Washington - Unruhen provoziert und befördert ...
"Der Ku Klux Klan kommt in die amerikanische Flagge gehüllt, sozusagen die amerikanischen Prinzipien predigend mit einer Bibel in der Hand ..." Diese Worte stammen zwar aus dem Jahr 1923, ausgesprochen von Lonnie Jackson, damals Bürgermeister von Central City in Kentucky und Vorsitzender des 23. Bezirks der United Mine Workers of America, aber sie passen perfekt zu der beschämenden Episode, die sich am Abend des 1. Juni 2020 in der US-Hauptstadt Washington zugetragen hat. Präsident Donald Trump ließ friedliche Demonstranten, die im Lafayette Park gegen rassistisch-motivierte Übergriffe der Polizei und die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd eine Woche zuvor in Minneapolis protestierten, von bewaffneten Polizisten sowie Soldaten der regulären Streitkräfte gewaltsam vertreiben, um einen kurzen Spaziergang durch die Grünanlage zur anglikanischen Kirche Saint John's machen zu können und sich vor dem wegen der jüngsten Unruhen verbarrikadierten Gotteshaus mit hochgehaltener Bibel in der Hand fotografieren zu lassen.
Auf den Auftritt des Republikaners Trump haben der Pastor der St.-John's-Gemeinde und die Erzbischofin von Washington, die beide vorab weder informiert noch gefragt worden waren, wie auch der Primus der Episkopalkirche der USA entsetzt reagiert und den Mißbrauch des heiligsten jüdäo-christlichen Symbols, der Bibel, zu politischen Zwecken heftig kritisiert. Demokraten und gemäßigte Republikaner sahen im Knüppel- und Tränengaseinsatz gegen die Teilnehmer der Protestkundgebung einen Frontalangriff auf das in der US-Verfassung verbriefte Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Auch wegen des Einsatzes der regulären Streitkräfte im Innern stehen Justizminister William Barr und Verteidigungsminister Mark Esper in der Kritik.
Barr soll den Einsatz gesetzlich ermöglicht haben, indem er die für das Weiße Haus geltenden Sicherheitsbestimmungen kurzfristig auf den Lafayette Park und die unmittelbar nördlich daran angrenzende St. John's ausgeweitet hat. Barr und Esper begleiteten zusammen mit Trump-Tochter Ivanka, Schwiegersohn Jared Kushner und Pressesprecherin Kayleigh McEnany den Präsidenten beim kurzen Gang - drei Minuten hin und drei Minuten zurück. Mark Milley, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, dirigierte im Tarnanzug die skurrile Operation persönlich vor Ort. Aus Protest gegen die Aktion trat James Miller, der von 2012 bis 2014 Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium war, als Mitglied des wissenschaftlichen Rats des Pentagons zurück und warf Esper in der Washington Post vor, bei einem eklatanten Verstoß gegen die US-Verfassung mitgewirkt zu haben. Miller warnte Esper vor der Gefahr, daß Trump in den kommenden Tagen den Befehl erteilen könnte, die US-Streitkräfte gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, und appellierte an den Pentagon-Chef, sich in einem solchen Szenario der illegalen Anweisung zu widersetzen.
Das alles kann Trump nicht kratzen. Der zwielichtige Immobilienhai, der im präsidialen Wahlkampf 2016 gegen Hillary Clinton seine Anhängerschaft offen zu Handgreiflichkeiten gegen politische Gegner und kritische Journalisten aufrief, 2017 bei einer Rede in seiner Heimatstadt der New Yorker Polizei unter tobendem Gejohle Hunderter blauuniformierter Beamten empfahl, bei der Festnahme von Verdächtigen nicht allzu zimperlich zu Werke zu gehen, und im selben Jahr eine gewalttätige Horde von KKK-Logenbrüdern und tätowierten Neonazis in Charlottsville, Virginia, nachdem einer von ihnen mit seinem Auto in eine Gruppe linker Gegendemonstranten gefahren war und eine junge Frau getötet hatte, als "gute Leute" bezeichnete, weiß ganz genau, was sein Fußvolk von ihm hören will.
Noch im April, auf dem ersten Höhepunkt der Corona-Virus-Epidemie in den USA, forderte Trump die braven Bürger in Michigan, Minnesota und Virginia, wo die demokratischen Gouverneure wegen der Lungenkrankheit Covid-19 strenge Ausgangsregeln verhängt hatten, per Twitter dazu auf, ihre jeweiligen Bundesstaaten "zu befreien" und ihren "zweiten Zusatz" - das verfassungsmäßige Recht auf Waffenbesitz - "zu retten". Prompt machten nicht nur in diesen Bundesstaaten Trumps weiße Bewunderer schwer bewaffnet mobil und besetzten zeitweise das Kongreßgebäude in Lansing, Michigan. Wegen der Gefahr einer gewaltsamen Auseinandersetzung sah sich die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitner, sogar dazu gezwungen, eine Sitzung des Kongresses abzusagen. Das Gewaltmonopol des Staates war durch Trumps Sturmabteilung ausgehebelt worden.
Von einigen Floskeln des Bedauerns und einem obligatorischen Telefonat mit George Floyds Familie - deren Angaben zufolge sie praktisch nicht zu Wort kam, da der Präsident immer nur auf sie einredete -, einmal abgesehen, hat Trump nichts unternommen, um die Gemüter von Millionen schockierter Bürger angesichts der Mordtat von Minneapolis, bei der der Polizist Derek Chauvin neun Minuten lang vor laufender Handy-Kamera einer Passantin mit dem Knie auf dem Hals seinem am Boden liegenden, um Gnade flehenden und um Luft ringenden Opfer das Leben ausquetschte, zu beruhigen. Das Gegenteil ist der Fall. Seit es bei den Protesten zu ersten Ausschreitungen und Plünderungen gekommen ist, befindet sich Trump rhetorisch auf dem Kriegspfad, beschimpft die "nicht-friedlichen" Demonstranten als "Terroristen" und droht ihnen mit "beißenden Hunden", "ominösen Waffen" und der vollen Härte der US-Militärmaschinerie.
Dabei mehren sich die Hinweise, daß die Gewalttätigkeiten und der Vandalismus, die seit Tagen zu nächtlichen Ausgangssperren in mehr als zwei Dutzend US-Großstädten geführt haben, von Personen ausgehen, die lediglich als linke Antifa-Aktivisten getarnt sind. Das berüchtigtste Beispiel ist der sogenannte Umbrella Man, der am zweiten Tag der Proteste in Minneapolis schwarzgekleidet, mit Gasmaske und Hut sowie einem geöffneten schwarzen Regenschirm in der einen Hand und einem Fäustel in der anderen die großen Schaufenster der örtlichen Filiale der Kfz-Ersatzteilkette AutoZone einschlug. Als Demonstranten ihn an seinem Zerstörungswerk hindern bzw. seine Identität feststellen wollten, verließ der großgebaute Mann, der sich extrem selbstbewußt wie ein kampferfahrener Angehöriger der Spezialstreitkräfte oder Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdiensts à la Black Water benahm, ganz seelenruhig und wortlos den Ort über einen nahegelegenen, weitläufigen Parkplatz.
Auch wenn es Bürgerrechtsorganisationen, Lokalpolitikern und örtlicher Polizei in einer Reihe von Städten wie Newark, New Jersey und Flint, Michigan, durch Vereinbarungen und gegenseitige Rücksichtsnahme gelungen ist, die Protestaktionen friedlich ablaufen zu lassen, sieht es in den meisten Metropolen der USA ganz anders aus. Zahlreiche übermäßige Gewaltanwendungen seitens der Polizei nicht nur gegen Demonstranten, sondern auch gegen Journalisten werden gemeldet. Im New Yorker Stadtteil Brooklyn sind Polizisten mit zwei Geländewagen in den Protestzug hineingefahren. Dafür setzte es Kritik seitens des demokratischen Gouverneurs Andrew Cuomo. Aus New York und Tennessee kursieren Fotos von schwer bewaffneten Polizisten, die das Taucherzeichen für "OK" statt nach oben nach unten zeigen und sich damit offen als Anhänger der rechtsradikalen, trumpnahen QAnon-Verschwörungsbrigade - vergleichbar dem Prepper-Netzwerk Hannibal in Deutschland - zu erkennen geben.
In seiner Rede, die er unmittelbar vor dem Gang zur St. John's Church im Rosengarten des Weißen Hauses hielt, hat Trump von den demokratischen Gouverneuren und Bürgermeistern an der Ostküste sowie an den Großen Seen mehr Härte gegen die "Anarchisten" in ihren Städten verlangt und mit der Entsendung regulärer Kampftruppen gedroht, falls sie seinem Rat nicht folgten. Damit verschärft sich der Konflikt zwischen dem sich immer autoritärer gebenden Trump und der demokratischen Opposition im Lande erheblich. Bei der Rede hat Trump sich selbst zum "Präsidenten für Law and Order" hochstilisiert und erneut versprochen, das Recht auf Waffenbesitz zu verteidigen. Das war ein ganz klares Signal an die eigene Anhängerschaft, die sich zum Teil "Boogaloo Bois" nennt, sich mit ihren Pistolen und Gewehren den dem Weißen Haus hörigen Elementen bei Polizei und Streitkräften anzuschließen. Am Tag darauf wurden aus Philadelphia erste bewaffnete Überfälle weißer Lynch Mobs auf Demonstranten gemeldet. Angesichts der aktuellen Entwicklung geben die Worte Joe Lockharts, des ehemaligen Pressesprechers Bill Clintons, der bei CNN am 2. Juni sagte, er habe die Unruhen nach der Ermordung von Robert Kennedy und Dr. Martin Luther King jun. 1968 sowie wegen des Vietnamkriegs erlebt, doch in seinem ganzen Leben noch nie so viel Angst um die Zukunft seines Landes gehabt wie heute, sehr zu denken.
3. Mai 2020
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