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BERICHT/119: Rüstungsstadt Kassel ... wo Krieg beginnt (SB)


Tod und Zerstörung Made in Hessen


Demowagen vor Fridericianum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kundgebung auf Antirüstungsdemo am 31. August in Kassel
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Rüstungsstadt Kassel gehört in Geschichte und Gegenwart zu den bedeutendsten Standorten der Produktion von Kriegswaffen in Deutschland und Europa. Sie beherbergt führende deutsche Unternehmen jener Sparte kapitalistischer Verwertung, in der Profitmaximierung durch Herstellung und Verkauf modernsten Kriegsgeräts mit der Bereitstellung überlegener Waffengewalt zur Grundlage imperialistischer Staatsräson verschmelzen. In diesem Zusammenhang wird der ideologische Charakter einer Unterscheidung von Krieg und Frieden, militärischen und zivilen Zwecken besonders augenfällig: Die Kasseler Rüstungsproduktion stand seit 1917 im Dienst zweier Angriffskriege, unterstützte den Aufbau der Bundeswehr als sogenannte Verteidigungsarmee und befördert heute Interventionen in zahlreichen Ländern.

Daß die Kriegsführung in andere Weltregionen verlagert wurde, mag den Eindruck erwecken, man lebe hierzulande in friedlichen Zeiten. Zu wessen Lasten dieser vermeintliche Frieden und vergleichsweise hohe Lebensstandard ausgefochten wird, ist ebenso offenkundig, wie dies gemeinhin ausgeblendet zu werden pflegt. Hinzu kommt der Einsatz deutschen Kriegsgeräts zur Durchsetzung repressiver Staatlichkeit in einer ganzen Reihe von Ländern und nicht zuletzt in der Bundesrepublik selbst.

Die in Kassel und München produzierende Panzerschmiede Krauss-Maffei Wegmann repräsentiert das Herzstück der Herstellung von Rüstungsgütern in der nordhessischen Stadt. Das Unternehmen Wegmann & Co. wurde 1882 in Kassel als Casseler Waggonfabriken von Wegmann, Harkort & Co. durch Peter Wegmann und Richard Harkort gegründet. 1912 erfolgte die Übernahme durch den Ingenieur August Bode und Conrad Köhler und 1917 nahm die Waggonfabrik die Rüstungsproduktion mit dem Panzerkampfwagen K für den Ersten Weltkrieg auf.

Im Zweiten Weltkrieg erhielt der Betrieb die höchste Dringlichkeitsstufe der Wehrmacht - zunächst wegen der Güterwaggons für den Nachschub an die Front, dann zunehmend wegen der Panzer. Gemeinsam mit der Rüstungsfirma Henschel fertigte Wegmann im Schnitt jeden Monat 53 Exemplare des damals schwersten Modells "Tiger". Im Jahr 1941 baute die Firma zwei Salonwagen für das "rollende Führerhauptquartier", das Hitler persönlich skizziert hatte. In welchem Ausmaß das Unternehmen von seiner bedeutenden Stellung in der deutschen Kriegsführung profitierte, unterstreicht der Umstand, daß sich der Erlös von 1938 bis 1943 verdreifachte. Auf Weisung von höchster Stelle wurde die Produktion subventioniert, man stellte dafür "heereseigene Werkzeugmaschinen" bereit und lieferte vorrangig Betriebsmittel und Arbeitskräfte wie insbesondere Zwangsarbeiter aus Rußland. Am 22. Oktober 1943 flog die britische Royal Air Force einen massiven Angriff auf den "Tiger"-Standort Kassel, bei dem 10.000 Menschen starben. [1]

Doch die unmittelbare Beteiligung am Angriffskrieg, die Gunst der nationalsozialistischen Führung, die Ausbeutung und Vernichtung von Gefangenen im Produktionsprozeß und die Opfer der Kasseler Zivilbevölkerung führten keineswegs dazu, daß der rote Faden der Produktion von Rüstungsgütern abgeschnitten worden wäre, der die Historie dieses Unternehmens durchzieht. Wie aus bis vor kurzem unbekannten Unterlagen hervorgeht, wurden Fritz und Engelhard, die Söhne des Firmenpioniers August, nach dem Krieg verhaftet. Man warf ihnen vor, als "SS-Untersturmführer ehrenhalber" Mitglieder einer "verbrecherischen Organisation" gewesen zu sein. Im Entnazifizierungsverfahren sollten sie als "Belastete" zunächst 30 Prozent ihres Vermögens abtreten. Dann revidierte jedoch die Kasseler Justiz das Urteil, stufte die Brüder als "Mitläufer" ein und verhängte eine "einmalige Geldsühne" von 300 bzw. 1000 Mark für den Wiedergutmachungsfonds. Die erstinstanzliche Strafe, ein Jahr "Sonderarbeit für die Allgemeinheit", entfiel.

Für die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik war diese militärtechnologische Kompetenz nicht minder unverzichtbar, ging man doch umgehend daran, die BRD zum Vorposten des Kalten Krieges aufzurüsten. In den 1960er Jahren übernahm Wegmann die Entwicklung und den Bau von Turmsystemen für Gerätschaften der neu gegründeten Bundeswehr, darunter auch der Kampfpanzer Leopard 1 und 2. Bei der Serienfertigung des Leopard war zunächst der Konzern Krauss-Maffei der Generalunternehmer, dessen Vorgeschichte in ähnlichen Bahnen verlief. Im Jahr 1838 hatte Joseph Anton von Maffei die erste Münchner Lokomotivfabrik gegründet. Diese wurde 1931 von Krauss & Co. übernommen und firmierte fortan unter dem Namen Krauss-Maffei AG. In den 1930er Jahren begann die Entwicklung militärischer Produkte und 1963 nahm das Unternehmen die Herstellung des Leopard auf.

Als Zusammenschluß der Rüstungsaktivitäten von Krauss-Maffei, einer damaligen Tochtergesellschaft der Mannesmann AG, und der Kasseler Firma Wegmann & Co., die sich mehrheitlich in Besitz der Familie Bode befand, entstand 1999 Krauss-Maffei Wegmann (KMW). Seither zählt KMW auf dem Gebiet der Kampfpanzer bis hin zu Artillerie und Flugabwehr zu den führenden Herstellern in Europa. Nach der Mannesmann-Übernahme durch Vodafone wurde der Industriebereich von Mannesmann (ATECS) an Siemens und Bosch verkauft. Siemens hielt seit dem Jahr 2000 einen 49-Prozent-Anteil an KMW, die restlichen 51 Prozent waren im Besitz der Wegmann & Co. GmbH, einer Tochtergesellschaft der Wegmann & Co. Unternehmens-Holding KG, die sich vor allem im Eigentum der Nachkommen des Unternehmers August Bode befindet. Am 17. Dezember 2010 verkaufte Siemens seinen Anteil an die Familienholding, die rund 26 stillen Teilhabern gehört - Angehörigen der Familien Bode, von Braunbehrens, von Maydell und Sethe.

Der Panzerproduzent Krauss-Maffei Wegmann gilt als verschlossenstes Unternehmen der deutschen Wirtschaft. Da sich die Anteile komplett in Privathand befinden und die Eignerfamilien größten Wert auf Diskretion legen, blieb Außenstehenden lange Zeit der Einblick in die Firma verwehrt. Da man für ein gutes Betriebsklima sorgte, war die Fluktuation so gering, daß kaum Informationen nach außen drangen. Um Banken keinen Einblick zu gewähren, verzichtete das Unternehmen überdies wenn irgend möglich auf Kredite. Die Fusion mit Krauss-Maffei wurde 1999 im Geheimen vorbereitet, so daß selbst deutsche Spitzenpolitiker größtenteils erst bei Vollzug davon Kenntnis bekamen. Um die deutsche Rüstungsproduktion enger zusammenzuschließen, strebte die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder eine Fusion von KMW mit der börsennotierten Rheinmetall AG an, mit der KMW unter anderem beim Schützenpanzer Puma kooperiert. Kurz vor dem Ziel blockierte Manfred Bode das Vorhaben und ließ sich von Berlin nicht umstimmen. Er favorisierte ein geschlossenes Familienunternehmen und lehnte es ab, anderen Einblick und Mitspracherechte zu gewähren.

Erst die Internet-Kampagne des Berliner "Zentrums für politische Schönheit" um den Kunstaktivisten Philipp Ruch brachte für die Öffentlichkeit Licht in die Besitzverhältnisse der Rüstungsfirma. Nachdem in einer spektakulären Aktion für Hinweise auf etwaige illegale Aktivitäten der Eignerfamilien 25.000 Euro Belohnung ausgelobt worden waren, begann sich das darüber geweckte Medieninteresse auf die Erkenntnisse Ruchs zu stürzen. Der gutbürgerliche Kreis der Teilhaber, die im Jahr 2010 allein 18 Millionen Euro Dividende des Rüstungskonzerns eingestrichen hatten, setzt sich aus Alt-68ern, Krankenpflegern, Fotografen, Psychologen, Juristen und Röntgenologen zusammen.

Der europäische Marktführer bei Panzern und gepanzerten Fahrzeugen Krauss-Maffei Wegmann ist jedoch keineswegs das einzige Rüstungsunternehmen in Kassel. An diesem Standort findet man zudem Rheinmetall Defence, die Eurocopter Training Academy, die Glückauf-Logistik GmbH und die PSM Projekt System & Management GmbH, so daß man die Stadt mit Fug und Recht als Hochburg deutscher Waffenproduktion ausweisen kann. Das Bundesland Hessen mit seinen gut 100 Rüstungsfirmen ist ohnehin einer der größten Rüstungsstandorte in der BRD, wobei neben KMW, dem Marktführer beim Panzerbau, insbesondere Honeywell in Maintal auf dem Gebiet der Militärelektronik zu nennen ist. Zudem finden in Frankfurt des öfteren internationale Rüstungsmessen statt. Hinzu gesellen sich Lobbyorganisationen der Rüstungsindustrie sowie militärische Forschungsvorhaben an mehreren hessischen Hochschulen und Instituten, die eine enge Verzahnung des Wissenschaftsbetriebs mit Kriegsprojekten erkennen lassen. [2]

Die Bundeswehr unterhält in Hessen etwa 8.800 Dienstposten an diversen Standorten, allen voran den Stab der Division Spezielle Operationen (DSO) in Stadtallendorf, die als "Division der ersten Stunde" wie keine andere die Angriffsfähigkeit der Truppe repräsentiert. Nicht zuletzt sind auch die US-Streitkräfte nach wie vor präsent, die die meisten Stützpunkte außerhalb des Heimatlandes in der Bundesrepublik unterhalten. Zwar wurden die letzten US-Soldaten 2010 aus Darmstadt und Hanau abzogen, doch baut man im Zuge eines Konzentrationsprozesses dafür Wiesbaden zum Hauptquartier der US-Landstreitkräfte in Europa aus. Gemeinsame Übungen und die Vorbereitung von Kriegseinsätzen mit NATO-Partnern finden in Hessen unter anderem auf dem Truppenübungsplatz Wildflecken statt.

Daß dieser Komplex aus Militärpräsenz und Rüstungsindustrie mit Geist und Wortlaut der Hessischen Verfassung vereinbar ist, darf bezweifelt werden. Dort heißt es in Artikel 69:

Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung. Der Krieg ist geächtet. Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, einen Krieg vorzubereiten, ist verfassungswidrig.

Dies als Widerspruch zur gängigen Praxis wahrzunehmen, scheint hierzulande zu einem irrelevanten Anachronismus verkommen zu sein. Deutschland ist der drittgrößte Rüstungsexporteur der Welt, betreibt gegenwärtig mehr als 25 militärische Großvorhaben und ist derzeit mit mehr als 6.000 Soldaten in zwölf Auslandseinsätzen präsent. Krieg, wo immer er auch geführt wird, ist längst wieder zu einer festen Größe deutscher Politik geworden.

Panzer sichern Arbeitsplätze und schützen Umwelt - Foto: © 2012 by Schattenblick Panzer sichern Arbeitsplätze und schützen Umwelt - Foto: © 2012 by Schattenblick Panzer sichern Arbeitsplätze und schützen Umwelt - Foto: © 2012 by Schattenblick Panzer sichern Arbeitsplätze und schützen Umwelt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Militaristische Gewerkschafter und Umweltschützer ins Visier genommen Foto: © 2012 by Schattenblick

Demonstration gegen den Export von Kampfpanzern in alle Welt

Am 31. August kamen rund 400 Menschen zusammen, um inmitten des Trubels um die Documenta ein sichtbares Zeichen gegen deutsche Rüstungsexporte zu setzen. Stellt man dies ins Verhältnis zu den rund 20.000 Kunstliebhabern, die die nordhessische Rüstungsmetropole an einem Wochenende besuchen, dann illustriert dies schon recht genau das Verhältnis zwischen konkreter und symbolischer Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen der Welt. Schließlich geht es um nichts geringeres als Öl in das Feuer eines zur Explosion drängenden Konflikts zu gießen, wenn die Bundesregierung sich positiv zum Export hochentwickelter Waffen in ein Krisengebiet stellt. Was uns die Menschen in anderen Weltregionen angehen, dürfte in Anbetracht des internationalen Charakters der spektakulären Kunstshow eigentlich keine Frage sein. Jedoch scheint es das Gros des kunstbeflissenen Publikums vorzuziehen, nicht einmal diese Frage aufzuwerfen, sondern sich mit den Antworten zufriedenzugeben, mit der die deutsche Kriegführung und Rüstungsexportpolitik legitimiert wird.

Doch moralische Forderungen reichen nicht aus, um Widerstand gegen eine Kriegspolitik zu leisten, die hier im Gewand geostrategischer Interessensicherung vollzogen wird. Christine Buchholz von der Partei Die Linke prangerte in ihrer Rede zum Auftakt der Demo auf dem Opernplatz die Rechtfertigung der Bundesregierung, mit dem Export von Panzern nach Saudi-Arabien und Katar Sicherheit und Stabilität unter Bündnispartnern der Bundesrepublik zu garantieren, zu Recht an. Auch zeigte sie den Widerspruch zwischen Merkels und Westerwelles Kritik an der syrischen Regierung, Panzer gegen Aufständische einzusetzen, bei gleichzeitiger Unterstützung der Aufstandsbekämpfung in anderen arabischen Ländern durch die Bundesrepublik auf.

Bei der Rede auf Demowagen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Christine Buchholz, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke Foto: © 2012 by Schattenblick

Doppelte Standards sind selbstverständlicher Bestandteil imperialistischer Politik. Es ist in einer massiv entpolitisierten Öffentlichkeit nie verkehrt, auf sie hinzuweisen, doch verbleibt diese Kritik an der Oberfläche eines Glaubens daran, daß Regierungen tatsächlich moralischen Grundsätzen verpflichtet seien. Aus interessenpolitischer Sicht war die Aussage, daß Saudi-Arabien wie auch Israel als wichtigste Verbündete des Westens in der Region "gegen jede revolutionäre Erhebung" [3] vorgingen, um einiges brisanter. Zwar wurde die Arabellion durch geschicktes Co-Management der NATO-Staaten in ihrer sozialrevolutionären Stoßrichtung ausmanövriert und in Libyen und Syrien erfolgreich in den Dienst gegenteiliger Interessen gestellt. Doch ist gerade in den besonders repressiven arabischen Golfstaaten nicht auszuschließen, daß sich deren Bevölkerungen noch einmal in ihrem ureigenen Interesse gegen ihre Despoten und Oligarchen erheben.

Die soziale Stoßrichtung kriegerischer Eskalationen geht allzuoft in geostrategischen Planspielen und einer auf das Interesse am Profitmachen beschränkten Kapitalismuskritik verloren. Die große Unbekannte im Nahen und Mittleren Osten ist jedoch die soziale Frage, wie die Aufrüstung despotischer Regimes mit schweren Waffen zur Aufstandsbekämpfung belegt. 2011 flammte der soziale Widerstand nicht nur in Tunesien und Ägypten auf, er manifestierte sich auch in Spanien, Griechenland und USA, um nur einige besonders hervorstechende Beispiele zu nennen. In den bevölkerungsreichsten Staaten China und Indien kämpfen Millionen Menschen mit dem Mittel des Streiks, aber auch der organisierten Militanz um ihre Rechte, ohne daß dies hierzulande überhaupt zur Kenntnis genommen würde. Der kurdische Befreiungskampf hat Modelle der föderalistischen Autonomie und sozialen Selbstorganisation hervorgebracht, die für orientalische Gesellschaften beispielhaft sein könnten, wenn sie nicht so massiv unterdrückt würden.

Transparent 'Kurdistan will Frieden' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Solidarität mit Befreiungskämpfern auf Friedensdemo verboten ... Foto: © 2012 by Schattenblick

Fast unbemerkt geblieben ist der Platzverweis, den die Polizei einigen kurdischen Aktivistinnen und Aktivisten erteilte, die sich mit ihrem Anliegen in die Demo einbringen wollten. Daß diese so glatt über die Bühne gehen konnten, ist auch Ergebnis mangelnder Solidarität mit ihrem Befreiungskampf. Obwohl - oder gerade weil - die Regierung des NATO-Staates Türkei Tausende Kurdinnen und Kurden allein aufgrund ihres Bekenntnisses zu kultureller Selbstbestimmung und politischer Selbstorganisation inhaftiert hat und inbesondere die sozialistisch orientierten Gruppen dieses Teils ihrer Bevölkerung massiv unterdrückt, liegt die Bundesregierung mit ihrer gegen jegliche kurdische Autonomie gerichteten Politik ganz auf der Linie dieser sich zusehends aggressiv gebärdenden Regierung. Hinsichtlich der Handlungs- und Bündnisfähigkeit der Friedensbewegung zu denken gibt auch die Aussage einer Teilnehmerin gegenüber dem Schattenblick, sie wäre lieber mit einem schwarzroten anstatt eines roten Sterns auf dem Transparent zur Demo gekommen, doch das hätte Probleme bei der Beteiligung geben können.

Transparent 'Keine Waffen nach Nirgendwo' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kampfansage an kriegerische Gewalt
Foto: © 2012 by Schattenblick

Den Funken archaischer Streitbarkeit und ungebändigter Subjektivität auszutreten ist ein wesentliches Ziel der Militarisierung kapitalistischer Gesellschaften, wie nicht zuletzt die jüngste Entwicklung des Einsatzes der Bundeswehr im Innern belegt. Dies mag die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer von einem breiten Bündnis getragenen Anti-Rüstungs-Demo überfordern, doch das sollte die geringste Sorge in Anbetracht des Tempos einer gesellschaftlichen Entwicklung sein, bei der immer offener mit staatsautoritären Mitteln gedroht und mit angeblichen ökonomischen Sachzwängen Druck gemacht wird.

Transparent Die Linke 'Rüstungsexporte stoppen' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Alleinstellungsmerkmal Antikriegspartei
Foto: © 2012 by Schattenblick

Daß Die Linke, wie ihre Abgeordnete Buchholz berichtete, mit ihrem Antrag auf Stopp aller Waffenexporte in den Nahen Osten allein blieb, daß also alle anderen Fraktionen für eine Politik eintreten, die dazu beitragen könnte, daß ein Flächenbrand ausbricht, der im Zweifelsfall auch Israel beträfe, liegt ganz auf der Linie einer Interessendurchsetzung, die vor Krieg nicht zurückschreckt. Wie dies vorbereitet wird, schilderte Lühr Henken, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, in einer kenntnis- und detailreichen Rede.

Bei der Rede auf Demowagen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Lühr Henken vom Bundesausschuss Friedensratschlag
Foto: © 2012 by Schattenblick

Mit einem Weltmarktanteil von 10 Prozent ist die deutsche Rüstungsindustrie drittgrößter Waffenexporteur der Welt. 70 Prozent ihres Umsatzes entfällt auf die Ausfuhr von Rüstungsgütern, ein Viertel davon durch Kampfpanzer, was deutlich macht, wie sehr ihr geschäftlicher Erfolg vom angeblichen Stabilitätsexport abhängt. Dieser wirkt sich ganz und gar nicht friedensstiftend aus, wie die bewaffnete Unterdrückung der schiitischen Bürger im Osten Saudi-Arabiens durch das sunnitische Herrscherhaus und die Niederschlagung der mehrheitlich schiitischen Demokratiebewegung in Bahrain durch saudische Truppen belegt. Panzer des Typs Leopard 2 A7+ aus Deutschland werden zur inneren Repression eingesetzt, was sich in der offiziösen Sprachregelung der Bundesregierung in einer Würdigung der saudischen Herrscherclique als wichtiger Partner im Kampf gegen den Terrorismus und gegen eine nukleare Bewaffnung des Irans manifestiert.

Henken verweist auch darauf, daß ein Auftragsvolumen von fünf Milliarden Euro auch den deutschen Einfluß auf die saudische Führung mehrt. Auch die mögliche Lieferung von Kampfpanzern dieses Typs nach Katar ist Bestandteil einer Politik der inneren Unterdrückung, handelt es sich bei diesem Golfstaat doch um eine organisatorische und logistische Zentrale der US-Streitkräfte in der Region, was die schiitische Minderheit in Katar automatisch zu unzuverlässigen Kantonisten macht. Die angebliche Bedrohung durch den Iran konterkariert der Friedensaktivist mit der Angabe, daß allein die sechs Länder des Golf-Kooperationsrates - Kuwait, Bahrain, Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate und Oman - sieben Mal mehr fürs Militär ausgeben als der Iran. Die USA sind ohnehin in der Region militärisch präsent und wappnen sich unter anderem mit dem Bau eines Raketenabwehrsystems für einen Krieg gegen den Iran, der aufrüstungstechnisch allein den arabischen Golfstaaten vollkommen unterlegen ist. Seit 2010 beliefern die USA den Golf-Kooperationsrat, der 1981 als Bollwerk gegen die Islamische Republik Iran gegründet wurde, mit Waffen im Wert von 150 Milliarden Dollar, was sogar auf ein rüstungstechnisches Kräfteverhältnis von 1 zu 15 zuungunsten des Iran hinausläuft.

Transparent Pax Christi - Foto: © 2012 by Schattenblick

Antimilitarismus für Christen nicht selbstverständlich
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dazu gesellen sich deutsche Panzerlieferungen und die strategische U-Boot-Armada Israels, so daß schon die militärische Übermacht auf der Seite der Kontrahenten des Iran zum Angriffskrieg verleiten könnte. Gelegenheit macht Diebe, und wer schweres Kriegsgerät in extreme Spannungsgebiete schickt, ist nicht nur an guten Geschäften, sondern ganz generell an Beutemachen interessiert. Für Henken führt diese Politik des kalkulierten Tabubruchs entweder zu einem Krieg gegen den Iran oder zur atomaren Aufrüstung des Landes, wobei in Anbetracht des Säbelrasselns insbesondere der israelischen Regierung und den nicht für die schnelle Entwicklung von Atomwaffen sprechenden Informationen aus dem Iran ersteres wahrscheinlicher ist.

Von besonderer Ironie ist diese Politik auch in Hinsicht auf die innenpolitische Unterdrückung salafistischer Gruppen. Während sie hierzulande als terrorverdächtige Staatsfeinde gelten, werden ihre Unterstützer in Saudi-Arabien mit Zerstörungsmitteln ausgestattet, die die behauptete Aggressivität salafistischer Muslime geradezu als Empfehlung für deutsche Geostrategen erscheinen läßt. Dies gilt auch für Syrien, werden dort doch Gruppierungen als Freiheitskämpfern hofiert, die in den NATO-Staaten als mutmaßliche Sicherheitsrisiken besonders intensiv observiert werden. Der hier hervortretende Zynismus läßt zumindest erkennen, daß die angeblichen Sicherheitsinteressen der Terroristenjäger nicht Menschen, sondern Mächten geschuldet sind.

Transparent 'Griechische Schulden auch Ergebnis deutscher Rüstungsexporte' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Aufstandsbekämpfung auch in Griechenland
Foto: © 2012 by Schattenblick

Nach einer kurzen Wegstrecke bis in die Nähe des Fridericaneums erfolgt eine weitere Kundgebung. Dort zieht ein ehemaliger Besetzer eines vor wenigen Tagen von der Polizei geräumten Hauses in der Oberen Austraße in Mainz die meist viel zu kurz kommende Verbindung zwischen selbstbestimmten Lebensformen und antimilitaristischem Aktivismus. Drei Wochen habe er in diesem nach drei Jahren Leerstand zum Kulturzentrum erklärten Haus zusammen mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten an einem blühenden Ort gemeinschaftlichen Schaffens gelebt. In den zahlreichen Workshops, die dort in dieser Zeit stattfanden, war Gewaltfreiheit ein wesentliches Thema. Der Aktivist sprach sich nicht nur gegen Sexismus, Rassismus und Homophobie, sondern gegen Gewaltanwendung in jeglicher, also auch militärischer Form aus. Um die Vision des friedlichen gewaltfreien Miteinanders zu verwirklichen, wolle man auch weiterhin dafür notwendige Freiräume schaffen.

Trommler und Blechbläser - Foto: © 2012 by Schattenblick Trommler und Blechbläser - Foto: © 2012 by Schattenblick

Keine Marschmusik für keinen Gleichschritt
Foto: © 2012 by Schattenblick

Im weiteren Verlauf zog die Demo vor die Tore des Rüstungsunternehmens KMW, wo der Bundestagsabgeordnete der Linken, Wolfgang Gehrcke, die Abschlußrede hielt. Mit den Kasseler Aktionstagen gegen Rüstungsindustrie und Militarismus, in deren Rahmen die Demo stattfand, wurde ein Zeichen des Widerstands gegen eine mörderische Politik gesetzt, die zu verhindern mehr erfordert als das Unbehagen, das die meisten Menschen beim Thema Krieg empfinden. Imperialistische Aggressionen sind untrennbar mit der systemischen Krise des Kapitals, der Ökologie, der Energie, der Ernährung und Demokratie verknüpft. Die von dem Mainzer Aktivsten gezogene Verbindung zwischen dem Erkämpfen lokaler Freiräume und der Erforschung einer neuen Form des Miteinanders hat vielleicht mehr mit gesellschaftlicher Veränderung im Großen zu tun, als es im ersten Moment erscheint.

Fußnoten:
[1] http://www.focus.de/finanzen/news/unternehmen/tid-26350/wirtschaft-die-macher-des-leopard-2-die-macher-des-leopard-2-seite-4_aid_774769.html

[2] http://www.ruestungsatlas2011.linksfraktion-hessen.de/betriebe-mit-militaerisch-verwendbaren-produkten/kassel.html

[3] http://christinebuchholz.de/2012/08/31/menschen-vor-profite-keine-panzer-nach-saudi-arabien/

[4] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/export/nordhessen.html

[5] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/prop1454.html

Angestrahlte Wasserfontäne - Foto: © 2012 by Schattenblick

Spektakel im Bergpark - Kassel feiert sich selbst
Foto: © 2012 by Schattenblick

5. September 2012