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BERICHT/104: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Mit Kommunalismus der Repression trotzen (SB)


Frauenkooperativen in Diyarbakir/Sur, dem Kern der kurdischen Hauptstadt

Vortrag von Gülbahar Örmek am 5. Februar 2012 in der Universität Hamburg

Gülbahar Örmek im Großformat - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gülbahar Örmek, stellvertretende Bürgermeisterin des Stadtbezirks
Diyarbakir/Sur
Foto: © 2012 by Schattenblick
"Ich bin aus Amed, der Hauptstadt, gekommen." Mit diesen Worten begann die Landwirtschaftsingenieurin Gülbahar Örmek auf dem Kongreß "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" an der Universität Hamburg ihren Vortrag zum Thema "Frauenkooperativen als Alternativmodell". Amed ist die griechische bzw. syrisch-aramäische Bezeichnung für die im Herzen Kurdistans liegende und von vielen Kurdinnen und Kurden als ihre Hauptstadt angesehene Metropole Diyarbakir. Diyarbakir bzw. Amed, wie die kurdische Bewegung die Stadt nennt, um zu verdeutlichen, daß sie sich bzw. ihr Volk als Nachfolger des antiken Volkes der Meder sieht, ist mit rund 850.000 Einwohnern unterschiedlichster Volkszugehörigkeit die zweitgrößte Stadt Südostanatoliens. Diese Stadt "atmet" mit jedem Hauch Geschichte und ist gleichermaßen geographischer Gravitationspunkt der kurdischen Befreiungsbewegung. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte sie dem Osmanischen Reich an, mit der Republikgründung der heutigen Türkei im Jahre 1923 wurde sie "türkisch".

Gülbahar Örmek stammt aus dem historischen Zentrum Ameds, dem heutigen Stadtbezirk Sur. Sur ist türkisch, bedeutet "Stadtmauer" und bezieht sich auf die über tausendjährige Befestigungsanlage um die Altstadt Diyarbakirs. Diyarbakir wurde 1993 zur Großstadtkommune erklärt und erhielt ein Oberbürgermeisteramt wie auch Sur als eine Stadtkommune Diyarbakirs ein Bürgermeisteramt erhielt. Die Mauer, ein fünf Kilometer langes, bis zu zwölf Meter hohes und über 16 Jahrhunderte altes Bauwerk, ist ein Erbe des römischen Imperiums und preßt heute die Altstadt Diyarbakirs mit steinerner Faust zusammen. Dies ist durchaus wörtlich zu verstehen. In den zurückliegenden Jahren sind über eine Million Kurdinnen und Kurden nach Amed geflohen. Es sind Menschen, die vor der türkischen Armee aus ihren Dörfern, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, hierher geflohen sind oder dem Krieg zwischen dem Militär und den kurdischen Guerillaverbänden der PKK zu entkommen suchten. In dieser Zeit hat sich die Bevölkerungszahl Ameds nahezu verdreifacht, was die bestehenden sozialen Probleme - Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus - mit in die Höhe schnellen ließ.

Die Befestigungsanlage mit Turm in Großaufnahme - Foto: © Doron, August 2002 [4]

Sur, das alte Stadtzentrum Diyarbakirs, von einer Mauer römischer Eroberer umgeben
Foto: © Doron, August 2002 [4]

Gülbahar Örmek ist stellvertretende Bürgermeisterin des Stadtbezirks Sur. Um ihren Vortrag, in dem sie auf die historische Mauer und die besondere Kultur dieser Kommune ebenso einging wie auf den dort praktizierten Kommunalismus und die von ihr betreuten und unterstützten Frauenkooperativen, in seiner ganzen Bedeutung für die Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt wie auch als Symbol der kurdischen Bewegung insgesamt ermessen zu können, seien für nichtkurdische Interessierte einige Anmerkungen vorausgeschickt.

Der türkisch-kurdische Konflikt ist hier mit Händen zu greifen und läßt wohl keinen Bewohner und keine Bewohnerin unberührt, weil er den Alltag ebenso bestimmt wie das gesamte gesellschaftlich-kulturelle Leben. Nur ein Viertel der Bevölkerung Surs spricht türkisch, fast drei Viertel sprechen kurdisch, weitere vier Prozent armenisch, aramäisch oder arabisch. Doch die Amtssprache ist ausschließlich türkisch. In Schulen und Behörden muß türkisch gesprochen werden, die Straßenschilder sind in türkischer Sprache. Jeden Morgen muß jedes Schulkind vor Unterrichtsbeginn sagen: Ich bin stolz, ein Türke zu sein. Der Krieg zwischen türkischem Nationalismus und kurdischem Freiheitsdrang wird hier um drei Buchstaben geführt - q, x, und w -, die im kurdischen, jedoch nicht im türkischen Alphabet enthalten sind.

In einem Staat, der wie die türkische Republik beansprucht, eine Demokratie zu sein, werden die politischen Repräsentanten nicht nur auf gesamtstaatlicher, sondern auch auf kommunaler Ebene von der Bevölkerung gewählt. In Sur wurde im Jahre 2004 Abdullah Demirbas von der (kurdischen) "Partei für eine demokratische Gesellschaft" (DTP) zum Bürgermeister des Bezirks gewählt. Drei Jahre später wurde er durch eine Eilentscheidung des Oberverwaltungsgerichts seines Amtes enthoben wegen eines Verstoßes gegen das Gesetz 1353, das die Verwendung des türkischen Alphabets in allen offiziellen Dokumenten vorschreibt. Bürgermeister Demirbas hatte im Einklang mit dem Gemeinderat beschlossen, die städtischen Dienstleistungen für die Bürger nicht nur in türkisch, sondern auch in anderen Sprachen anzubieten.

"Die türkische Regierung muß endlich anerkennen, dass dieses Land ein Vielvölkerstaat ist, mit verschiedenen Sprachen und Kulturen", hatte der Bürgermeister nach seiner Absetzung erklärt [1]. Aus Sicht der türkischen Regierung hatte er weitere "Verbrechen" begangen, indem er ein Bastelbuch für Kinder auf türkisch und kurdisch und einen siebensprachigen Aufruf "Für ein sauberes Diyarbakir" verteilen ließ sowie einen Vortrag über Mehrsprachigkeit in der Stadtverwaltung gehalten hat. All dies trug ihm in 22 Fällen eine Anklage an, die türkische Nation aufbrechen und in ihre Bestandteile zerlegen zu wollen. Seitens der türkischen Republik wurde jedoch nicht nur die Kultur und Existenz des kurdischen Volkes vollkommen negiert. Auch die sozialen Verhältnisse waren in den mehrheitlich kurdisch bevölkerten Gebieten extrem schlecht, wovon - selbstredend - die Kurdinnen und Kurden am stärksten betroffen waren. 2007 konnten in Sur 70 Prozent der erwachsenen Menschen weder lesen noch schreiben. Die Armut war so groß, daß 80 Prozent weniger als zwei Dollar am Tag verdienten.

Inzwischen wurde die DTP verboten. Das war vor zwei Jahren. An ihre Stelle ist die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) getreten. Viele ihrer Mitglieder und Anhänger, sogar Bürgermeister, sind seitdem im Zuge der Verhaftungswellen gegen kurdische Zivilisten inhaftiert worden. So auch Abdullah Demirbas, der noch immer, nun für die BDP, Bürgermeister von Sur ist. Vorgeworfen wird ihm, Mitglied in der "Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans" (KCK), dem Dachverband der Vereinigten Gemeinden Kurdistans, zu sein, bei der es sich nach Lesart des türkischen Staates um eine illegale Schirmorganisation handelt, der auch die verbotene PKK angehöre. Allein mit dieser Anklage drohen ihm 35 Jahre Haft. "Sie haben in meinem Haus noch nicht einmal ein Taschenmesser gefunden", sagt er dazu [2]. Es wäre nicht seine erste Verurteilung, wurde er doch bereits zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, weil er im Mai 2009 gesagt hatte: "Die Tränen der Mutter eines Soldaten und die der Mutter eines Guerilleros haben die gleiche Farbe. Dieser Krieg muss ein Ende finden." [2]

Dieser Repression entgegen - wie Abdullah Demirbas wurden in den zurückliegenden zwei Jahren rund 5000 Kurdinnen und Kurden aus legalen politischen Organisationen verhaftet - setzen auch kurdische Lokalpolitiker und -politikerinnen ihre Arbeit fort. Gülbahar Örmek legte die Grundsätze der von der BDP betriebenen Kommunalpolitik dar. Die Partei für Frieden und Demokratie will in der Türkei eine Alternative darstellen und von der Basis her anbieten. Entscheidungen werden in der Kommune an der Basis getroffen und von dort bis nach oben getragen. Wenn es der Wunsch der (kurdischen) Bevölkerung ist, eine freie und auch zwischen den Geschlechtern gleichberechtigte Gesellschaft aufzubauen, müssen die Menschen, die es betrifft, in die zu treffenden Entscheidungen einbezogen werden. An einem Projekt für Kinder müssen Kinder beteiligt sein, an einem Projekt für Frauen Frauen und an einem Projekt für Roma müssen Roma beteiligt werden.

Das mag vielleicht banal klingen und berührt doch zentralste Fragen der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die eigentliche Brisanz eines solchen Politik-, Demokratie- und auch Staatsverständnisses liegt darin, daß der demokratische Anspruch gemessen an parlamentarischen Stellvertreter-Demokratien im Grunde übererfüllt wird, weil die auf welcher politischen Ebene auch immer von staatlichem Handeln betroffenen Menschen nicht im Abstand mehrerer Jahre ihre Repräsentanten wählen, sondern direkt ins politische Geschehen eingreifen und dies mitgestalten können. In den von der BDP bzw. ihren Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen "regierten" Kommunen ist diese Form des Kommunalismus bereits in politische Praxis umgesetzt worden.

Gülbahar Örmek während ihres Vortrags in der Hamburger Uni - Foto: © 2012 by Schattenblick

"Entscheidungen werden von der Basis bis nach oben getroffen."
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wie Gülbahar Örmek schilderte, werde in diesen Kommunen im Unterschied zu den von der AKP oder anderen etablierten Parteien regierten Gemeinden eine Entscheidung "von der Basis bis nach oben" getroffen. Zu diesem Zweck werden Versammlungen abgehalten, und es wird mit denjenigen, die es betrifft, gesprochen. Ein Projekt, mit dem die Menschen nicht einverstanden sind, wird so lange nicht durchgeführt, bis eine gemeinsame Zustimmung erreicht werden konnte. Auch dies mag wie eine Selbstverständlichkeit anmuten, ist es jedoch ganz und gar nicht.

Innerhalb der BDP ist der Frauenanteil deutlich höher als in anderen Parteien, doch immer noch nicht hoch genug. Wie Gülbahar Örmek erklärte, strebe die Partei eine 40-Prozent-Quote an. Derzeit stellen die Frauen 11 von 36 Abgeordneten in der türkischen Nationalversammlung, sie sind in der BDP in Parteivorstand und -Präsidium vertreten. Von 99 Bürgermeisterämtern der BDP werden 17 von Bürgermeisterinnen geleitet. Für die Zukunft werde angestrebt, daß es überhaupt keinen Unterschied mehr mache, ob eine Frau oder ein Mann ein solches Amt innehabe. Doch zunächst gelte es, den Einfluß der Frauen auch in ökonomischer und sonstiger Hinsicht auszuweiten. Dazu wurden Frauenkooperativen ins Leben gerufen, die sozusagen am untersten, von extremer Armut, Analphabetismus und Arbeitslosigkeit dominierten Rand der Gesellschaft der ansonsten aussichtslos anmutenden Ausbeutung praktisch entgegenarbeiten.

In ihrer Gemeinde, so berichtete die Referentin, werden seit etwa drei Jahren solche Projekte aufgebaut. In den letzten acht, neun Monaten haben sich erste Erfolge eingestellt. Die Veränderungen fänden Stück für Stück statt. Es wäre nicht richtig zu behaupten, so erklärte die Kommunalpolitikerin, daß "wir alles auf einmal erreichen würden". Viele Frauen, die zeit ihres Lebens aus Haus und Familie nicht herausgekommen sind, nie eine Ausbildung genossen haben und oftmals nicht einmal zur Schule gehen konnten, können sich mit Hilfe der neuen Projekte, der Frauenkooperativen, unabhängig machen und sich ihre Rechte erkämpfen. Dabei greifen die Projekte auf handwerkliche Fertigkeiten zurück, die von Frauen schon vor fünftausend Jahren ausgeübt wurden, und entwickeln einen Erfindungsreichtum, wenn es gilt, die trostlos anmutende Lage dieser Frauen in Angriff zu nehmen. Dabei stellt sich schnell heraus, daß die offiziellen staatlichen Stellen der Kommune kaum Hilfen anbieten im Gegensatz zu den kommunalistischen der BDP.

Daß die Frauen, aber auch die Jugendlichen des Bezirks aus ihrer eigenen Hände Arbeit eigenes Geld verdienen können, und sei es mit denkbar einfachsten Mitteln wie etwa im eigenen Keller angebauter und verkaufter Pilze, ist aus einem bestimmten Grunde so besonders wichtig. Auf diesem Wege kann nämlich die faktische Sklaverei, zu der sich viele Menschen in Diyarbakir/Sur ansonsten verdingen müßten, beendet werden. Wie Gülbahar Örmek erläuterte, haben zuvor viele Jugendliche und Frauen ihre Dörfer, die jetzigen Stadtteile Surs, verlassen müssen, um unter widrigsten Bedingungen in der Landwirtschaft zu arbeiten, beispielsweise Nüsse oder Obst zu sammeln oder Baumwolle zu pflücken. Die kurdische Stadtverwaltung hat Projekte ins Leben gerufen, um den Dorfbewohnern und -bewohnerinnen ein eigenes Wirtschaften, etwa Gewürze zu produzieren und zu verkaufen, zu ermöglichen. Den Betroffenen wurden von der Gemeinde zehn Hektar Land zur Verfügung gestellt, Ingenieure unterstützten das Projekt.

Die kurdischen Frauen, so beschrieb Gülbahar Örmek, seien ungeheuer lern- und wißbegierig und würden, sobald die Veränderungen Fuß faßten, nicht mehr hinter die erreichten Linien zurückkehren. Wenn eine Frau erst einmal aus ihren Haus herausgekommen sei und ihre Rechte kennengelernt habe, lasse sie sich nicht mehr dorthin zurückschicken. Schritt für Schritt verändere sich die Situation der kurdischen Frauen in der gesamten Gesellschaft. Sie sind in der Produktion, in der Schule, in Bildung und Politik angekommen, und auch auf der Straße sind immer mehr Frauen zu sehen. "Das ist wirklich Widerstand, das ist alles Widerstand", verdeutlichte die Referentin die praktischen, wenn auch vielleicht unspektakulär anmutenden Ergebnisse und Erfolge der kurdischen Revolution, die, wie Gönül Kaya auf dem Kongreß zuvor schon verdeutlichte [3], eine Frauenrevolution ist.

All diese Rechte haben sich die Frauen selbst erkämpft, gegenüber dem Vater, dem Bruder, dem Ehemann. "Keiner hat den Frauen von sich aus ihr Recht gegeben. So etwas gibt es nicht, nirgendwo auf der Welt. Wenn du deine Rechte nicht erkämpfst, wirst du deine Rechte nicht bekommen", so Örmek. Daß die kurdische Bewegung und der von ihr nicht nur propagierte, sondern an der Basis der Gesellschaft bereits in Angriff genommene und realisierte demokratische Aufbruch tatsächlich ein Modell für die gesamte, von den westlichen Staaten so gern als rückständig diffamierte Region des Nahen und Mittleren Ostens sein könnte, war ihren Ausführungen unzweideutig zu entnehmen. Dies würde erklären, warum die türkische Regierung mit Billigung der USA sowie der EU-Staaten einen so extrem repressiven Kurs gegenüber der kurdischen Demokratiebewegung eingeschlagen hat, die nämlich aus der Not der völligen Mißachtung ihres Volkes, ihrer Kultur und Sprache längst eine Tugend, nämlich die einer tatsächlichen Inanspruchnahme demokratischer Werte und Versprechen, gemacht hat.

Die Mauer um den Stadtkern Diyarbakirs von außen gesehen - Foto: © Gerry Lynch, 2003 [5]

Die Befestigungsanlagen rund um Amed, wie die kurdische Bewegung Diyarbakir nennt
Foto: © Gerry Lynch, 2003 [5]

Anmerkungen:

[1] Türkei - Hinter der Mauer. Tagesspiegel vom 02.12.2007,
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/tuerkei-hinter-der-mauer/1109508.html

[2] Zwei Arten von Tränen. Anstatt auf Dialog setzt die türkische Regierung im Konflikt mit den Kurden weiter auf Repression und Gewalt. Eine Radikalisierung der Jugend scheint unausweichlich. Von Constanze Letsch, 29.12.2011, Der Freitag,
http://www.freitag.de/datenbank/freitag/2011/51/zwei-arten-von-traenen/print

[3] Siehe Bericht zum Vortrag Gönül Kayas:
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0103.html

[4] Bildnachweis: Foto © Doron, August 2002
Hinweis zur Lizenz siehe: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:DiyarbakirWalls.jpg&filetimestamp=20070903073044

[5] Bildnachweis: Foto © Gerry Lynch, 2003
Hinweis zur Lizenz siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Diyarbakirwalls2.jpg


(Fortsetzung folgt)

7. März 2012