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BERICHT/073: "Danke!" ... von den Grenzen demokratischer Streitkultur (SB)


"Danke!" - ein jW-Titel und seine Folgen

Podiumsdiskussion in der jW-Ladengalerie am 22. September in Berlin-Mitte

Kampagnenposter der jungen Welt - Foto: © 2011 by Schattenblick

Jetzt erst recht ... unabhängige
linke Presse stärken
Foto: © 2011 by Schattenblick
Der Aufmacher der jungen Welt zum 50. Jahrestag der Sicherung der DDR-Staatsgrenze glich einem Stich ins Wespennest umkämpfter Pressefreiheit. Was freie Meinungsäußerung sei, deren legitimer Rahmen vom Grundgesetz abgesteckt und im Presserecht präzisiert wird, ist zwangsläufig Gegenstand unablässiger Kontroversen und Verschiebungen. Grundlegende gesellschaftliche Widersprüche gehen mit einem beständigen Ringen zwischen Deutungshoheit und Meinungsvielfalt einher, in dem die Sachwalter der herrschenden Verhältnisse die Schlinge zunehmend enger ziehen. Wollte man Demokratie beim Wort nehmen, sollte jede Meinungsäußerung erlaubt sein, gehört zu werden. Hier nimmt der Staat von vornherein gravierende Einschränkungen vor, indem er strafrechtlich sanktioniert, was seine Existenz in ihrem Bestand gefährden könnte oder für unhinterfragbar erklärte tragende Elemente der Gesellschaftsordnung bestreitet. Was Medien ungestraft sagen dürfen, ist folglich umkämpftes Terrain, auf dem sich der Stand der Auseinandersetzungen manifestiert und zugleich die Schlacht um die Köpfe der Bürger geschlagen wird.

Da öffentliche Meinung zunehmend zu einem diffusen, von interessengeleiteten Spekulationen überformten und mithin ungreifbaren Gespenst degeneriert, beherrscht eine Medienmacht das Feld, die das Stadium diskursiver Debattenkultur längst hinter sich zurückgelassen hat. Sie schickt sich an, das weitgehend verwaiste Feld emanzipatorischer Bewegungen und widerständigen Aufbegehrens normativ zu okkupieren, zu kanalisieren und zu eliminieren. Es treffen nicht länger konkurrierende Positionen aufeinander, die sich einen erbitterten Schlagabtausch liefern und dabei die Existenz einander widersprechender Überzeugungen vor Augen führen. Auf der Tagesordnung steht vielmehr die Diskreditierung und Ausmerzung einer der Illegitimität bezichtigten Meinungsäußerung, die als bloße Denkmöglichkeit ausgeschlossen werden soll. Was im Streit der Gesellschaftssysteme durch das polarisierende Trommelfeuer der Propaganda trotz aller Entstellung durchaus Kontur behielt, wird seit dem proklamierten Triumph der allein seligmachenden Wirtschaftsweise als Anachronismus und krankhafter Starrsinn verhöhnt und entsorgt.

Allerdings zeugen die heftigen Anfeindungen, der sich die Tageszeitung junge Welt dieser Tage mehr denn je ausgesetzt sieht, von einem beträchtlichen Legitimationsbedarf ihrer Gegner. Der Stachel im Fleisch scheint in einem Maße zu schmerzen, das es nicht zuläßt, ihn zu ignorieren und auf dem Wege der Nichtbeachtung zu entfernen. Sagt man dem Sozialismus auch den Untergang nach, so hat der nicht länger existierende andere deutsche Staat doch als Schreckgespenst keineswegs ausgedient. Darin einen historischen Rückgriff zu vermuten oder gar auf eine späte Rehabilitierung im Urteil der Geschichte zu hoffen, hieße, das Heft des Handelns endgültig aus der Hand zu geben. Es geht um nichts weniger als eine innovative und damit stets projektive Herrschaftssicherung, die sich des bewährten Feindbildes der DDR zu dem Zweck bedient, jedwedem Aufbegehren das Stigma des Absurden zu verpassen, es zu pathologisieren und zu kriminalisieren.

Publikum in der jW-Ladengalerie - Foto: © 2011 by Schattenblick

Reges Interesse an kontroverser Diskussion
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die junge Welt kann von fortgesetzten Angriffen, sie wegen der von ihr publizierten Inhalte vor Gericht zu zerren, ein Lied singen. Ihr den Mund zu verbieten und sie finanziell unter Druck zu setzen, ist ein Angriff auf ihre wirtschaftlichen Ressourcen, die ihre journalistische Standhaftigkeit auf die Probe stellt. Sie ist in der Tat unabhängig, da sie keinen Verlagskonzern im Rücken hat, der sie absichert und zugleich auf ein Organ zur Absonderung paßförmiger Meinungsschablonen reduziert. Parallel dazu und noch im Vorfeld juristisch vorgetragener Attacken bricht sich eine Kampagne ideologischer Anfeindungen Bahn, als deren aktuelles Beispiel der am 22. September in der Sendung Kulturzeit auf 3sat ausgestrahlte Beitrag "Stürmer von links - Die Tageszeitung Junge Welt" hervorsticht. Die im Titel vorgenommene Ineinssetzung mit der 1923 von Julius Streicher in Nürnberg gegründeten antisemitischen Wochenzeitung "Der Stürmer" bedient sich des Konstrukts eines linken Faschismus, der Positionen dieses Spektrums diffamiert und nach ihrem Verbot ruft. Schon im zweiten Satz wird denn auch der Verfassungsschutz zitiert, als sei dessen Einschätzung selbstevident und vielsagend genug. Was folgt, ist eine Tirade gegen die junge Welt, die ein Blatt für Ewiggestrige sei und von ehemaligen Stasi-Spitzeln geleitet werde, die mit der Ausrichtung der Zeitung ihre eigene Biografie rechtfertigten. In dem Blatt werde die DDR als historischer Fortschritt verteidigt, für den man Opfer in Kauf nehmen müsse, ehemalige hohe Stasi-Kader dürften darin ihre Meinung verbreiten, wie auch einstigen RAF-Terroristen für die immer noch bestehende Notwendigkeit des revolutionären Kampfes zu werben erlaubt werde. [1]

Wie die junge Welt richtigstellte, nimmt es der 3sat-Beitrag nicht nur mit seiner Argumentation, sondern auch den Details nicht so genau. Der heutige Ressortleiter Innenpolitik sei weder wie behauptet Westjournalist gewesen, noch habe er die DDR-Führung mit Informationen versorgt. Rainer Rupp, der im europäischen Nato-Hauptquartier arbeitete und als Topspion Topas der DDR-Führung wichtige Informationen zukommen ließ und dafür mehrere Jahre in der BRD einsaß, sei zwar kenntnisreicher Autor der jungen Welt, aber kein leitender Mitarbeiter. Nicht minder dürftig wie die Recherche seien die im 3sat-Beitrag vorgetragenen Angriffe gegen die Linkspartei, die sich des immer gleichen Musters der ideologischen Diffamierung bedienten. [2]

Gregor Gysi wird mit den Worten zitiert, das Verhältnis zwischen der jungen Welt und ihm sei schon seit ewigen Zeiten schwer gestört. Um das zu verdeutlichen, müsse er diese Zeitung und ihren Chefredakteur einschätzen, was er an dieser Stelle lieber bleiben lasse. Pragmatisch ausgerichtete Reformer wie Gysi, heißt es in der Sendung, wollten mit dieser ganzen DDR-Nostalgie am liebsten Schluß machen und forderten sogar einen Anzeigenboykott. Zum Kontrast wird Diether Dehm herangezogen, der der jungen Welt antikapitalistische und radikaldemokratische Positionen attestiert. In der Not sei man darauf angewiesen, von solchen Organen etwas Gegenöffentlichkeit zu bekommen.

Podium in der jW-Ladengalerie - Foto: © 2011 by Schattenblick

Aufarbeitung eines Eklats
Foto: © 2011 by Schattenblick

Ein gespaltenes Verhältnis zur Vergangenheit hätten junge Welt und Linkspartei aufgrund notorischer DDR-Reflexe gleichermaßen, schwadroniert man im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit zwischen Gesinnungsverdacht und sozialer Wirklichkeit dissoziierter Verkennung. Die DDR wolle für Teile der Linkspartei einfach nicht vergehen, daher sei die Linke eine zerrissene Gemeinschaft von Nostalgikern auf der einen und Pragmatikern auf der anderen Seite. Mit BRD-seliger Nostalgie die Wahrheit der Übriggebliebenen beschwörend wird die Linkspartei lektioniert, als ginge es den Autoren der Sendung darum, sie zum Wahlerfolg zu führen und ihr damit den Zahn verbliebener Widerständigkeit zu ziehen. Die DDR hänge der Partei immer noch wie ein Klotz am Bein, wenn sie ihn nicht abschüttle, werde man in der jungen Welt bald von ihrem Untergang lesen, heißt es in klammheimlicher Freude darüber, sich an einem Feindbild abarbeiten zu können, an dem man völlig risikolos journalistische Kritikfähigkeit simulieren kann.

Wie diese argumentativ inhaltsleeren, aber nichtsdestoweniger zielgerichteten Anwürfe unterstreichen, stehen die Gegner von junger Welt und Linkspartei Gewehr bei Fuß, sich bei jedem sich bietenden Anlaß auf sie zu stürzen. Solche Feindseligkeit ist insofern unvermeidlich, als sie den verteufelten linken Positionen geschuldet ist. Zugleich wird jedoch deutlich, daß die Angreifer systematisch nach Widersprüchen innerhalb der Linken suchen, um deren Spaltung voranzutreiben, und dafür stets aufs Neue mit Munition aus dem linken Lager versorgt werden. Distanzierungen und Bezichtigungen sind jederzeit abrufbar und generieren erst die zersetzende Gärung der durch Dritte erhofften inneren Auflösung.

Auch in der Leserschaft der jungen Welt stieß der provozierende Aufmacher zum 13. August auf ein geteiltes Echo. Neben zustimmenden Äußerungen, die die Redaktion in großer Zahl erreichten, fehlte es nicht an Zuschriften, die schroffe Ablehnung zum Ausdruck brachten. Im Internet zirkulierten Boykottaufrufe, und selbst die Forderung nach einem Verbot der Zeitung wurde laut. Die Linksfraktion stornierte zunächst ihre Anzeigen, und die Linke Medienakademie kündigte die Zusammenarbeit auf. Die heftige Kontroverse berührte nicht nur Fragen der historischen Ereignisse und ihrer Einschätzung, sondern auch im aktuellen Bezug die Pressefreiheit. Um diese Diskussion weiterzuführen, lud die junge Welt am 22. September zu der Veranstaltung "Danke! - ein jW-Titel und seine Folgen" in ihre Ladengalerie ein.

Moderator der Diskussion - Foto: © 2011 by Schattenblick

Moderator Stefan Huth
Foto: © 2011 by Schattenblick

Moderiert von Stefan Huth (jW-Ressort Thema) diskutierten Rüdiger Göbel (jW-Chefredaktion), Manuel Kellner (Vorstand Salz e.V.) und Ekkehard Lieberam (Marxistisches Forum, Die Linke) miteinander und dem Publikum über das brisante Thema. Winfried Wolf (Chefredakteur der Zeitschrift Lunapark21), der mit scharfer Kritik am umstrittenen Titel hervorgetreten war, hatte aus Krankheitsgründen seine Teilnahme abgesagt. Wie Stefan Huth einleitend noch einmal zusammenfaßte, hatten die Mainstreammedien die Ausgabe der jungen Welt vom 13. August zum Skandal hochgespielt. Unter den Boykottaufrufen war in Blogs von einem "Drecksblatt" die Rede, das man austrocknen müsse. Hubertus Knabe setzte als erster die Bezichtigung "linker Stürmer" in die Welt, die Fraktion der Linkspartei im Bundestag zog ihre Anzeigen zurück, hat den geplanten Boykott inzwischen jedoch zurückgenommen.

Stefan Huth schlug für die Diskussion drei Themenkreise vor. Der erste betreffe die historische Wahrheit und somit die Frage, wie man heute als Linker zur DDR stehe und die Grenzschutzmaßnahmen der DDR vom 13. August vom gegenwärtigen Standpunkt aus beurteile. Als zweiter Kreis biete sich die Kontroverse auf der Themenseite der jungen Welt um den Vorwurf an, die Redaktion habe eine Vorliebe für autoritäre Regime, wofür Jugoslawien, der Irak unter Saddam Hussein, der Iran und Syrien angeführt werden. Zum dritten stehe natürlich die Pressefreiheit zur Debatte: "Wer bestimmt, was diese Zeitung darf?"

Rüdiger Göbel - Foto: © 2011 by Schattenblick

Rüdiger Göbel
Foto: © 2011 by Schattenblick
Der stellvertretende Chefredakteur Rüdiger Göbel, der seit 1997 zum Team der jungen Welt gehört, war für die Ausgabe des 13. Augusts zuständig, weshalb ihm vor allen andern die Aufgabe zufiel, den Aufmacher gegen die Flut nachfolgender Angriffe zu verteidigen. Er erinnerte daran, daß dieselbe Ausgabe eine zwölfseitige Beilage zu den historischen Hintergründen des Mauerbaus enthielt, die jedoch in krassem Gegensatz zum umstrittenen Titelblatt von den Kritikern kaum wahrgenommen wurde. In der Leserschaft habe die Ausgabe enorme Resonanz wachgerufen und sei außergewöhnlich schnell vergriffen gewesen. Die Phalanx der Mainstreammedien habe den 13. August 1961 aus dem historischen Kontext gerissen und emotional aufgeladen. Hingegen wurde der historische Hintergrund der zugespitzten Situation im Kalten Krieg ausgeblendet und die DDR noch einmal nachträglich delegitimiert. Wenige Tage zuvor jährte sich der Beginn des Entlaubungskriegs in Vietnam zum 50. Mal, worauf nur wenige Zeitungen hingewiesen haben. In Berlin wurde eine Gedenkminute zum Mauerbau eingelegt: Fahnen hingen auf Halbmast, Glocken läuteten, Busse und Bahnen standen still.

Die Redaktion der jungen Welt habe das als zugespitzte Heuchelei empfunden und beschlossen, einen Kontrapunkt zu setzen. Am 13. August sollte die DDR noch einmal niedergemacht werden. Das könne doch nicht der Tag sein, ebenfalls über ihre Fehler und Schwächen zu diskutieren. Die junge Welt bejuble keineswegs den Mauerbau, der eine sehr defensive Maßnahme gewesen sei. Während absehbar war, daß sich viele darüber ärgern würden, sollten einige Hoffnung schöpfen, daß es noch ein anderes Medium gibt. Daß dem so ist, hätten die Reaktionen bestätigt.

Bezeichnenderweise griffen die Kritiker zentrale Aussagen des Aufmachers wie den Bezug zu Vietnam und Kennedys Äußerung zur Friedenssicherung durch den Mauerbau nicht auf. Die junge Welt habe viel Zuspruch erfahren und in den folgenden beiden Wochen ungewöhnlich viele neue Probeabos und Genossenschaftsmitglieder bekommen. Die einsetzende Kritik sei umfassend abgebildet worden und habe ein breites Spektrum von persönlicher Betroffenheit über Kritik am Mauerbau bis hin zur generellen Kritik an der Ausrichtung der jungen Welt umfaßt. Insbesondere die Springerpresse drosch auf die Redaktion ein und forderte die Linkspartei auf, sich zu distanzieren. In deren Kreisen soll Petra Pau von einem "Drecksblatt" gesprochen haben, doch schlug der aus der Spitze der Linkspartei geforderte Boykottaufruf fehl.

So wurde der Eindruck erweckt, die Linkspartei halte die junge Welt finanziell aus. Tatsächlich reiche der Erlös aus deren Anzeigen nicht einmal aus, um eine ohnehin nicht hoch dotierte Redakteurstelle zu bezahlen. Göbel verteidigte die Entscheidung zu provozieren, da dies für Klarheit in der politischen Debatte und insbesondere in der Linkspartei gesorgt habe. Von der Basis der Linkspartei habe man ohnehin viel Zuspruch erfahren und mehrere Einladungen erhalten, zu dieser Kontroverse Stellung zu nehmen. Im übrigen habe die junge Welt durchaus über Schwächen und Fehler der DDR diskutiert. Sie lasse sich jedoch nicht von Dritten diktieren, was sie zu schreiben habe.

Ekkehard Lieberam - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ekkehard Lieberam
Foto: © 2011 by Schattenblick

Prof. Dr. Ekkehard Lieberam, Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Staatstheorie und Verfassungsrecht, gehört der Linkspartei an und ist im Marxistischen Forum aktiv. Er hat sich auch in der jungen Welt des öfteren mit dem Verhältnis der heutigen Linken zur DDR auseinandergesetzt. Als einziger ehemaliger DDR-Bürger auf dem Podium eröffnete er seinen Beitrag mit einem Zitat, in dem von einer Erinnerungsschlacht, den früheren Bürgern der DDR das Geschichtsbild der Sieger aufzuzwingen, die Rede ist. Seine erste Reaktion auf den umstrittenen Aufmacher sei gewesen: "Die trauen sich ja was." In nachfolgenden Veranstaltungen der antikapitalistischen Linken im Osten habe er große Zustimmung mit kleinen Vorbehalten angetroffen. Im Westen sehe das wohl anders aus.

Seine Grundposition sei eine differenzierte und gerechte Beurteilung der DDR-Geschichte im Zusammenhang der damaligen Gegebenheiten, während er Pauschalurteile wie Stalinismus oder verwirklichter Sozialismus ablehne. Er halte eine Diskussion über Zukunft der Bewegung für dringend erforderlich, zumal viele Probleme nicht so einfach zu klären seien. Die antikapitalistische Linke solle sich davor hüten, mit der Vergangenheit die Gegenwart zu erschlagen. Man könne die Auseinandersetzung nicht aus der Welt schaffen, doch abmildern, indem man die anderen Standpunkte respektiere. Das müsse freilich für beide Seiten gelten. "Wir dürfen nicht zur Zerlegung der Linkspartei auch noch die Zerlegung der antikapitalistischen Linken befördern", warnte er. Man trage Verantwortung für die Zukunft und habe es bei dieser Kontroverse mit einem Eckpunkt bundesdeutscher Staatsräson zu tun. Nach deren Maßgabe dürften die Linken nicht wagen, eine andere Position als die Kriminalisierung der DDR vorzutragen. Er halte die Aktion der jungen Welt für wichtig, "weil das nicht auf Knien geht". Es bedürfe auch kalkulierter Provokation, da man den Medienwall anders nicht durchbrechen könne. Daß man über das Wie durchaus streiten kann, stehe auf einem andern Blatt. Die Aktion habe seine volle Unterstützung, da man zwischen Geschichte und Lehren aus der Geschichte unterscheiden müsse: "Ein Sofa kann man aufarbeiten, Geschichte kann man nicht aufarbeiten." In der Geschichte gebe es harte Zwänge, machtpolitische und ökonomische Umstände, die es zu berücksichtigen gelte. Daß es dabei zu Fehlentscheidungen kommen könne, liege auf der Hand.

Letzteres gilt seines Erachtens für die Grenzsicherung aber nicht. Es habe damals keine Alternative außer der Kapitulation im Kalten Krieg gegeben. "Wer zu Sozialismusgestaltung ja sagte, mußte auch ja zur Mauer sagen." Die durchlässige Grenze sei eine offene Wunde gewesen, da Facharbeiter in den Westen abwanderten, Geheimdienste nach Osten eindrangen und dieser Übergang ein militärischer Schwachpunkt gewesen sei. Die Grenze zu schließen, sei völkerrechtlich legitim gewesen, da sich zwei deutsche Staaten und zugleich zwei hochgerüstete Blöcke gegenüberstanden. Die damalige Grenzsicherung hatte seiner Einschätzung nach nichts mit Stalinismus zu tun. Sie sei vielmehr eine Chance für mehr Eigenständigkeit der DDR und eine Vitalisierung des Sozialismus gewesen. In der Folge wurden tatsächlich ökonomische und politische Reformen eingeleitet, dann jedoch durch die KPdSU abgebrochen. Jedes Pauschalurteil über die DDR sei ein unzulässiger Ansatz. Davon abgesehen, sei eine derartige Analyse nicht Aufgabe der Titelseite der jungen Welt gewesen. Es war "ein grober Keil auf einem groben Klotz". Differenzierte Beiträge zum Thema habe die junge Welt an anderer Stelle ausführlich geleistet.

Manuel Kellner - Foto: © 2011 by Schattenblick

Manuel Kellner
Foto: © 2011 by Schattenblick
Manuel Kellner, Buchautor und Vorstandsmitglied sowie pädagogischer Leiter der Bildungsgemeinschaft SALZ e.V., ist Mitarbeiter des Linken-Abgeordneten Michael Aggelidis im Landtag von Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Er hatte sich in der jungen Welt kritisch zur Titelseite geäußert, da diese eine mythisch verklärende Sichtweise der Mauer als antiimperialistischer Schutzwall bediene. Die Abschottung habe sich gegen Abwanderung gerichtet und sei eine Maßnahme des SED-Regimes gegen die eigene Bevölkerung gewesen. Zugleich geht es ihm aber darum, die Heuchelei der antikommunistischen Hetze anzuprangern. Er sehe weder die DDR noch die Sowjetunion negativ und verteidige sie gegen den Antikapitalismus. Er habe in der DDR zu seiner damaligen Überraschung junge Menschen getroffen, die das System kritisierten und zugleich überzeugte Sozialisten waren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion sei eine Niederlage der gesamten Linken gewesen.

Die Kontroverse im Bildungsverein SALZ über den jW-Titel sei nicht zuletzt deshalb entstanden, weil der Verein sich als links definiere, aber pluralistisch aufgestellt sei. Sein Spektrum schließe auch die äußerste Linke der ehemaligen Bürgerrechtsbewegung ein, die in ihrer Kritik an der jungen Welt die Forderung erhob, die Medienpartnerschaft aufzukündigen. Er selbst habe jedoch diese "Erklärung der 14" nicht unterzeichnet. Darin heißt es unter anderem, es werde der falsche Eindruck vermittelt, daß Sozialismus aus Gewehrläufen komme. Kellner erinnerte in diesem Zusammenhang an die Unidad Popular, die die chilenische Arbeiterklasse wenige Woche vor dem Putsch entwaffnet habe. Er könne doch nicht der Arbeiterklasse das Recht auf Selbstverteidigung absprechen. Auch die in der Erklärung erhobene Kritik an der Auslandsberichterstattung der jungen Welt, diese rechtfertige autoritäre Regime und legitimiere deren undemokratischen Charakter, halte er für keine aufklärerische Stellungnahme. Allerdings trete bei der jungen Welt seines Erachtens mitunter Lagerdenken an die Stelle der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse. Interne Kritik dürfe nicht aus der Neigung verhindert werden, Zielscheiben imperialistischer Aggression um jeden Preis zu verteidigen. Solche Tendenzen kritisiere er auch in der jungen Welt. Dank seiner Herkunft aus der 4. Internationalen plädiere er für unbarmherzige Kritik an den Fehlern der Regime, verteidige aber nicht minder entschieden deren gesellschaftspolitische Grundlagen. Es gehe um die Zukunft und die Chancen der Linken angesichts der zugespitzten Krise. Das sozialistische Projekt müsse um einer Chance für die Menschheit willen Erfolg haben. Die Führungsrolle der Partei festzuschreiben, die Bevölkerung zu bespitzeln und sie am Weggehen zu hindern, erweise der sozialistischen Idee jedoch einen Bärendienst. Auf den Einwand Stefan Huths, die junge Welt leiste eine differenzierte Berichterstattung unter Berufung auf das Völkerrecht, erwiderte Manuel Kellner, daß er beispielsweise den Vergleich von "nur" 136 Mauertoten mit zahllosen toten Migranten oder gar den Weltkriegsopfern für einen untauglichen Versuch halte, dem Antikommunismus die Stirn zu bieten: "Unsere eigenen Fehler schaden uns viel mehr." Er würde statt dessen die Krokodilstränen der Heuchler anprangern, denen die Maueropfer absolut gleichgültig seien. Sie beweinten vielmehr das Ende der Kapitalisten und Großgrundbesitzer im Osten.

Es schloß sich eine außerordentlich lebhafte und nicht selten zugespitzt kontroverse Diskussion mit dem Publikum an. Etwa hundert Interessierte waren erschienen, die die Ladengalerie bis auf den letzten Platz füllten. Dem Thema geschuldet, welchem jüngere Leute offenbar wenig abgewinnen können, war überwiegend die ältere Generation vertreten, der nicht zuletzt auf Grund ihrer eigenen Lebensgeschichte die Kontroverse um die DDR und den Mauerbau am Herzen liegt. Vornehme Zurückhaltung war ihre Sache nicht, und so entfaltete sich eine bemerkenswert intensive Auseinandersetzung. Deutlich wurden die inneren Widersprüche einer traditionell zu nennenden Linken, die durchaus in Zerreißproben mündeten, wenn etwa die weitere Mitarbeit bei der jungen Welt oder deren künftige Unterstützung in Frage gestellt wurde. Wenngleich mitunter heftige Emotionen im Spiel waren und die Debatte kurzfristig zu sprengen drohten, gelang es doch immer wieder, dem gemeinsamen Anliegen den Zuschlag zu geben. So zeugte dieser Abend in der Ladengalerie von einer bemerkenswerten Streitkultur, die die Entschiedenheit der Argumente nicht scheut und gerade deshalb der Ausgrenzung anderer Positionen eine Absage erteilt.

Dem Auslöser der heftigen Kontroverse um die junge Welt und den Interessen der Anwesenden geschuldet, nahm die Sicherung der DDR-Staatsgrenze den breiteren Raum ein. Für eine zukunftsfähige Diskussion der Linken ist indessen der Streit um die Pressefreiheit und eine klare Positionierung in demselben unverzichtbar. Angesichts der Krise des Kapitalismus und der damit einhergehenden sozialen Verwerfungen der Gesellschaft dient die Bezichtigung der DDR einer ideologischen Gleichschaltung. Unter dem Vorwand, die Vergangenheit zu bewältigen, sucht man mit den Werkzeugen der Diffamierung und Sanktionierung alle Entwürfe abzuwürgen, die dem Aufbegehren gegen Verelendung und Entwürdigung Substanz und Wirkung verleihen könnten. Das ist die strategische Stoßrichtung des vorherrschenden Meinungsdiktats, dem es entgegenzutreten gilt.

Die junge Welt hat in diesem Zusammenhang ein unterstützenswertes Zeichen gesetzt. Weder war sie bereit, die anbrandende Flutwelle systemapologetischer Ausschlachtung des Jahrestags stillschweigend auszusitzen, noch nahm sie taktierend Zuflucht zu einer vermeintlichen Ausgewogenheit, wie sie der politische Gegner zu erzwingen trachtet, wenn er Abbitte einfordert. Es wäre ein bedauerliches Versäumnis gewesen, die staatlicherseits fokussierte Aufmerksamkeit nicht dahingehend zu nutzen, sie mit einem unüberhörbaren Signal der Widerspenstigkeit zu konterkarieren. Der Debatte um die Art und Weise dieses weithin wahrgenommenen Paukenschlags tut das keinen Abbruch. Sie sollte fortgesetzt werden, zumal eine lebendige Streitkultur der Linken unverzichtbar im Kampf gegen ihre Zersplitterung ist. Insbesondere aber gilt es immer wieder die Grenzen auszuloten, an denen solidarische Kritik in Beteiligung an der von außen herangetragenen Spaltung umschlägt. So heftig die Anfeindungen der bürgerlichen Medien waren, bedienten doch linke Stichwortgeber geradezu die Einschränkung der Pressefreiheit, indem sie diffamierende Äußerungen plazierten und allen Ernstes Strafmaßnahmen forderten. Die junge Welt ist die einzige überregionale linke Tageszeitung in der deutschen Printpresse. Sie vereint ein akzentuiertes redaktionelles Profil mit der Offenheit für Beiträge zugewandten, doch keineswegs deckungsgleichen Inhalts und fördert damit die Diskussion. Man kann sich ausmalen, welchen Schaden der streitbare politische Diskurs nähme, wenn diese Stimme verstummte.

Fußnoten:

[1] http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/157009/index.html

[2] http://www.jungewelt.de/2011/09-24/068.php

Fassade der jW-Ladengalerie - Foto: © 2011 by Schattenblick

jW-Ladengalerie in der Torstraße in Berlin-Mitte
Foto: © 2011 by Schattenblick

27. September 2011