutlich mehr Geld in den zivilen Aufbau zu investieren, aufgefallen. Als im August Obama beim Kongreß 68 Milliarden Dollar für den Afghanistan-Krieg beantragte, verlangte Eikenberry, die in dieser Summe für zivile Projekte vorgesehenen 4,1 Milliarden um weitere 2,5 Milliarden zu erhöhen.

Wie Elisabeth Bumiller und Mark Landler in der heutigen NYT-Ausgabe unter der Überschrift "U.S. Envoy Urges Caution on Forces for Afghanistan" (US-Gesandter rät zur Vorsicht in Bezug auf Streitkräfte für Afghanistan") berichten, kennen sich Eikenberry und McChrystal aus Afghanistan, als ersterer zwischen 2005 und 2007 Oberbefehlshaber war und letzterer als Leiter des Joint Special Operations Command Geheimoperationen sowohl am Hindukusch als auch im Irak durchführen ließ. Dazu Bumiller und Landler: "Ihr Verhältnis, erklärte letztes Jahr ein ranghoher Militärbeamter, war häufig gespannt, da General McChrystal auf die Bewilligung von Kommandooperationen drängte, während sich General Eikenberry ihm aus Sorge, daß die Einsätze zu riskant waren oder zivile Opfer fordern könnten, häufig widersetzte."

Im NYT-Bericht hieß es, die Obama-Regierung diskutiere derzeit über vier militärische Optionen für Afghanistan: die Entsendung von 40.000, 30.000, 20.000 oder 10.000 bis 15.000 Mann. Hierzu schreiben Bumiller und Landler:

Beamte des Pentagons erklärten, die unterste Option von 10.000 bis 15.000 Mann würde keine bis gar keine Aufstockung der US-Kampftruppen in Afghanistan bedeuten. Der Großteil der zusätzlichen Soldaten wäre mit der Ausbildung der afghanischen Armee befaßt, während sich eine kleinere Anzahl auf die Jagd und das Töten von Terroristen konzentriere, sagten die Beamten.

Mit der untersten Option würde man im Prinzip der von General McChrystal konzipierten, weit ehrgeizigeren Aufstandsbekämpfungsstrategie, welche eine große Anzahl von Soldaten vorsieht, um die afghanische Bevölkerung zu schützen, Entwicklungsprojekte voranzutreiben und die zivilen Institutionen des Landes aufzubauen, eine Absage erteilen.

Gerade jene "unterste Option" soll es gewesen sein, welche Obama und sein Kriegsrat am Nachmittag des 11. November im Situation Room des Weißen Hauses besprachen. Über den Verlauf dieses Strategiegesprächs, zu dem Botschafter Eikenberry aus Kabul offenbar zugeschaltet war, heißt es in der New York Times:

Während des Treffens am Mittwoch fragte Herr Obama General Eikenberry zu seinen Sorgen und stellte Fragen zu jeder der vier militärischen Optionen und wie sie verbessert oder verändert werden könnten. Laut Regierungsvertretern zielten die Fragen von Herrn Obama darauf ab, zu erfahren, wie lange es dauern würde, bis man Ergebnisse sehe und mit dem Abzug beginnen könne.

"Er will wissen, wo die Abfahrt ist", sagte ein Regierungsvertreter.

In einer eigenen Einschätzung der Bedeutung der Lanzierung von Eikenberrys geheimem Memorandum an die Presse meinte Adam Brookes, Washingtoner Korrespondent des staatlichen britischen Rundfunks, am 12. November in einem Beitrag für den BBC World Service, damit hätten die Realisten im Obama-Kabinett die Frage nach der Exit-Strategie in den Mittelpunkt der Afghanistandebatte gerückt. Petraeus, McChrystal und ihren neokonservativen Bewunderern zum Trotz sei damit der Einstieg in den Ausstieg angestoßen worden, so Brooks.

12. November 2009