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BERICHT/065: Eurokrake Sicherheit - Barrikadenfragen aus sozialwissenschaftlicher Sicht (SB)


Two sides of a barricade

Workshop auf dem entsichern-Kongreß in Berlin am 30. Januar 2011



Überwachungskamera am Bundeskanzleramt - © 2011 by Schattenblick

Unsichtbare Beobachter ... Passivität in ihrer aggressivsten Form
© 2011 by Schattenblick

"Two sides of a barricade" lautete der Titel eines Workshops auf dem entsichern-Kongreß in Berlin. Ihm lag die gleichnamige Dissertation des Referenten Kriss Scholl zugrunde, eines seit vielen Jahren in den Niederlanden tätigen Sozialwissenschaftlers, der die Ergebnisse seiner Studien bei dieser Gelegenheit erstmals in deutscher Sprache dem interessierten Publikum zur Kenntnis brachte. Gleich zu Beginn des Workshops stellte Scholl klar, daß er keine Arbeit über soziale Bewegungen schreiben wollte, was im übrigen, wie er ironisch anfügte, die Sicherheitsbehörden viel besser könnten, weil sie genauer wüßten, wer sich in den letzten Jahren wann wo aufgehalten habe. Wer eine akademische Studie über soziale Bewegungen mache, befände sich, so Scholl, in einem Machtverhältnis nicht unähnlich dem der Aktivisten auf der Straße. Der Titel der Dissertation - zwei Seiten einer Barrikade - sei nicht deskriptiv zu verstehen, sondern auf die Praxis des Schreibens und Forschens bezogen, wobei das Interesse des Referenten darin bestanden habe, zu Ergebnissen zu kommen, die für politische Aktivisten, nicht so sehr jedoch die andere Seite, relevant seien.

Scholls Idee bestand darin, ausgehend von der aktivistischen Praxis der Frage nachzugehen, was die Gegenseite mache, um diese Praxis unmöglich zu machen oder in andere Richtungen zu leiten. Die Hauptfrage seiner Arbeit richtete sich auf die in den zurückliegenden zehn Jahren nachlassende Effizienz der Gipfelproteste, was der Referent damit zu erklären suchte, daß eine Serie von Adaptionen auf seiten der Sicherheitsbehörden dazu geführt habe, daß taktische Innovationen der Bewegung unschädlich gemacht werden konnten. Der gewählte Titel - Two sides of a barricade - trägt dem Umstand Rechnung, daß der Referent das Hauptaugenmerk der Dissertation auf die Interaktion, also das Zusammenspiel bzw. das Wechselwirkungsgeflecht zwischen Polizei und AktivistInnen gerichtet hatte. Man könne sich viele Aspekte im Spannungsfeld zwischen sozialen Bewegungen, Repression und Polizeiarbeit anschauen oder auch "eine Art Emotionssoziologie" betreiben; ihm jedoch sei es in erster Linie um die taktische Interaktion gegangen. Wie kommt diese Interaktion überhaupt zustande, wie wird sie koordiniert? Inwieweit wurde die Interaktion, die sich heute feststellen läßt, von früheren Erfahrungen der Sicherheitsbehörden beeinflußt und inwieweit wird diese zu neuen taktischen Maßnahmen und Entwicklungen führen können?

Scholl zufolge heißt Interaktion in diesem Zusammenhang "mindestens zwei Seiten einer Barrikade", was allerdings eigentlich "ein bißchen" falsch sei, weil bei Protesten nicht nur zwei, sondern sehr viele Parteien beteiligt seien, die das Geschehen konstituieren, beeinflussen und beobachten. Da der Kernkonflikt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen wie die der hier thematisierten Proteste gegen die Gipfelveranstaltungen der zurückliegenden zehn Jahre jedoch bei aller Diversität der beteiligten AktivistInnen bzw. Organisationen auf genau zwei Seiten, nämlich die der Repressionsorgane und die des Protestes bzw. Widerstands, heruntergebrochen werden kann, trägt der Hinweis auf "sehr viele" ins Geschehen involvierte Parteien nicht unbedingt zur klärenden Zuspitzung dieser im Grunde recht überschaubaren (Gewalt-) Frage bei.

Im Ankündigungstext zu dem Workshop war bereits die "immer bessere Anpassung" der Verfolgungsbehörden "an neue Taktiken des Widerstands" formuliert worden, womit ungeachtet der eigentlich noch ungelösten Kernfrage nach der taktischen Interaktion der Polizeiseite die reagierende und der Aktivistenseite die agierende, kreative Rolle in diesem Wechselspiel zugeordnet wurde. Wie allerdings angesichts eines solchen Geflechts oder vielmehr Gestrüpps sich wechselseitig bedingender und wieder bedingender Faktoren eine solch scharfe Trennlinie überhaupt noch gezogen werden könne, ist eine Frage, die auf dem Workshop nicht näher thematisiert wurde.

Müßte aus aktivistischer Sicht nicht kritisch/selbstkritisch in Erwägung gezogen werden, daß sich infolge dieser "Interaktion", also durch das Reagieren auf das Reagieren der anderen Seite, das seinerseits eine Adaption der gegnerischen Kreativität darstellt usw., längst ein wenn auch ungewollter Prozeß gegenseitiger Annäherung und Angleichung manifestiert hat, der dem Anspruch selbstbestimmten Handelns entgegensteht? Obgleich auf diesem Workshop die Geschichte der Repression seit dem "Summer of Resistance" (2001) thematisiert und dabei die Feststellung getroffen wurde, daß "es den Polizeien immer besser gelingt, unerwartete Überraschungen vorhersehbar und vorausschauend unmöglich zu machen", lautete die Fragestellung lediglich, "unter welchen Bedingungen kreativer Widerstand erfolgreich bleibt".

Und müßten TeilnehmerInnen wie InitiatorInnen weiterer Gipfel- oder sonstiger Proteste nicht auch der Möglichkeit ins Auge sehen, bei ihren taktischen Überlegungen und der Frage nach den Bedingungen kreativen Widerstands unwillentlich und unwissentlich Vorgaben zu erfüllen, die die andere Seite ihnen mittels dieses wechselseitigen Reaktionsgefüges gemacht hat? Das Dilemma linksaktivistischer Politik zwischen nachlassender Relevanz auf der einen und dem Anliegen, den Sicherheitsbehörden ungeachtet ihrer durchaus erfolgreichen taktischen Adaptionen das Terrain widerständischen Handelns nicht zu überlassen, auf der anderen Seite ist auf dem Workshop durchaus deutlich geworden. Taktische Innovationen auf der Seite der Protestierenden laufen angesichts der aufgezeigten Mechanismen und bereits feststellbaren Adaptionen seitens der Polizeibehörden stets Gefahr, ebenfalls vereinnahmt und ihres Überraschungsmoments entledigt zu werden.

Kriss Scholl schlug vor, den in diesem Zusammenhang geläufigen und auch für AktivistInnen, wie er zugestand, nützlichen Begriff der Repression durch den der sozialen Kontrolle zu ersetzen. Der Sozialwissenschaftler begründete diese Begriffskritik damit, daß in der Gegenliteratur mit Repression einfach alles, womit dem Gegner ein Hindernis in den Weg gelegt werde, gemeint sei. Dies sei eine relativ breite Definition, die nicht genüge, um zu beschreiben, was die Polizei mit DemonstrantInnen mache. Mit einem solchen Begriffsverständnis könnten dann auch die "Logiken" beider Akteure, sowohl der Polizei als auch der AktivistInnen, beschrieben werden.

Um seinen eigenen Forschungsansatz durch Kontrastierung zu veranschaulichen, führte Scholl die klassische soziologische Polizeiliteratur an und wählte als repräsentatives Beispiel für deren Herangehensweise eine Studie Donatella della Portas, einer Professorin für Soziologie an der European University Institute Florenz, die in Sachen Extremismusforschung auch für die EU beratend tätig ist, über 30 Jahre Polizeirepression gegen linke Bewegungen am Beispiel Deutschlands und Italiens. Gestützt auf Polizeidossiers habe die Sozialwissenschaftlerin zusammengetragen, wie oft und wie brutal DemonstrantInnen bei Demonstrationen von der Polizei zusammengeschlagen wurden. So entstand eine Repressionsgeschichte Deutschlands mit Kategorien wie "harte" und "weniger harte", "offene" und "weniger offene" Repression. Alles in Kategorien zu unterteilen, sei nun einmal, so Scholl, die "typische soziologische Tendenz", doch dadurch verstehe man nicht, was wirklich vor sich gehe. Zu begreifen, wie die Kontrolle tatsächlich ausgeübt und organisiert wird, war das Anliegen des Referenten; für diesen Zweck erschien ihm der Begriff "soziale Kontrolle" besser geeignet als "Repression", weil er präziser angebe, worum es gehe.

Seiner Begründung, daß sich der Begriff "soziale Kontrolle" nicht nur auf die "extrem sichtbaren und harten Formen von Repression" richte und deshalb zum Nachdenken darüber stimuliere, wie Kontrolle im weitesten Sinne funktioniere, ließe sich entgegenhalten, daß dementsprechend auch das Verständnis des Begriffs Repression hätte ausgeweitet werden können, um zu klären, daß dazu nicht nur Knüppel und Tränengas gehörten. Aus diesem Grund müßte der Begriff "Repression" nicht durch "soziale Kontrolle" ersetzt werden, zumal Repression im klassischen Wortverständnis die Unterdrückung von Kritik, politischen Bewegungen und ähnlichem (Duden) bedeutet, also noch "dichter dran" ist an der politischen Qualität staatlich- repressiven Handelns, während (soziale) Kontrolle etwas allgemeiner als (gesellschaftliche, die Gemeinschaft betreffende) Überwachung, Überprüfung oder Beherrschung interpretiert wird. Diese Thematik wurde auf dem Workshop nicht weiter thematisiert, stand dieser doch ganz im Zeichen der Frage, wie die verschiedenen Mechanismen sozialer Kontrolle bzw. der Repression ineinandergreifen und -wirken.

Scholl hatte in seiner Dissertation bei der Untersuchung der Interaktion zwischen aktivistischem Handeln und sozialer Kontrolle auf den Begriff des "Störers" bzw. "störendes" Verhalten abgestellt aus einem, wie er sagte, wichtigen Grund. Als Beispiel der seit den 1960er und 1970er Jahren entstandenen, umfangreichen Literatur über soziale Bewegungen nannte er das Buch "Poor People's Movement - Why They Succeed, How They Fail" von Frances Fox Piven und Richard A. Cloward aus dem Jahre 1977, das in deutscher Übersetzung 1986 bei Suhrkamp unter dem Titel "Aufstand der Armen" erschienen war. In ihm wurden soziale Bewegungen und ihre Mobilisierungen untersucht mit dem Ergebnis, daß ihre zentrale Kraft in ihrer "störenden Kapazität" läge.

Dieses Begriffsverständnis von "Störer" bzw. "Störung" erläuterte der Referent so, daß soziale Bewegungen auf der Kraft beruhten, das, was als normal gelte, durch ihr störendes Auftreten zu "denormalisieren" und auf diese Weise die bestehende Ordnung zu unterminieren. Dementsprechend habe er in seiner Dissertation den Versuch unternommen, konkret herauszuarbeiten, warum derartige "Störungen" gerade bei großen Gipfelereignissen für wichtig erachtet werden. Diese "Sand-im-Getriebe-Idee" stelle aus Sicht der GipfelgegnerInnen ein mögliches Störmanöver der im Schwange befindlichen Konstituierung globaler Hegemonie dar, die auf diesem Wege erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht werden könne.

Ein weiterer wesentlicher Bestandteil in Scholls auf diesem Workshop präsentierten Dissertation stellte der Begriff "Biopolitik" dar, den der Referent, wie er einräumte, von dem französischen Intellektuellen, Philosophen und Psychologen Michel Foucault übernommen hatte. Biopolitik mag vielleicht nach Reformhaus, Biotechnik, Biosphäre und was der Bio-Anhängsel mehr sein mögen klingen; gemeint ist jedoch im Foucault'schen Sinne ein bestimmtes Verständnis von sozialer Kontrolle. Scholl machte darauf aufmerksam, daß dieser Begriff, der zur Zeit viel zirkuliere und diskutiert werde, oft ziemlich ungenau und unverständlich benutzt werde. Sein Anliegen bestand darin, ihn für seine eigenen sozialwissenschaftlichen Studien etwas konkreter zu fassen, weil er ihn für die grundlegenden Fragen danach, wie soziale Kontrolle funktioniere und wie sie verändert werde, als nützlich erachte.

Den Begriff "Biopolitik" habe Foucault eingeführt, um zu zeigen, daß es verschiedene Machttypen gäbe, die unterschiedlich operierten. Als Beispiele nannte der Referent die souveräne, die disziplinäre und eben die biopolitische Macht. Dazu führte er aus, daß unter souveräner Macht die Idee des Gewaltmonopols eines Staates über ein bestimmtes Territorium zu verstehen sei, die sich als eine Frage von Leben und Tod in einem sehr repressiven Verständnis auch auf Individuen richte und auf Zwang und Gewalt beruhe. Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts habe sich Foucault zufolge daneben eine Disziplinarmacht entwickelt, die stärker auf das Verhalten der Individuen abstelle und über eine disziplinierende Handhabung in Institutionen wie Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen, die sich nicht von ungefähr immer mehr dem Militär anglichen, versuche, das Verhalten der Individuen pro-aktiv zu formen.

Der Idealfall dieses Machttypus' wäre die unhinterfragte Befolgung disziplinarischer Anweisungen durch die Individuen, wofür der Referent als anschauliches Beispiel ein rundes Gefängnis in Harlem bei Amsterdam mit einem Turm in der Mitte anführte. Aufgrund dieser spezifischen Architektur können die Gefangenen ständig beobachtet werden, was im aus Sicht der Gefängnisverwaltung bestmöglichen Fall selbst dann funktioniere, wenn gar kein Wächter im Turm sitze. Dieses Beispiel soll die Verinnerlichung der sozialen Kontrolle veranschaulichen ganz so, als ob der hier unverkennbar zu Tage tretenden Angst der Gefangenen vor Strafe nicht die Realerfahrung einer Bestrafung zugrundeläge, weshalb das Problem so einfach, wie hier angedeutet, nicht zu lösen sein dürfte. Scholl zog eine Parallele von der verinnerlichten Anpassung der Gefängnisinsassen zu Verhaltensweisen, die bei Demonstrationen hierzulande oftmals zu beobachten seien, wenn noch so unsinnige und schikanöse Auflagen seitens der Behörden massenhaft und unhinterfragt befolgt werden.

Das Beispiel des Rundgefängnisses oder auch Panopticons geht unmittelbar auf Foucault zurück, der darauf 1975 seine Theorie von der Umstellung der Strafen im modernen Strafvollzug, in dem Körperstrafen, Martern und Folterungen durch die Diszplinierung des einzelnen durch Beobachtung und Befehl - bei fortgesetzter Gewaltandrohung - ersetzt wurden, gegründet hatte. Mit diesen Arbeiten und seinem öffentlichkeitswirksamen Eintreten für die Rechte gefangener Menschen in Frankreich - Foucault hatte die "Gruppe zur Information über die Gefängnissituation in Frankreich" (Groupe D'Information sur les Prisons, GIP) gegründet - wie auch seinem sonstigen Wirken war es dem Philosophen-Psychologen, über dessen Einordnung ins strukturalistische oder poststrukturalistische Denker-Lager gegensätzliche Auffassungen bestehen, seinerzeit offensichtlich gelungen, sich auch in der Linken einen Namen zu machen. In einem Interview, das Michel Foucault, der auch auf dem Berliner entsichern-Kongreß über eine starke Anhängerschaft verfügte, 1976 dem Westdeutschen Rundfunk gegeben hatte, äußerte sich der mutmaßlich linksradikale Vordenker folgendermaßen [1]:

Ja, ich möchte gerne die Geschichte der Besiegten schreiben. Das ist ein schöner Traum, den viele haben: endlich einmal die zu Wort kommen lassen, die es bislang nicht konnten, die von der Geschichte, von der Gewalttätigkeit der Geschichte zum Schweigen gezwungen wurden: von allen Herrschafts- und Ausbeutungssystemen. Ja. Aber es gibt zwei Schwierigkeiten. Erstens: diejenigen, die besiegt worden sind, falls es Besiegte überhaupt gibt, ist per Definition das Wort vom Mund genommen worden, und falls sie dennoch sprachen, dann sprachen sie nicht ihre eigene Sprache. Man hat ihnen eine ihnen fremde Sprache aufgezwungen. [...] Zweitens: Ich möchte fragen: Darf man die Geschichte als Kriegsprozess beschreiben, als Folge von Siegen und Niederlagen? [...] Kann man die Konfrontation, die Unterdrückung, die innerhalb der Gesellschaft stattfindet und die für sie kennzeichnend ist, kann man diese Konfrontation, diesen Kampf als eine Art Krieg entziffern? Sind die Herrschaftsprozesse nicht viel komplexer und vieldeutiger als Krieg? Zum Beispiel: Ich werde in den nächsten Monaten eine ganze Reihe von Dokumenten, grade über Internierung und Inhaftierung während der 17. und 18. Jahrhunderts veröffentlichen. Da wird man sehen, dass Internierung und Inhaftierung nicht autoritäre Maßnahmen von oben sind, keine Maßnahmen, die die Leute getroffen hätten wie ein Blitz vom Himmel, die ihnen aufgezwungen worden wären. In Wirklichkeit empfanden es die Leute selbst als notwendig, die Leute unter sich, auch in den ärmsten Familien und besonders in den benachteiligsten und elendsten Gruppen.

Gefangene Menschen als "Besiegte" zu definieren und ihnen unter dieser Maßgabe eine Stimme zu verleihen, stellt einen Rückschritt in der Entwicklung der bundesrepublikanischen wie auch westeuropäischen Linken jener Zeit dar, gab es in ihr doch radikale Strömungen, die gerade in den vollständig entrechteten und entwürdigten Insassen von Fürsorgeheimen, Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten ein revolutionäres Potential vermutet hatten. Die Behauptung Foucaults, Internierung und Inhaftierung seien keine "autoritären Maßnahmen von oben", die den Menschen aufgezwungen worden wären, steht in einem nicht minder denkwürdigen Kontrast zu dessen "linksradikaler" Reputation, beinhaltet sie doch eine grundlegende Akzeptanz des staatlichen Strafanspruchs und damit auch des Gewaltmonopols. So kann angenommen werden, daß sich Foucaults guter Ruf als Streiter wider unsägliche Haftbedingungen auf seinen reformistischen Ansatz, Repressionsinstrumente wie Gefängnisse und Psychiatrien menschlicher zu gestalten, gründete. Dies in der angesichts der angeschnittenen Thematik gebotenen Ausführlichkeit und Kontroversität zu diskutieren, würde nicht nur an dieser Stelle entufern, sondern hätte auch, wären denn seitens des Referenten oder der TeilnehmerInnen entsprechende Anregungen gekommen, den nicht zuletzt auch zeitlich engbegrenzten Rahmen des Workshops überfordert.

Doch zurück zum Begriff der Biopolitik bzw. der Disziplinarmacht, die nach Scholls Auffassung nicht, wie es häufig geschähe, zusammengeworfen werden dürften; auch Foucault hätte hier schon eine Unterscheidung getroffen. Um welche es sich dabei handelt, erläuterte der Referent so, daß beide Machttypen zwar pro-aktiv wären, daß sich die Biopolitik im Unterschied zur disziplinären Macht jedoch weniger auf Individuen beziehe, sondern auf Bevölkerungen, wobei unter "Bevölkerung" allerdings nicht Staatsvölker gemeint seien, sondern gesellschaftliche Gruppierungen oder Teilmengen, die allein durch die Definitionshoheit der eingreifenden Macht entstünden. Bei solchen "Bevölkerungen" könnte es sich um GipfeldemonstrantInnen, "gewaltbereite AnarchistInnen" innerhalb der Gipfelprotestierenden oder auch um AktivistInnen des "zivilen Ungehorsams" handeln je nachdem, welche spezifischen Menschengruppen als solche konstituiert werden, um sie auf diese Weise im Zaum zu halten. Scholl faßte zusammen, daß die Schaffung von Bevölkerungen, um soziale Kontrolle auszuüben, eine wichtige Operation biopolitischer Macht sei. Mit biopolitischen Machtbegriffen lasse sich der Antagonismus zwischen dem, was die Aktivisten auf der Straße und dem, was die Polizei mache, klar herausstellen.

Scholl sprach in diesem Kontext die Ströme oder Strömungen (flows) an, die erforderlich seien, um das tägliche Leben und die Reproduktion kapitalistischer Verwertung in der Stadt zu gewährleisten und die es mit sich brächten, daß gerade bei Gipfelveranstaltungen AktivistInnen versuchten, "störend" aufzutreten. Im Zusammenhang mit biopolitischer Macht oder auch sozialer Kontrolle seien zwei weitere Begriffe - Normalisierung und Risiko - relevant. Biopolitische Macht funktioniere über die "Normalisierung" bestimmter Strömungen, damit es da kein abweichendes Verhalten mehr gäbe und die Betroffenen im Idealfall noch nicht einmal realisierten, daß sie auch etwas anderes hätten machen können. Der Begriff "Risiko" sei engverknüpft mit dem bereits erwähnten Interesse, Ströme/Strömungen ununterbrochen störungsfrei zu leiten und zu kontrollieren. Die Frage laute dann, wie im nächsten Schritt potentiell störende Faktoren oder Szenarien verhindert werden können, noch bevor sie überhaupt von irgendjemandem gedacht, geplant oder ausgeführt werden können. Da man sehr genau wisse, welche logistischen "Ströme" - Autos, Lebensmittel, Hubschrauber etc. - bei einem Gipfeltreffen erforderlich seien, ließen sich auf dieser Basis relativ einfach Risikoberechnungen durchführen.

Auf Nachfrage erläuterte der Referent an dieser Stelle den hier relevanten Unterschied zwischen präventiv und pro-aktiv. In der Kriegführungssprache kenne man bereits die Diskussion um den präemptiven Schlag (preemptive strike), was noch einen Schritt weitergehe als präventiv. Präventiv bedeute, ein Problem nicht erst zu bearbeiten, wenn's knallt, sondern schon tätig zu werden, bevor es knallt. Präemptiv hieße demgegenüber bereits einzugreifen, bevor es überhaupt das Problem gäbe. Scholl stellte klar, daß die präemptive oder pro-aktive Form sozialer Kontrolle und die Risikologik unglaublich eng ineinandergriffen, weil ununterbrochen unliebsame Entwicklungen, die potentiell passieren und eintreten könnten, verhindert und vermieden werden sollen - da müsse man logischerweise unentwegt Risikoberechnungen anstellen. Dies werde von der Polizei üblicherweise auch getan in standardisierten Verfahren, genannt Gefahrenanalysen, wofür im Rahmen der Europäischen Union bereits bestimmte Protokolle entwickelt worden seien.

In seiner Dissertation hat Kriss Scholl die Interaktion zwischen GipfeldemonstrantInnen und der Polizei in Hinsicht auf vier Konfliktfelder - Körper, Raum, Kommunikation und Gesetz - näher untersucht. Unter "Körper" sei er Fragen nachgegangen, wie bestimmte neue Aktionsformen eingesetzt worden seien und wie die Polizei es geschafft habe, diese unter Kontrolle zu halten. Da Diskussionen über die Effektivität bestimmter Aktionsformen bereits vielfach geführt werden, widmete sich der Referent in der verbleibenden (kurzen) Zeit den Konfliktfeldern "Raum" und "Kommunikation", während eine weitere Referentin, die Rechtsanwältin Angela Furmaniak, im zweiten Teil des Workshops auf rechtliche Fragen und Repressionserfahrungen bei den Gipfelprotesten der zurückliegenden Jahre - also auf das Konfliktfeld "Gesetz" - näher einging.

"Raum", so Scholl, bedeute nichts anderes, als daß durch räumliche Manipulationen Machtverhältnisse geschaffen werden können. In Hinblick auf Fragestellungen, die für das Gipfelprotestpotential relevant sein können, stehen hier zwei Innovationen im Vordergrund: 1. Die Schwarmtechnik, worunter der dezentrale Charakter von Aktionen zu verstehen sei und was bedeute, daß die Aktivisten von vielen Seiten zusammenkämen. 2. Die taktische Diversität, die sehr erfolgreich in Seattle angewendet, danach vielfach kopiert worden und schließlich wieder verschwunden sei. In Heiligendamm beispielsweise sei die sogenannte Fünffingertaktik bevorzugt worden, um die Schwarmtaktik an die Bedingungen des ländlichen Raums anzupassen. Die Polizei nun habe auf all das reagiert. Gerade bei Gipfelveranstaltungen mit ihren langen Vorbereitungszeiten habe sich gezeigt, wie groß die Rolle ist, die räumliche Vorbereitungen dabei spielen.

Sattsam bekannt sind die riesengroßen Zäune, mit denen die Beweglichkeit der GipfeldemonstrantInnen eingeschränkt und kontrolliert werden sollen, die seitens der Polizei unter Umständen modifiziert eingesetzt werden bis hin zu der taktischen Adaption nach Heiligendamm, daß, wie beim NATO-Gipfel geschehen, gar keine Zäune mehr eingesetzt werden, sondern flexible Verbotszonen. Auf die veränderte Situation sei seitens der DemonstrantInnen ebenfalls reagiert worden, indem sie ihren Aktionsradius von Treffen in großen Städten mehr und mehr auf den ländlichen Raum verlagerten, wo die räumlichen Manipulationen über Zäune und/oder Verbotszonen ebenfalls fortgesetzt wurden. Der Raum, in dem ein Gipfeltreffen stattfinden soll, werde Monate, wenn nicht Jahre zuvor von der Polizei total durchstrukturiert, in Seeverbotszonen und Einsatzabschnitte zergliedert, um ihn bzw. das in ihm zu erwartende Geschehen kontrollier- und damit beherrschbar zu machen mit der Absicht, jedwede Störung des Gipfeltreffens bereits im Ansatz zu unterbinden.

Beim Konfliktfeld "Kommunikation" hat sich der Referent verschiedenen Aspekten gewidmet. Wichtig für das Gipfelprotestpotential sei die frühzeitige Entwicklung einer eigenen Wahrnehmungsposition, damit die AktivistInnen nicht auf die Wahrheitsproduktion der anderen Seite angewiesen seien. Bei der unbeeinflußten Kommunikation der DemonstrantInnen spiele die Klandestinität, worunter der Referent eine "verborgene Kommunikation" faßte, eine besondere Rolle. Die Bemühungen der Polizeiseite, sich (auch) dieses ihr unzugänglichen Kommunikationsterrains zu bemächtigen, sind nach Einschätzung des Referenten nicht von besonderen Erfolgen gekrönt.

Besser gelingen würde der Polizei das sogenannte Kommunikationsmanagement, worunter Scholl die von ihm als "Scare-Techniken" bezeichneten Strategien faßte, die darauf abzielten, sowohl die lokale Bevölkerung als auch potientielle DemonstrantInnen gezielt zu verängstigen, wie es schon bei frühen Gipfelprotesten der Fall gewesen sei. Dies wurde systematisch übergeführt in eine pro-aktive Management-Taktik, die - wie auch die Repression - immer weiter vorverlagert wurde, um die spätere Interaktion auf der Straße zwischen Aktivisten und Polizei im Vorwege zu beeinflussen. So hat die Polizei beispielsweise in Heiligendamm, nachdem seitens der Gipfelgegner Informationsabende für die Bevölkerung durchgeführt wurden, ein halbes Jahr später ihrerseits "Bürgerinformationsabende" veranstaltet. Fünf oder sechs "Infomobile" waren in der ganzen Region im Einsatz.

Scholl unterstrich in diesem Zusammenhang die Relevanz taktischer Lernprozesse auf seiten der GipfeldemonstrantInnen, die es schaffen müßten, den Streit um die Kommunikation mit der jeweiligen ortsansässigen Bevölkerung zu gewinnen. Auch in Medienfragen sollten ähnliche Schritte vollzogen und die Arbeit professionalisiert werden. Scholls Beobachtungen zufolge arbeiten Polizei und Behörden in diesem Bereich oft schneller schon allein deshalb, weil sie über größere Ressourcen verfügten. Dennoch sei dies kein von vornherein verlorener Kampf, weil die AktivistInnen ihrerseits andere Ressourcen hätten und nutzen könnten, etwa eine taktische Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung. Würde diese Problematik dementsprechend in Angriff genommen werden, eröffneten sich dadurch zuvor nicht absehbare Möglichkeiten.

Angesichts der Kürze der verbleibenden Zeit zog der Referent alsbald sein Fazit. Die Tatsache, daß es der Gegenseite gelungen sei, das Gipfelpotential relativ unschädlich zu machen, stelle AktivistInnen vor viele neue Aufgaben. Scholl verlieh der Hoffnung Ausdruck, daß sich das Nachdenken über die vier von ihm in diesem Workshop vorgestellten Konfliktfelder - Körper, Raum, Wahrnehmung, Gesetz - in diesem Sinne als nützlich und konstruktiv erweisen könne, um zu taktischen Innovationen zu kommen. Von den interessierten TeilnehmerInnen wurde all dies positiv aufgenommen. Foucault schien wie ein unsichtbarer Geist als gemeinsame ideologische Basis der meisten Anwesenden sehr wohl präsent gewesen zu sein. An keiner Stelle wurden die von ihm übernommenen oder beeinflußten Begrifflichkeiten und inhaltlichen Fragmente in Frage gestellt, und so blieben auch Nachfragen danach, ob sich die in dem Workshop aus aktivistischer Sicht aufgeworfenen Ideen, Fragen und Problemstellungen nicht vielleicht sogar besser und nüchterner in Angriff nehmen ließen als mit dem Foucault'schen "Überbau", aus. Mit großem Interesse sahen die Anwesenden der von dem Referenten angekündigten Veröffentlichung seiner sozialwissenschaftlichen Dissertation "Two sides of a barricade" entgegen.


Anmerkungen:

[1] Die Gewissheiten sprengen. Zur Aktualität Michel Foucaults. Von Christoph Vormweg, Deutschlandradio Kultur, Forschung und Gesellschaft am 25. Juni 2009,
http://www.dradio.de/download/106293/


Zum entsichern-Kongreß bisher erschienen:
BERICHT/055: Eurokrake Sicherheit - entsichern ... (SB)
BERICHT/056: Eurokrake Sicherheit - Risse in der Festung Europa(SB)
BERICHT/057: Eurokrake Sicherheit - Administrative Logik eines Gewaltapparats (SB)
BERICHT/058: Eurokrake Sicherheit - Netzwerke der Repression (SB)
BERICHT/059: Eurokrake Sicherheit - Vom Himmel hoch ... (SB)
BERICHT/060: Eurokrake Sicherheit - Präventionspolizei probt den Zugriff (SB)
BERICHT/061: Eurokrake Sicherheit - Exekutive Vernetzung, atomisierte Bevölkerungen (SB)
BERICHT/062: Eurokrake Sicherheit - Widerspruchsregulation im Staatsprojekt Europa (SB)
BERICHT/063: Eurokrake Sicherheit - Ökonomische Verfügungsgewalt im Staatsprojekt EU (SB)
BERICHT/064: Eurokrake Sicherheit - Ein neuer Internationalismus des sozialen Widerstands (SB)
INTERVIEW/070: Eurokrake Sicherheit - Matthias Monroy zur Spitzelproblematik (SB)
INTERVIEW/071: Eurokrake Sicherheit - Detlef Hartmann - Horizonte linker Radikalität (SB)


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"Which Side Are You On?" ... in diesem Fall irrelevant
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27. März 2011


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