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BERICHT/134: Kapitalismus final - Renaissancen (SB)


Plädoyer für die Rückkehr zum Klassenkompromiß

Vortrag von Lucas Zeise auf dem Symposium am 17. November 2012



Beim Symposium der Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" am 17. November im Georg-Asmussen-Haus in Hamburg-St. Georg vertieften und bündelten Beate Landefeld, Lucas Zeise, Andreas Wehr, Dr. Werner Seppmann und Dr. Arnold Schölzel in ihren Vorträgen und der Diskussion mit dem interessierten Publikum zentrale Fragen einer richtungsweisenden Analyse. Als zweiter Referent sprach Lucas Zeise zum Thema "Die Rolle des Finanzsektors in der Krise".

Lucas Zeise hat Philosophie und Volkswirtschaft studiert. Er ist seit mehr als zwanzig Jahren Finanzjournalist und hat unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die deutsche Aluminiumindustrie und die Frankfurter Börsenzeitung gearbeitet. Zeise ist Mitbegründer der Financial Times Deutschland und Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung.

Mit Mikrofon in der Hand - Foto: © 2012 by Schattenblick

Lucas Zeise
Foto: © 2012 by Schattenblick

Um die von Lucas Zeise vertretene Position zusammengefaßt zu umreißen, stellen wir sein Schlußwort voran, das im Programmablauf wie das der anderen Vortragenden am Ende der Veranstaltung stand. Bei seiner abschließenden Stellungnahme gab er zunächst zu bedenken, daß die historische Einordnung der gegenwärtigen Situation mitunter in der Diskussion über den Kapitalismus in der Krise zu kurz komme. Das Monopolkapital sei in der Phase des Neoliberalismus in die Offensive gegangen, die Arbeiterklasse von einer Niederlage in die andere gestürzt. Man habe 30 Jahre Konterrevolution erlebt, vergleichbar mit Metternichs bleierner Zeit. In dieser Periode fänden Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Zentren wie jene zwischen den USA und Deutschland statt, welche die Auffassung eines kollektiven Imperialismus für sich genommen nicht erfasse. Wenngleich es dem Monopolkapital nicht gelungen sei, eine funktionierende Weltordnung zu schaffen, verhalte es sich doch wie ein krankes Ungeheuer, das desto wüster um sich schlägt.

Es sei vollkommen richtig, daß wir den Sozialismus als Systemalternative brauchen, so der Referent. Dies lediglich zu propagieren, genüge jedoch keinesfalls. Es sei vielmehr notwendig, eine Strategie zu entwickeln, die hier und jetzt eine Perspektive eröffnet. Man befinde sich in einer Abwehrschlacht, in der es darum gehe, die ökonomischen Verluste rückgängig zu machen und die Reproduktionsfähigkeit der Arbeiterklasse wiederherzustellen, indem die Lohnanteile am Volkseinkommen wieder erhöht werden. Der politische Kampf bestehe darin, die Offensive des Monopolkapitals zumindest an einigen Stellen zurückzuschlagen.

Der Mindestlohn müsse eingeführt, Hartz IV und Leiharbeit beseitigt werden, um nur einige markante Stichpunkte zu nennen. Diese essentiellen politisch-ökonomischen Forderungen zum Erhalt der Arbeiterklasse schienen ihm die richtige kurzfristige Strategie zu sein, so der Referent. Da müsse man den Schwerpunkt der Arbeit setzen und die Leute erreichen, die nichts weiter wollen, als zu überleben. Man müsse eine Mehrheit der Bevölkerung mitnehmen und sei dazu auch in der Lage. Das sei die Schlußfolgerung, die er aus den Diskussionen des Symposiums ziehe.

Wenngleich sich Lucas Zeise also durchaus zum Sozialismus als Systemalternative bekennt, taucht die notwendige Überwindung des Kapitalismus in seiner Zusammenfassung nicht auf. Aus der aggressiven neoliberalen Offensive und den Niederlagen der Arbeiterklasse leitet er vielmehr das Gebot eines Abwehrkampfs ab, um zumindest einige gravierende Übel zurückzudrängen. Was Zeise als Schwerpunkt der politischen Arbeit postuliert, läuft offensichtlich auf einen Reformismus hinaus, der nicht den entschiedenen Streit gegen die herrschende Gesellschaftsordnung auf die Tagesordnung setzt, sondern die Restauration vergangener, als weniger schlimm apostrophierter Verhältnisse für geboten und möglich hält. Mit dieser systemimmanenten Perspektive, die wohl bis zum sogenannten linken Flügel der Sozialdemokratie anschlußfähig sein dürfte, korrespondiert Zeises verschwommen anmutende Analyse des Finanzsektors, die in der Konsequenz dessen Regulierung auf ein historisch früheres Niveau als Lösungsweg propagiert.

Referent am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Restauration im Hier und Jetzt
Foto: © 2012 by Schattenblick


Wie der Neoliberalismus die Krise verzögert hat

Wie Lucas Zeise in seinem Vortrag ausführte, bestätige sich die marxistische Theorie in der aktuellen Wirtschaftskrise, weil man es einerseits mit einer normalen Akkumulationskrise zu tun habe, wie sie auch manche bürgerlichen Ökonomen gut beschreiben könnten. Der Widerspruch zwischen privater Aneignung des Profits und Vergesellschaftung der Arbeit führe dazu, daß Kapital überakkumuliert, während zugleich die Löhne stagnieren oder sogar sinken, so daß die Kaufkraft der Massen schwindet. Derartige Krisen traten beispielsweise in Deutschland ungefähr alle zehn Jahre auf und führten zur Vernichtung von Kapital, worauf sich der wellenförmige Verlauf in einem wieder einsetzenden Aufschwung fortsetze. Andererseits sei die aktuelle Krise in verschiedener Hinsicht größer dimensioniert: Sie sei im Zentrum des Imperialismus entstanden, habe sich weltweit ausgebreitet und könne daher nicht ausgeglichen werden. Auch sei sie hierzulande mit einem Rückgang des Wachstums um 5 Prozent so tief wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gewesen.

Die aktuelle Krise wurde vom Finanzsektor ausgelöst, als dort eine Boomphase im Jahr 2007 durch den Zusammenbruch wichtiger Kreditketten und -türme jäh beendet wurde, wodurch das effektive Fehlen der Nachfrage auf der Verbraucherebene zum Vorschein kommen konnte, so der Referent. Diese Krise löse die Phase des Neoliberalismus ab, der sowohl eine Ideologie als auch eine Wirtschaftspolitik sei, die Anfang der achtziger Jahre zur Bewältigung einer vorangegangen Krise Gestalt annahm. Führende Repräsentanten waren bekanntlich Margaret Thatcher, die 1979 Premierministerin in Großbritannien, und Ronald Reagan, der 1981 US-Präsident wurde. Ihre Politik setzte darauf, die jeweils nationale Profitrate auf dem direktestmöglichen Weg zu erhöhen, also zuallererst die Löhne zu senken und die Gewerkschaften zu zerschlagen, um den Arbeitern das wichtigste ökonomische Mittel des Klassenkampfs zu nehmen. Zudem wurden weitere Kosten des Kapitals, also im wesentlichen Steuern und Abgaben an den Staat, reduziert. Die Privatisierungswelle nahm von dort ihren Ausgang und wurde für die Dauer von 30 Jahren die dominante Wirtschaftspolitik. Sie war gemessen an ihren Zielen durchaus erfolgreich, stieg doch in allen kapitalistischen Staaten der Profitanteil am Volkseinkommen massiv an, während der Lohnanteil am Volkseinkommen sank.

Theoretisch müßte im Neoliberalismus die Krise schneller zum Tragen kommen. Je stärker die Profite im Verhältnis zum zurückbleibenden Masseneinkommen steigen, um so schneller müßte die Überakkumulation wirksam werden. Schon in den achtziger Jahren hätten nicht nur marxistische Ökonomen gewarnt, daß dies nicht lange gutgehen könne, so der Referent. Nachdem es 1987 zu einem Crash an der Wall Street gekommen war, öffnete Alan Greenspan, der gerade Notenbankchef der USA geworden war, im Oktober desselben Jahres das Kreditfenster weit.

Zeise führte drei wesentliche Gründe an, die die Verzögerung der Krise bewirkten. Zum ersten fand in Gestalt der Mikroelektronik eine weltweite technische Revolution statt. Sie führte zu einer enormen Steigerung der Produktivität der Arbeit, der dem Prozeß der Akkumulation einen neuen Schub verlieh und insbesondere das Kapital dazu zwang, den gesamten produktiven Kapitalstock wie Maschinen, Gebäude, etc. neu umzusetzen. Dies eröffnete eine Akkumulationsmöglichkeit, die hohe Profite gewährleistete.

Zum zweiten konnte der Kapitalismus in den letzten 30 Jahren sein Einzugsgebiet beträchtlich erweitern, da Osteuropa und Rußland der Mehrwertproduktion anheimfielen. Millionen von Menschen wurden in sie einbezogen, so daß das Monopolkapital neue Anlagemöglichkeiten fand, die den kapitalistischen Zyklus in Schwung brachten. Wichtiger noch war China, das sich dem Kapitalismus öffnete. Dorthin fließen seither enorme Investitionen, die gleichsam ein Lebenselixier kapitalistischer Verwertung darstellen. Schon Rosa Luxemburg habe in ihrer Imperialismustheorie ausgeführt, daß der Imperialismus solange überleben werde, wie er sich nichtkapitalistische Gebiete unterwerfen könne.

Zum dritten blähte sich der Finanzsektor in einer zuvor nie gekannten Größenordnung auf und wuchs Jahr für Jahr stärker als die Realwirtschaft. An dieser Stelle ging der Referent eher beiläufig als präzise darauf ein, daß sich das Kapital in Geldform vom Kapital in seiner eigentlichen Form von variablem und konstantem Kapital unterscheide. Das Finanzkapital sei demgegenüber nichts weiter als der Anspruch auf einen Wert. Einfacher ausgedrückt gehe es dabei um die Banken, Versicherungen, Börsen und Fonds. Dies verzögerte den Eintritt der Krise, weil es - wenngleich nur vorübergehend - eine Investitionsmöglichkeit für die akkumulierenden Profite bot. Es handle sich lediglich um einen scheinbaren Profit und funktioniere nur solange, wie dieses Rad gedreht werden könne. Diese Phase endete 2007 mit dem großen Krach, der dann in eine Wirtschaftskrise mündete, die die künstliche Förderung der Nachfrage zusammenbrechen ließ.

2008 sei es schließlich zu einer massiven Intervention der Staaten gekommen, die mit Konjunkturprogrammen und Bankenrettungen einsprangen und damit die Vernichtung von Kapital verhinderten. Auch der Finanzsektor wurde nur zum Teil entwertet, was nicht annähernd ausreichte, um die Akkumulation wieder in Gang zu bringen. Der Finanzsektor beanspruchte weiterhin Tributzahlungen, denn je größere Kredite der Kapitalist aufnimmt, um so mehr muß er an den Bankensektor entrichten. Das ist im weltweiten Maßstab geschehen und wurde durch den Eintritt der Krise nicht wirklich rückgängig gemacht. Dies sollte erklären, warum kein Ausweg aus der Krise in Sicht ist, schloß Lucas Zeise seinen Vortrag.

Vortragende am Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Beate Landefeld, Lucas Zeise, Olav Reuter, Andreas Wehr Foto: © 2012 by Schattenblick


"Zurück in die sechziger Jahre"

In Beantwortung einiger Fragen aus dem Vorbereitungskreis ging Zeise zunächst noch einmal näher auf den Neoliberalismus ein. Dieser repräsentiere eine bestimmte Politik, die dem Kapital zu Hilfe kommt, damit dieses den Monopolprofit realisieren und die Krise überwinden kann. In den siebziger Jahren habe die Notwendigkeit bestanden, einen Ausweg aus der schwierigen Lage des Weltkapitalismus zu finden. Dieser kurzfristige Ausweg sei geschichtlich notwendig gewesen und habe die klassenkompromißlerische Regulationsweise beendet, wie sie für die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg typisch war. Gibt es einen Weg zurück zu dieser Regulationsweise, die für große Teile der Arbeiterklasse viel besser war?, fragte der Referent. Es existiere keine ökonomische Gesetzmäßigkeit, die eine ganz bestimmte staatsmonopolistische Regulierungsweise erzwinge. Diese sei vielmehr ein Ergebnis historischer politischer Entwicklungen, die auf die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten reagieren. Es handle sich um keine Phase beschleunigter Akkumulation des Industriekapitals, dessen Absatzmöglichkeiten im Gegenteil schwinden, wohl aber des Gesamtkapitals, wobei diese Akkumulation im wesentlichen im Finanzmarkt stattfinde. Die Konsequenz, daß das nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, könne er jedoch nicht teilen, unterstrich Zeise.

In der daran anschließenden Podiumsdiskussion unter Einbeziehung des Publikums entwarf er das Idealbild eines funktionsfähigen monopolkapitalistischen Systems, in dem der Staat eingreife, um Entwicklungen zu begrenzen, die zwangsläufig in die Krise münden. Die Politik spreche dann von einer Regulierung des Finanzsektors. Obgleich diese eine objektive Notwendigkeit sei, wurde sie unterlassen. Dabei müßte es eigentlich im Interesse des Monopolkapitals liegen, den Finanzsektor nicht in diesen Wahnsinn hineinzutreiben, so der Referent. Das sei jedoch nicht geschehen, weil die beiden miteinander verschmolzen sind.

Die Behauptung, die Politik stehe unter der Knute des Finanzkapitals, sei reine Propaganda. Vorschläge seitens des Industriekapitals, sich vom Finanzsektor zu befreien, werde man gewiß nicht zu hören bekommen. Der Vorwurf einer Herrschaft des Finanzkapitals richte sich insbesondere gegen das US-amerikanische Kapital, das aus Sicht des deutschen einer Fremdbestimmung gleichkomme. Schon die antisemitische Parole von der Zinsknechtschaft in der Zeit des Nationalsozialismus habe den Herrschaftsanspruch des einheimischen Kapitals verschleiert.

Die Globalisierung habe dazu geführte, daß die Vergesellschaftung der Arbeit weltweit gespannt wurde. Die Wertschöpfung findet also auch international statt und ist zu einem erheblichen Teil auf die Schwellenländer übergegangen. Zu einem viel größeren Teil befinden sich die Profitzentren jedoch nach wie vor in den traditionellen monopolkapitalistischen Metropolen. Die Profitströme fließen daher von China in die USA.

Ob es einen Weg zurück in den Klassenkompromiß gibt, hält Lucas Zeise für eine offene Frage, die durch die Politik der Linken beantwortet werden müsse. Man sollte seines Erachtens nicht ausschließen, daß man bestimmte Zustände, wie sie in den sechziger Jahren herrschten, als fortschrittliche Elemente fordern und durchsetzen könnte. Ein Finanzsystem wie in den sechziger Jahren wäre ein großer Fortschritt gegenüber den aktuellen Verhältnissen. Ein kleiner Finanzsektor, der Profit nicht massenhaft abschöpfe, sei natürlich vorzuziehen. "Zurück in die sechziger Jahre" könne man daher in mancherlei Hinsicht tatsächlich als Parole ausgeben.

Mit seinem Vorschlag, die Rückkehr zum Klassenkompromiß nicht auszuschließen, verabschiedet sich Lucas Zeise von einer dezidiert antikapitalistischen Position und sucht im Rahmen des Verwertungsregimes zu retten, was er für rettbar hält. Daß diese Perspektive zwangsläufig am engen Horizont vermeintlicher Webfehler in der Textur politischen Handelns endet und ihre Hoffnungen aus einer verklärenden Rückschau bezieht, verwundert nicht.

7. Dezember 2012