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USA/1269: Seltsamer Raketenstart vor Los Angeles sorgt für Wirbel (SB)


Seltsamer Raketenstart vor Los Angeles sorgt für Wirbel

Hat das Weiße Haus das Atomarsenal der USA noch unter Kontrolle?


Die Bilder eines sich aufbauenden Kondensstreifens, die Kameraleute eines Verkehrsbeobachtungshubschraubers der Los-Angeles-Filiale des Fernsehsenders CBS am 8. November beim Sommenuntergang über dem Pazifik aus einer Entfernung von rund 50 Kilometern aufgenommen haben und in den Lokalnachrichten ausgestrahlt wurden, haben in den USA und darüber hinaus heftig Spekulationen hinsichtlich der Ursache der Erscheinung ausgelöst. Der Grund für die vielen Spekulation ist einfach: trotz mehrfacher Anfrage seitens der Medien hat keine der zuständigen Behörden, deren Aufgabe es ist, für die Sicherheit der USA bzw. deren Luftraum zu sorgen, sich imstande gezeigt, eine plausible Erklärung für das sonderbare Phänomen zu präsentieren. Drei Tage danach gilt das Rätsel offiziell noch als ungelöst.

Von Anfang an standen den Laien und den Experten, welche die spektakulären KCBS-Aufnahmen entweder im Fernsehen oder im Internet bei Youtube angeschaut haben, zwei Erklärungsmuster zur Auswahl. Das aus der Entfernung schwer erkennbare und folglich fast unmöglich zu identifizierende Objekt, das den Kondensstreifen produziert, ist entweder ein Düsenflugzeug oder eine Rakete gewesen. Zu den Vertretern ersterer These gehört der Rüstungsexperte John Pike von der Denkfabrik Globalsecurity.org, der am 9. November von Noah Shachtman auf dessen vielbeachtetem Blog Danger Room bei der Onlineausgabe der Technologiezeitschrift Wired dahingehend zitiert wurde, der Kondensstreifen entströme eindeutig einem Flugzeug. Der Eindruck, die Bilder zeigten einen Raketenstart, täusche; zwar steige der Kondensstreifen im Bild von unten nach oben, aber nicht, weil das Flugobjekt in den Himmel steige, sondern weil es sich lediglich durch die Luft über den Kameramann hinweg bewege; alle anderen Interpretationen seien Spinnerei, so Pike. In dem Artikel "Mystery vapor trail over California was left by plane, not missile, experts say", der am 10. November in der regierungsnahen Washington Post erschienen ist, haben sich mehrere von John Pomfret zitierte Experten, darunter auch Pike, für die These vom Flugzeug als einzig mögliche Quelle des Kondensstreifens stark gemacht.

Das Problem mit dieser Theorie ist jedoch, daß den zuständigen Behörden, darunter die zivile Federal Aviation Authority (FAA) und das militärische North American Aerospace Defense Command (NORAD), keine Hinweise auf die Anwesenheit eines Flugzeugs in der fraglichen Zeit in der fraglichen Gegend vorliegen sollen. Doch es kommt noch schlimmer. Weder die FAA noch NORAD wollen überhaupt etwas registriert haben, aus dem man Aufschluß über die Ursache des Kondensstreifens erhalten könnte. Das hielt NORAD nicht davon ab, am 9. November zusammen mit dem United States Northern Command (NORTHCOM) eine Erklärung herauszugeben, in der es in Bezug auf den sonderbaren Kondensstreifen und das ihn verursachende Flugobjekt hieß: "Wir können bestätigen, daß es keine Bedrohung unserer Nation gab, und es deutet alles darauf hin, daß es sich um keinen Raketenstart eines ausländischen Militärs handelt."

Die inhaltliche Dürftigkeit der gemeinsamen NORAD-NORTHCOM-Stellungnahme hat den Verdacht derjenigen, die in den Aufnahmen das erste Segment des Flugs einer Rakete zu sehen meinen, bestärkt. Das gleiche gilt für die Beteuerungen der US-Marine, der US-Luftwaffe und der NASA, die vor der Küste Kaliforniens - von Basen entweder auf dem Festland oder den Los Angeles vorgelagerten Channel Islands oder von Schiffen und U-Booten aus - regelmäßig Raketentests durchführen, daß sie mit dem wundersamen Himmelsphänomen nichts zu tun gehabt hätten.

In einem Artikel, der am 9. November erschienen ist, hat die Onlinezeitung Christian Science Monitor der Analyse Theodore Postols breiten Raum gegeben. Schließlich gilt der Professor für Wissenschaft, Technologie und internationale Beziehungen am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT), der in den achtziger Jahre Raketenabwehrsysteme für die Kriegsschiffe der US-Marine entwickelte, als der führende Kritiker des vom Pentagon und der amerikanischen Rüstungsindustrie propagierten, bodengestützten Ballistic Missile Defense System (BMD). Gegenüber Pete Spotts vom Christian Science Monitor gab sich Postol "sicher", daß auf den Aufnahmen "nicht der Kondensstreifen eines Flugzeugs" festgehalten wurde. Für ihn sah das Objekt, das den Kondensstreifen hinter sich herzieht, "wie eine große Rakete aus".

Darüber hinaus meinte Postol in dem Kondensstreifen Verwirbelungen zu erkennen, die denen ähnelten, welche moderne Feststoffraketen wie die u-boot-gestützte, ballistische Interkontinentalrakete Trident II der Marinen Großbritanniens und der USA, im Flug aufweisen. Weil eine solche Rakete so schnell unterwegs ist, wäre sie auf dem Radar der FAA wie ein einmaliger Punkt aufgetaucht und daher vermutlich als Störeffekt abgetan worden; dagegen hätten die Frühwarnsatelliten NORADS den Flug des Objekts, das den Kondensstreifen produzierte, "zweifelsohne beobachtet", so Postol. In einem Artikel, der am 10. November bei der Times of London erschienen ist, gab sich Doug Richardson, Chefredakteur der weltweit anerkannten Militärfachzeitschrift Jane's Missiles and Rockets, ebenfalls davon überzeugt, daß die Bilder eine Feststoffrakete zeigen, die entweder von einem Schiff oder einem U-Boot gestartet worden ist. "Man kann es am Ausstoß erkennen", so Richardson.

In einem eigenen, am 10. November erschienenen Beitrag zur Diskussion hat der private US-Nachrichtendienst Stategic Forecasting (Stratfor) die Flugzeugthese als unplausibel abgetan und dem Pentagon Geheimnistuerei vorgeworfen. "Angesichts der Informationen, die uns vorliegen, einschließlich der Tatsache, daß das US-Militär in dieser Gegend routinemäßig Raketentests durchführt, deutet alles auf einen Raketenstart der Vereinigten Staaten hin. Doch warum bestreitet man sein Wissen über etwas, das ein ziemlich routinemäßiger Start zu sein scheint, zu einem Zeitpunkt, als der Präsident außer Landes war?"

Bei einem Auftritt bei KCBS hatte bereits am 8. November Robert Ellsworth, der unter Richard Nixon NATO-Generalsekretär und unter Gerald Ford Stellvertretender US-Verteidigungsminister war, als erster den Kondensstreifen als Begleiterscheinung des Starts einer see- bzw. u-bootgestützten Interkontinentalrakete identifiziert und den Vorfall als Machtdemonstration des US-Militärs für die aufstrebenden Mächte Asiens interpretiert, durch deren Länder Präsident Barack Obama gerade reiste. Laut Ellsworth hätten die USA während des Kalten Krieges im Atlantik solche Raketenstarts durchgeführt, um die eigene Kampfbereitschaft der Führung der Sowjetunion vor Augen zu führen; nun würde man erstmals im pazifischen Raum zu demselben Mittel greifen.

Wie nahe Ellsworth mit seiner Deutung der Wahrheit gekommen ist, läßt sich nicht sagen. Bedenklich stimmt jedenfalls die Reaktion des US-Militärs, das von nichts wissen wollte, und des Weißen Hauses, von dem es gar keine öffentliche Stellungnahme gab. Wie die World Socialist Web Site herausgefunden hat und am 11. November publik machte, hatte die FAA wenige Stunden vor dem mutmaßlichen Raketenstart eine offizielle Warnung an alle Piloten - Notice to Airmen (NOTAM) - herausgegeben, die sich auf geplante Raketentests der Naval Air Warfare Center Weapons Division (NAWCWD) am nächsten Tag in der fraglichen Region um die vor Los Angeles vorgelagerten Inseln bezog. Dieser Umstand läßt die Möglichkeit aufkommen, daß man es hier mit einem frühzeitigen, unbeabsichtigten Start einer Rakete zu tun hat - wobei sich die Frage stellt, ob so etwas angesichts der zahlreichen Kontrollmechanismen überhaupt möglich ist.

Der Raketenstart von der Bucht von Los Angeles stellt jedenfalls eine weitere jener sonderbaren "Fehloperationen" beim US-Militär dar, die ernsthafte Fragen hinsichtlich der Sicherheit des amerikanischen Atomwaffenarsenals aufkommen lassen. Im August 2007 wurde in Louisiana am Golf von Mexiko bei einem B-52-Bomber, der gerade aus North Dakota nahe der kanadischen Grenze gekommen war, festgestellt, daß sechs Atomraketen noch unter den Tragflächen hingen. Der Flug verstieß damit gegen sämtliche Sicherheitsregeln und sorgte für einen handfesten Skandal. Und bei einem Stromausfall am 26. Oktober auf einem Luftwaffenstützpunkt in Wyoming gingen 50 Interkontinentalraketen - ein Fünftel des aktiven strategischen Atomwaffenarsenals der USA - für mehrere Stunden offline. Man muß sich wünschen, daß hinter solchen Vorfällen nur technisches oder menschliches Versagen verbirgt und nicht Schlimmeres im Sinne von Machtspielen hinter den Kulissen oder mittelbaren Kriegsvorbereitungen.

12. November 2010