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BERICHT/151: Frieden, der Ratschluß des Stärkeren (SB)


"Frieden mit friedlichen Mitteln - Aus der Praxis eines Friedensforschers"

Symposium mit Johan Galtung am 31. Mai 2013 im Legienhof Kiel



Für eine von Krieg überzogene Bevölkerung ist das Ende der Kampfhandlungen zweifellos von vordringlichstem Interesse, da nur auf diese Weise der unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben wie auch dem Zerstörungswerk Einhalt geboten werden kann. So sehr sich daher die Überzeugung aufdrängen mag, bei Krieg und Frieden handle es sich um eine Dichotomie von extremem Leid und wünschenswerter Sicherheit, greift diese Auffassung doch zu kurz. Befleißigt man sich der Positionierung, die dominanten Verhältnisse gesellschaftlicher Existenz zu entschlüsseln und streitbar gegen jede Form von Herrschaft zu Felde zu ziehen, eröffnet sich eine grundsätzlichere und weitreichendere Auseinandersetzung. Dann stellt sich Frieden als eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln dar, da die Eliten ihr Regime der Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung mit einem umfassenden Arsenal ziviler und militärischer Zwangsinstrumente in seinem Bestand zu sichern und in die Zukunft fortzuschreiben trachten.

So war der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet, als sich die Siegermächte bereits für die künftige Konfrontation der Gesellschaftssysteme in Stellung brachten. Das künftige Schicksal Deutschlands und damit die Friedensordnung in Mitteleuropa war untrennbar mit der Perspektive verbunden, die denkbar günstigsten Voraussetzungen für die kommende politische, ökonomische und womöglich auch militärische Konfrontation der kapitalistisch geprägten westlichen Mächte mit der kommunistischen Sowjetunion zu schaffen. Obgleich der Frieden zwischen Frankreich und Deutschland gemessen an ihrer Geschichte blutiger Kriege eine bedeutende Errungenschaft darstellte, legte die daraus hervorgegangene Europäische Union doch den Grundstein zu einer innovativen Machtpolitik. Die lange Periode des Friedens in Europa konsolidierte die Klassenverhältnisse im Innern, brachte eine von den Führungsmächten dominierte EU mit den bekannten Elendsfolgen für die schwächeren Mitglieder hervor und steigerte nicht zuletzt die konzertierte Aggression nach außen.

Als NATO-Mitglieder beteiligen sich die führenden Nationalstaaten Europas an einer Kette von Angriffskriegen, mit denen das transatlantische Militärbündnis Zug um Zug Positionsvorteile hinsichtlich künftiger Waffengänge zu sichern versucht. Wie etwa das Beispiel des Irak zeigt, verschmelzen dabei zivile und militärische Varianten hegemonialen Übergriffs zu einem nahezu unausgesetzten Zerstörungswerk. Schon die Sanktionen gegen den Irak kosteten Hunderttausende Menschen das Leben, wie auch das Ende des Angriffskriegs weder das Töten beendete, noch die verheerenden Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsteile besserte. Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien - dasselbe Grundmuster ist in all diesen Waffengängen zu erkennen, die in den Herkunftsländern der Angreifer und Besatzer zur Friedensdoktrin umgedeutet werden.

Denkt man zurück an die katastrophale Niederlage der Arbeiterschaft vor dem Ersten Weltkrieg, die im Werktätigen des Nachbarlandes nicht ihren Verbündeten, sondern auf Geheiß ihrer Herren den schlimmsten Feind sah, so hat sich an diesem verhängnisvollen Trugschluß bis heute nichts geändert. Wenn sich die Bundesbürger dem Regime von Arbeitshetze, Niedriglohn und Hartz IV fügen, zugleich die Drangsalierung anderer EU-Länder billigen wie auch die Kriegsführung der Bundeswehr und den Rüstungsexport gutheißen, bricht sich ein und dasselbe Vorteilsstreben Bahn, das sich nur am größeren Leiden anderer bemessen kann. So wird der deutsche Lebensstandard an den Werkbänken, im Schlangestehen bei der Arbeitsagentur und am Hindukusch verteidigt. Wer seine Stimme gegen den Krieg erhebt, ist daher gut beraten, seinem Konterpart, dem Frieden, stets zu mißtrauen, wenn die bloße Vokabel zum selbstevidenten, von der Materialität sozialer Widersprüche allein durch das Ausbleiben offener Gewalt abstrahierenden Ideal verklärt wird.

Auftakt der Veranstaltung - Foto: © 2013 by Schattenblick

Johan Galtung mit Mechthild Klingenburg-Vogel
Foto: © 2013 by Schattenblick


Aus dem Erfahrungsschatz des Friedensstifters

Am 31. Mai war der weltweit bekannte Friedensforscher Prof. Dr. Johan Galtung im Kieler Gewerkschaftshaus, dem Legienhof, zu Gast. Anlaß war ein Vortrag zum Thema "Frieden mit friedlichen Mitteln", der in eine Diskussion mit den gut 100 Zuhörerinnen und Zuhörern mündete. Zu diesem Symposium eingeladen hatte ihn die Kieler Gruppe der IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung) gemeinsam mit dem Verein zur Förderung der Friedenswissenschaften, der Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein, der Heinrich Böll Stiftung Schleswig-Holstein und dem Verein Mahnmal Kilian.

Dirk Scheelje vom Vorstand der Heinrich Böll Stiftung wies in einem Grußwort darauf hin, daß mit Johan Galtung eine der wichtigen Persönlichkeiten der weltweiten Friedensbewegung und Friedens- und Konfliktforschung eingeladen worden sei. Angesichts der aktuellen Ereignisse in Syrien wie auch im gesamten Nahen Osten sei es um so wichtiger, jetzt über Friedenspolitik zu sprechen. Galtung sei im vergangenen Jahr in Kiel in ein schiefes Licht gerückt worden, und das wolle man nun korrigieren.

Für die IPPNW ging Dr. Mechthild Klingenburg-Vogel in ihrer Begrüßung und Einführung zunächst auf die außergewöhnliche Lebensgeschichte des 1930 in Oslo geborenen Galtung ein, der als Begründer der Friedens- und Konfliktforschung gilt. Als Zwölfjähriger führte er Kurierdienste für den Widerstand gegen die deutschen Besatzer aus, und als sein Vater festgenommen und für vierzehn Monate ins KZ gesperrt wurde, entstand in ihm der tiefe Wunsch, daß so etwas nie wieder geschehen dürfe. Den Grundstein für seine Friedensforschung legte er 1951 als 21jähriger, als er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigerte und dafür eine halbjährige Gefängnisstrafe auf sich nahm. Nach Abschluß seines Studiums der Mathematik und Soziologie kehrte er einer aussichtsreichen wissenschaftlichen Karriere in diesen Fächern den Rücken und gründete 1959 das erste Friedensforschungsinstitut in Oslo (PRIO).

Er prägte Begriffe wie positiver und negativer Friede oder strukturelle Gewalt. Entwicklung nicht nur im ökonomischen Sinn ist nach Galtung das entscheidende Mittel, um strukturelle Gewalt in all ihren Aspekten zu beseitigen. Er ist aber auch Praktiker und so reiste er 1968 nach Prag, als die Truppen des Warschauer Pakts einmarschiert waren, um dort gewaltfreien Widerstand und zivile Verteidigung zu lehren. 1970 gründete er die internationale TRANSCEND Peace University, deren Rektor er ist. Zudem fungiert er als Berater und Mitglied in zahlreichen internationalen Gremien unter anderem der UNO. Er hat weltweit in zahllosen Konflikten als Mediator vermittelt und wurde vielfach ausgezeichnet, so auch mit dem Right Livelyhood Award (Alternativer Nobelpreis) und dem Gandhi-Preis. In über 150 Büchern und mehr als 1500 Veröffentlichungen hat er sich mit vielfältigen Aspekten von Konflikten und deren Lösungsmöglichkeiten befaßt.

Johan Galtung erklärt ein Diagramm - Foto: © 2013 by Schattenblick

Friedensformel
Foto: © 2013 by Schattenblick

Johan Galtung ging in seinem Vortrag zunächst auf den von ihm entwickelten Ansatz ein, als Vermittler mit Konflikten umzugehen. Er stellte seine Formel für Frieden vor, in deren Zähler Zusammenarbeit und Harmonie stehen. Die Zusammenarbeit müsse in etwa gleichwertig sein, Harmonie erwachse aus der Fähigkeit, die Leiden des Gegenübers mitzuempfinden und an dessen Freuden teilzuhaben. Auch im Nenner stehen zwei Faktoren, nämlich Trauma und Konflikt. Als Vermittler habe man die Aufgabe, durchaus vergleichbar mit der Vorgehensweise in der Medizin von der Diagnose über die Prognose zur Therapie voranzuschreiten.

Als zentrales Element seines Ansatzes wies Galtung wiederholt das Erfordernis aus, Lösungsvorschläge zu entwickeln und an den Anfang der Bewältigung zu stellen. Konflikte resultierten aus blockierten Zielsetzungen, und aus dieser Blockade resultiere Frustration, die zu Aggression führe. Erst wenn die Konfliktparteien eine Lösung erkennen könnten, schwänden die negativen Emotionen, die zuvor jede Annäherung ausgeschlossen hätten. Habe man eine Lösung gefunden, sei Versöhnung möglich. Wie aber gelangt man zu Lösungen? Seine "Redemethode" erklärte Galtung anhand eines Schaubilds mit vier Feldern. Das erste Feld ist der Frage gewidmet, wie man sich eine positive Zukunft vorstellt. Im zweiten Feld geht es um den Streit der Vergangenheit, der sich durch ein Schwarzweißdenken auszeichnet. Feld drei thematisiert die Suche nach Positivem in der Vergangenheit. Und schließlich kommt im vierten Feld zur Sprache, wovor man Angst hat. Diese Felder mit den einzelnen Konfliktparteien etliche Male zu durchlaufen und zu bearbeiten, fördere für jeden Menschen etwas Neues zu Tage, so der Referent.

Johan Galtung präsentiert vierstufiges Schema - Foto: © 2013 by Schattenblick

Konfliktlösung als Prozeß der Bewußtwerdung
Foto: © 2013 by Schattenblick

Zu berücksichtigen sei dabei nicht zuletzt, daß sich so gut wie kein Konflikt auf zwei Parteien beschränke. In den allermeisten Fällen habe man es mit zahlreichen internen und externen Parteien zu tun, mit denen ein Vermittler ausführlich sprechen müsse, um tragfähige Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Um diesen anstrengenden und emotionalen Prozeß zu bewältigen, brauche man Empathie, Gewaltlosigkeit und Kreativität. Wolle man Menschen befähigen, mit Konflikten umzugehen, fange man am besten schon im Kindergarten an, wie das in Norwegen geschehen sei. Man gebe dabei Erzieherinnen und Erziehern drei einfache Thesen an die Hand: Niemals schimpfen, bei Konflikten ganz ruhig nach dem Problem fragen, eine Lösung finden. Stritten die Kinder beispielsweise um ein Spielzeug, seien verschiedene Lösungen wie gemeinsames Eigentum, Teilen oder Rotation denkbar und praktizierbar. Das müsse man lernen, je früher, um so besser.

Wie Galtung mehrfach hervorhob, könne im Prinzip jeder die Entwicklung einer brillanten Analyse an der Universität lehren und lernen. Lösungen seien hingegen viel schwieriger zu erlangen und demgegenüber dünn gesät. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, ob nicht jeder Analyse die eigene Interessenlage vorangestellt ist, die das Ergebnis der Untersuchung maßgeblich beeinflußt, und mithin denselben Parametern geschuldet ist, was als wünschenswerte Lösung erachtet wird.

So führte der Referent als Beispiel erfolgreicher Mediation das Ende des 54 Jahre währenden Krieges zwischen Ecuador und Peru als längstem in der Geschichte Lateinamerikas (1941-1995) an. Umstritten waren 500 Quadratkilometer in den Anden, die beide Länder für sich beanspruchten. Sein Lösungsvorschlag war ein gemeinsamer Nationalpark, der drei Jahre später von den beiden Regierungen umgesetzt wurde. Wie der Referent selbst einräumte, habe der Umstand, daß es sich um ein unbewohnten Gebiet ohne nennenswerte Ressourcen handelt, die Akzeptanz des Vorschlags begünstigt. Daher liegt der Einwand nahe, daß in diesem Streitfall weder essentielle ökonomische Interessen noch strategische Vorteile zur Disposition standen. Ob dieses Beispiel daher gleichsam als Muster auf andere Konflikte, die von tiefgreifenden hegemonialen Übergriffen und Kämpfen um weltweit mangelnde Rohstoffe befeuert werden, übertragen werden kann, bedarf einer kritischen Diskussion.

Galtung hob als ein weiteres Beispiel für gelungene Lösungen die Europäische Union in ihren Anfängen hervor. Die beiden Franzosen Jean Monnet und Robert Schuman seien zu der Überzeugung gelangt, daß es angesichts der von Deutschland begangenen Grausamkeiten nur die Möglichkeit gebe, das Land zu einem Mitglied der Familie zu machen, wofür es allerdings die Kosten übernehmen müsse. Ausgehend von dieser Lösung zwischen Frankreich und Deutschland habe man eine Sechsstaatenlösung gefunden, in der sich alle Parteien zu Hause fühlen konnten. Wesentlich sei dafür eine Ausgewogenheit, indem beispielsweise jedes Mitglied ungeachtet seiner Größe und Bevölkerungszahl eine Stimme hat. Galtung hält die EU für ein sehr erfolgreiches Friedensmodell, was freilich nur intern gelte. Nach außen hin wendeten sich die Europäer gegen andere wie aktuell im Falle Syriens.

Wie eingangs bereits angerissen, regt sich angesichts einer solchen Trennung der inneren und äußeren Triebkräfte europäischer Einigung zwangsläufig Widerspruch. So blendet die nur im deutsch-französischen Kontext erörterte Friedenslösung den maßgeblichen Einfluß der USA aus, die nicht dem Morgenthau-Plan einer vollständigen Deindustrialisierung Deutschlands, sondern im Gegenteil dem Marshallplan den Zuschlag gaben, der die Bundesrepublik im Verbund Westeuropas zu einem ökonomisch-ideologischen Bollwerk gegen den Kommunismus erstarken ließ.

Für den Nahen Osten schlägt Galtung eine Friedenslösung nach dem Modell der Europäischen Gemeinschaft vor. Auf eine Anerkennung Palästinas, wofür Israel allerdings seine Ostgrenze festlegen müsse, könnte eine Sechsstaatenlösung mit Israel und fünf Nachbarländern folgen, worauf eine Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Westasien mit 20 Mitgliedern den Prozeß abschließen würde. Wenn Israel immer wieder sichere Grenzen fordere, seien diese nur durch Frieden mit den Nachbarn möglich.

Wolle man Genozid verhindern, lasse sich als positives Beispiel die chinesische Minderheit in Malaysia anführen. Ausgangssituation sei stets eine ökonomisch und kulturell bessergestellte Minderheit, die von einer Mehrheit verfolgt wird, die über politische und militärische Machtmittel verfügt. Armenier in der Türkei, Juden in Deutschland, Tutsis in Ruanda, Chinesen in Südostasien - stets habe man es mit einer sogenannten Rangdiskordanz als einer wesentlichen Voraussetzung für Völkermord zu tun. Nachdem es in Malaysia zu Ausschreitungen gegen Chinesen gekommen war, griff die Regierung zu der Strategie, die kulturelle und ökonomische Lage der Majorität von Grund auf zu verbessern. Dies war auf Dauer erfolgreich, während es im Nachbarland Indonesien zu einem Genozid an Chinesen kam.

Als ein anderes Beispiel für den Umgang mit Konflikten nannte Galtung China, dessen Welt sich in mehreren Sphären darstellen lasse. China mit seinen bekannten Grenzen werde von dem von Konfuzius definierten chinesischen Raum zwischen Gobi, Himalaja, Tundra und Chinesischer See mit Hongkong, Macao, Taiwan, Tibet, der Inneren Mongolei, Korea und Vietnam umschlossen. Beijing habe große Probleme, seine Ansprüche auf dieses nahe Umfeld im Sinne einer Konfliktbewältigung geltend zu machen, wovon es jedoch mit Hongkong und Macao eine bemerkenswerte Ausnahme gebe. Diese beiden Zentren waren tausend Jahre lang die Brückenköpfe für diejenigen, die den Handel zwischen Ostchina und Ostafrika störten, der zwischen 500 und 1500 n. Chr. mit der Globalisierung der Welt gleichzusetzen war und Somalia zum reichsten Land in Ostafrika machte. Diese Handelsströme zwischen Somalia und Ostchina wurden ab 1500 von Portugiesen und Engländern mit grausamen Kriegen von den Brückenköpfen Hongkong und Macao aus zerschlagen.

Das müsse man wissen, um die heutige chinesische Außenpolitik zu verstehen. Die Lösung sei der neue Name Hongkongs, nämlich "Hongkong, China". Für Beijing heiße das, Hongkong ist ein Teil Chinas. Für viele Bewohner Hongkongs sei es ganz einfach eine Postanschrift. Es handle sich also um eine Zweideutigkeit, die für beide Parteien annehmbar sei. Grundsätzlich gelte für die Chinesen, daß ihr erklärtes Ziel nicht ökonomisches Wachstum sei. Sie glaubten auch nicht an Demokratie in einem derart großen Land, sondern suchten Entwicklung über Bildung zu bewerkstelligen, wofür 70 Millionen Universitätsabsolventen sprächen. Chinas maßgebliche Zielsetzung sei Harmonie, nämlich ein Ausgleich bestehender Widersprüche.

An dieser Stelle wären weiterführende Fragen zu diskutieren, die sich mit der Verwandlung Chinas in eine kapitalistische Führungsmacht mit Staatslenkung auseinandersetzen. Krasseste Unterschiede zwischen Arm und Reich wecken Zweifel, wohin dieses Harmoniestreben letztendlich führt: Hat man es im Unterschied zum weltweiten Imperialismus westlicher Provenienz mit einem akzeptablen Zukunftsentwurf zu tun oder droht die nachholende Entwicklung in dieselbe Schiene, jedoch mit einer effizienteren Befriedung aufbrechender Widersprüche zu münden?

Wie Galtung zudem hervorhob, komme es entscheidend darauf an, auch mit Konfliktparteien wie den Taliban zu sprechen, was von den Amerikanern ausgeschlossen werde. Die Taliban hätten ihm drei Dinge gesagt: Erstens seien sie zu 98 Prozent Muslime und akzeptierten keine Säkularisierung. Daher sei eine Entwicklung im westlichen Sinn für sie unannehmbar. Zweitens haßten sie Kabul, da dort stets die Westler landeten. Afghanistan setze sich aus acht Nationen und 25.000 kleinen Dörfern zusammen, weshalb es kein westlicher Einheitsstaat sei. Drittens erklärten Besatzungsmächte wie die Deutschen, ihre Sicherheit werde am Hindukusch entschieden. Nach Erfahrung der Taliban sei die Unsicherheit Afghanistans jedoch in Berlin entstanden.

Vor Vertretern des US-Kongresses trug Galtung diese Aussagen der Taliban vor und regte an, über folgende Punkte zu verhandeln: Einen Bundesstaat Afghanistan, einen Staatenbund mit den Nachbarländern, Friedenssicherung mit anderen muslimischen Ländern, gleiche Werte zwischen Mann und Frau am Beispiel muslimischer Gesellschaften. Darauf hätten die Kongreßvertreter erklärt, sie fänden diese Vorschläge durchaus interessant, doch seien ihre Wähler nicht dafür zu erwärmen, da für sie nur ein Sieg zähle.

Die Westler hätten überall auf der Welt Traumata gesät, so der Referent. Insbesondere die USA könnten nur zwei mögliche Systeme erkennen, nämlich Hierarchie oder Anarchie. An der Spitze könne nur eine Nation stehen, die USA oder die Sowjetunion bzw. heute China. Hingegen tauche Egalität in diesem Konzept nicht auf, sie existiere nicht als intellektuelle Kategorie. Daher fehle den USA die Fähigkeit, Konfliktlösungen zu finden. So sagte Galtung dem amerikanischen Imperium einen Untergang binnen weniger Jahre voraus, zumal seine Bedeutung in Lateinamerika bereits gegen Null gehe. Dabei seien die Amerikaner durchaus in der Lage, Probleme im eigenen Land zu lösen, doch versagten sie in der Welt. Wenn du einen großen Bruder hast, der Alkoholiker und gewalttätig ist, bist du kein guter Freund, wenn du mittrinkst. Ein guter Freund sucht einen anderen Weg, den Dialog, beschrieb Galtung seinen Rat zum Umgang mit den USA und den Amerikanern.

In der anschließenden Fragerunde ging Galtung unter anderem darauf ein, daß er sich ein demokratisches Ostdeutschland mit einem eigenständigen Weg gewünscht hätte. Durchgesetzt wurde jedoch Art. 23 im Grundgesetz der BRD. Seines Erachtens hätte man die DDR nicht abstrafen dürfen, sondern ihre positiven Seiten belohnen müssen. Die Sowjetunion habe im übrigen niemals vorgehabt, Westeuropa anzugreifen. Sie habe vielmehr auf Revolutionen in den westlichen Ländern gehofft, die sie am Ende unterstützen könnte.

Auf den Einwand, er habe die EU als Friedensbündnis ausgewiesen, obgleich sie wie im Falle Syriens ein aggressive Außenpolitik verfolge, erklärte Galtung, die europäische Außenpolitik sei so schlecht wie die amerikanische. Jedes neue Mitgliedsland werde auf Betreiben der USA zuerst zum NATO-Mitglied gemacht, so daß das trojanische Pferd bereits implantiert sei. Man habe es daher außenpolitisch weniger mit der EU, als vielmehr mit der NATO zu tun. Diese fürchte die Shanghai Cooperation Organization (SCO), das größte Militärbündnis der Geschichte mit Rußland, China, sechs zentralasiatischen Staaten und vielen Beobachtern, darunter Indien, Pakistan, Iran. Die westliche Außenpolitik folge dem Schema DMA: Dualismus (die Welt ist zweigeteilt), Manichäismus (wir sind die Guten, die anderen die Bösen), Armageddon (Endschlacht, es kann nur mit Gewalt entschieden werden). Diese Politik habe die letzten 500 Jahre dominiert, doch heute sage die Welt, daß damit Schluß ist.

Zur Frage des Kampfs gegen Antisemitismus erklärte Galtung, wenn man wie Goldman Sachs die herrschenden Vorurteile bestätige, leiste man sich selbst den denkbar schlimmsten Bärendienst. Er schlage Goldman Sachs vor, vor allen andern von riskanten Finanzmodellen Abstand zu nehmen und eine gesetzliche Regulierung zu befürworten. De facto sei jedoch das Gegenteil der Fall. Annette Wiese-Krukowska, die in Vertretung der Landeszentrale für politische Bildung an der Veranstaltung teilnahm, kommentierte diese Aussage folgendermaßen: Gerade weil es diese stereotypen antisemitischen Vorurteile gebe, gestehe sie Goldman Sachs eher noch mehr zu, sich wie jede andere Großbank zu verhalten. Sie kritisiere die Banken generell für dieses Verhalten und erwarte von Goldman Sachs nichts anderes als vom Rest der Branche.

Publikum beim Vortrag von Johan Galtung - Foto: © 2013 by Schattenblick

Voller Saal im Gewerkschaftshaus Legienhof
Foto: © 2013 by Schattenblick


Im Joch kapitalistischer Vergesellschaftung

Der Einwand eines Zuhörers während der abschließenden Fragerunde, insgesamt sei die Kritik des Kapitalismus zu kurz gekommen, stieß im Publikum auf wenig Gegenliebe. Der Redner, der sich als Aktivist gegen Atomkraft und Umweltzerstörung vorstellte, erinnerte an die Bedeutung der kapitalistischen Akkumulationsdynamik als Ursache innerstaatlicher Konflikte als auch zwischenstaatlicher Kriege und machte die materielle Ungleichheit kapitalistischer Konkurrenz für die Entstehung undemokratischer Verhältnisse verantwortlich. So herrschten immer schlechtere Bedingungen vor, um überhaupt noch entscheiden zu können, welche Produkte sinnvoll zu produzieren wären, um weltweit soziale Gerechtigkeit zu schaffen und dem Planeten die Chance zu geben, trotz dieser widrigen Produktions- und Verteilungskonflikte zu überleben.

Nachdem der Redner noch einmal ausholte, um die Bundesrepublik zu bezichtigen, sie sei mit ihrer repressiven Sozialpolitik - Hartz IV, Agenda 2010 - federführend dafür verantwortlich, daß das deutsche Kapital sich einen Konkurrenzvorteil innerhalb der EU erwirtschaftet habe, der insbesondere im Mittelmeerraum zu erheblicher Verarmung führe, riß einigen Zuhörerinnen der Geduldsfaden. Er stelle doch keine Frage, und nur darum gehe es jetzt, wurde eingewandt, doch der Redner ließ sich dadurch nicht stoppen. Man habe geltend gemacht, daß das Problem des Kapitalismus zu lösen sei, indem man den Finanzkapitalismus von ihm abtrenne und reguliere. Ihm gehe es darum, diesen Punkt zur Diskussion zu stellen, denn seiner Ansicht nach sei die Finanzwirtschaft untrennbar mit dem kapitalistischen Verwertungssystem verbunden. "Wir werden keinen Frieden in der Welt haben, wenn wir den Kapitalismus nicht grundsätzlich angreifen und uns damit kritisch auseinandersetzen", so der abschließende Appell dieses nun mit einigem Unmut seitens des Publikums konfrontierten Diskutanten.

Die kleine Kontroverse, die in einem Gespräch zur grundlegenden Frage von Krieg und Frieden nicht selbstverständlicher hätte sein können, förderte eine nur geringe Bereitschaft des Publikums zu Tage, den Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg über die Position Johan Galtungs, laut dem er nur ein Faktor von vielen sei, hinaus zur Debatte zu stellen. Der Referent schlichtete mit seiner Erklärung, daß er kein Vertreter eines Ansatzes sei, der Konflikte nur auf eine Ursache zurückführe, zugunsten der Mehrheit der Anwesenden. Ihm gehe es um eine Definition von Konflikt, die die Unvereinbarkeit von Zielsetzungen betreffe, was sich mit der heutigen Wirklichkeit nicht vereinbaren lasse. Letztlich handle es sich um eine Machtfrage, der mit Lösungen zu Leibe gerückt werden müsse, die die Interessen aller Konfliktparteien zur Geltung kommen lassen, so der Referent anhand eines Beispiels aus seiner Praxis.

Galtungs Philosophie, daß es für alles eine Lösung gebe, setzt allerdings eine Begegnung der Konfliktparteien auf relativer Augenhöhe voraus, die im Falle krasser materieller Ungleichheit nicht gegeben ist. Daß eine naheliegende, von vielen Politikern wie Experten geforderte Lösung wie die regulative Einhegung des Finanzkapitals bislang kaum erfolgte, zeigt nicht nur eine Diskrepanz zwischen erklärtem politischen Willen und seiner Umsetzung auf. Die fortlaufende Alimentierung der Banken durch niedrig verzinstes Zentralbankgeld, die die Staatshaushalte in immer größere Schieflagen bringt, bei gleichzeitigen Einsparungen in den Sozialausgaben und der Stagnation der Lohnentwicklung lassen erkennen, daß die Krise des Kapitals nicht per Dekret zu beenden, sondern systemischer Art ist. Warum sonst kommt es zu keiner demokratisch bestimmten, die Bedürfnisse des Menschen und nicht den Verwertungsprimat des Kapitals in den Mittelpunkt stellende Produktionsweise? Zu unterstellen, hier sei vor allem menschliche Gier am Werk und man müsse dem Finanzkapital einfach nur Schranken setzen, geht über das Problem, daß die Arbeitskraft als Ware verkauft und einer abstrakten Wertbildung zugunsten Dritter unterworfen ist, mit leichter Hand hinweg.

Die Forderung, sich auch bei Fragen von Krieg und Frieden über die Grundlage kapitalistischer Vergesellschaftung Gedanken zu machen, liegt schon aufgrund des Abstands zwischen dem relativen Wohlstand der NATO-Staaten und der sozialen Not in den Ländern, in denen das Militärbündnis Krieg führt, auf der Hand. Da es dafür keine schnelle Lösung zu geben scheint, bietet sich an, die Frage aufrechterzuhalten und produktiv weiterzuentwickeln. Wie erfolgreich der Friedensvermittler mit seiner Botschaft, allein auf die Lösung komme es an, auch immer sein mag, die von ihm zum Allerweltsgut, das sich jeder mit Leichtigkeit verschaffen könne, erklärte Analyse sozialer und gesellschaftlicher Widersprüche läßt sich schon bei dem Problem einer Eigentumsordnung, die im Zweifelsfall über Leben und Tod entscheidet, nicht so leicht vollziehen, daß das Wissen darum auf der Straße läge. Das Vorhaben, das Problem massiver materieller Ungleichheit auf der bloßen Erscheinungsebene zu lösen, appelliert an eine Selbstlosigkeit, die auf breiter Ebene zu mobilisieren nicht einmal Religionen in der Lage sind.

Denkt man an die Brutalität, mit der einen Tag nach der Kieler Veranstaltung die Blockupy-Demonstranten in Frankfurt trotz eigens per Gericht erwirkter Genehmigung und des Fehlens jeglichen ernstzunehmenden Anlasses davon abgehalten wurden, zum Gebäude der Europäischen Zentralbank (EZB) zu ziehen, dann wurde die Machtfrage dort auf eine Weise beantwortet, die wenig Hoffnung auf Einsicht und Vernunft seitens Staat und Kapital läßt. Von einem Ratschluß auf Augenhöhe scheint man sich in der EU eher zu entfernen, klaffen die Unterschiede zwischen Arm und Reich doch immer weiter auf, anstatt sich zum Wohle aller zu schließen.

Es mutet mithin abenteuerlich an, wenn Galtung der global operierenden Großbank Goldman Sachs empfiehlt, den gegen sie gerichteten Vorwurf unangemessener Bereicherung dadurch zu entkräften, daß sie genau das Gegenteil dessen tun solle, was das Geschäftsmodell einer Bank im Kern ausmacht. Wäre die Praxis, aus Geld mehr Geld zu machen, möglichst ohne den Umweg über die Warenproduktion zu gehen, der seinerseits die Ausbeutung des Faktors Arbeit voraussetzt, mit einem Konfliktlösungskonzept psychologischer Genese aus der Welt zu schaffen, dann wäre es kaum zu den Krisen und Katastrophen gekommen, die mit der Globalisierung des Kapitalismus eine neue Qualität des synchronen Ineinandergreifens sozialer, ökologischer, militärischer und politischer Notstände im weltweiten Maßstab angenommen haben. Ob die Akteure nun Deutsche Bank, Citibank, Barclays, Rockefeller oder Goldmann Sachs heißen, macht für die von ihnen befeuerte Verwertungsdynamik keinen Unterschied. Entspricht man Vorurteilen rassistischer Art durch Defensivmanöver, dann läuft man Gefahr zu bekräftigen, was es zu bestreiten und bekämpfen gilt.

Gegen Krieg zu sein, ohne eine antikapitalistische Position zu beziehen, beschwört den Frieden einer Ordnung, in der es auch ohne die ultimative Katastrophe Herren und Sklaven, Ausbeutung und Unterdrückung gibt. Die Behauptung, das eine hänge mit dem andern untrennbar zusammen, muß nicht jeder teilen. Die geringe Mobilisierungsfähigkeit der deutschen Friedensbewegung in einer Welt, in der massenhafte soziale Proteste von den sich immer höher auftürmenden Problemen künden, die unbewältigt bleiben, weil die maßgeblichen Akteure nicht willens und in der Lage sind, das sozialdarwinistische Überlebensprinzip zugunsten des Lebens und Wohlbefindens aller aufzuheben, spricht aber auch dafür, daß sie ohne diesen Zusammenhang auf einen wesentlichen Teil ihrer gesellschaftlichen Relevanz verzichtet.


11. Juni 2013