Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/158: Quo vadis NATO? - recht und billig (SB)


Abwehr offensiv - Teil 1

Forum "Der neue Anti-Raketen-Schirm der NATO in Europa - sicherheitspolitische Kalküle und das Recht" auf dem Bremer Kongreß "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" am 28. April 2013

1. Teil zu den Wortbeiträgen von Bernd Hahnfeld und Paul Schäfer

Forumsdiskutanten am Tisch sitzend - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kristine Karch (übersetzt), Nikolay Korchunov, Bernd Hahnfeld, Prof. Dr. Götz Neuneck, Paul Schäfer, Jürgen Rose (v.l.n.r.)
Foto: © 2013 by Schattenblick

Es gibt wohl kaum eine Technologie, an der sich die vorherrschende Verachtung und Geringschätzung nicht nur des menschlichen, sondern jeglichen Lebens deutlicher zeigt als an nuklearen Waffen. Die USA und damit der Frontstaat des wenig später angeblich ausschließlich zu Verteidigungszwecken ins Leben gerufenen westlichen Militärbündnisses (NATO) haben mit den Atombombenabwürfen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 unter Beweis gestellt, daß ihnen der Echteinsatz derartig verheerender Waffensysteme - die Zahl der japanischen Todesopfer wird inklusive der an den Spätfolgen Verstorbenen auf 240.000 beziffert - zuzutrauen ist, sobald sie die militärische Notwendigkeit eines solchen Massentötens postulieren. Der damalige US-Präsident Harry Truman hielt den Abwurf der ersten Bombe auf Hiroshima für das größte Ereignis der Geschichte, der Bomberpilot Paul Tibbets erklärte, daß es nichts gäbe, dessen er sich schämen müßte. In einem archaisch anmutenden Verständnis zwischenmenschlicher Gewalt kann der Halunke mit der größten Keule eine unanfechtbare Position ganz einfach deshalb einnehmen, weil alle anderen glauben, sich der ihnen drohenden Gewaltanwendung unterordnen zu müssen.

Wie wenig die menschliche Zivilisationsgeschichte an diesem elementaren Grundverhältnis etwas zu ändern vermochte, ist eine Frage, die sich anläßlich der ersten Atombombenabwürfe und ihrer Hunderttausenden Toten stellen und bis in die Gegenwart hinein aktualisieren ließe. Unabhängig davon, ob dieser Einsatz, wie in den USA bis heute üblich, damit gerechtfertigt wird, daß Japan auf diese Weise zu einer baldigen Kapitulation gezwungen und der Zweite Weltkrieg damit auch im Pazifik beendet werden konnte, oder ob geargwöhnt wird, daß die USA im August 1945 angesichts eines ohnehin "drohenden" Kriegsendes die letzte Gelegenheit und Vorwandslage für einen Echteinsatz ihrer neuesten Waffe genutzt haben, hat sich Washington auf diesem Wege als erste Atommacht der Welt etabliert. Die schwer vom Krieg gezeichnete Sowjetunion, eigentlich bis dato ein US-Verbündeter, unternahm größte Anstrengungen, um dieser Androhung ultimativer Gewalt ein gleichwertiges Bedrohungsszenario entgegensetzen zu können, was ihr mit ihrem ersten Atombombentest, durchgeführt am 29. August 1949 über Kasachstan, schließlich auch gelang.

Damit hatten die Ambitionen der westlichen Welt, auf der Basis nicht zuletzt ihres nuklearwaffentechnischen Vorsprungs, eine uneinholbare Hegemonialstellung in der Welt einnehmen zu können, einen jähen Rückschlag erlitten. Die sogenannte Nachkriegsordnung nahm die für viele Jahrzehnte bestimmende und durch die auch mit tödlichen Waffen ausgetragene Systemkonkurrenz zwischen kapitalistischer Welt und ihrem kommunistischen Herausforderer gekennzeichnete Gestalt an. Aus Sicht der vielen kleinen und mittleren Staaten, nun geeint unter dem Dach der Vereinten Nationen, war die Frage, welche Relevanz den Atomwaffen und damit der Fähigkeit, möglichen Gegnern und Kontrahenten mit ihrem Einsatz zu drohen, zukomme, leicht zu beantworten, hatten sich doch die dem antagonistischen System angehörenden Atommächte mit dem Weltsicherheitsrat ein Gremium geschaffen, in dem sie selbst als ständige Mitglieder die alleinige und letzte Entscheidungsbefugnis über Krieg und Frieden für sich reklamierten.

Kann so eine Friedensordnung aussehen, in der sich sämtliche UN-Mitgliedstaaten auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen? Wohl kaum. Als dann mit dem Ende des von der Sowjetunion angeführten Ostblocks der tatsächliche oder auch vorgebliche Grund für die (atomare) Hochrüstung weggefallen war, ließ sich kaum noch begründen, warum die Atomwaffenstaaten noch immer auf ihren Atomwaffen beharrten, zumal ihnen bereits der 1970 zu dem Zweck, das Entstehen weiterer Atomstaaten zu verhindern, in Kraft getretene Atomwaffensperrvertrag die völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung zur vollständigen atomaren Abrüstung auferlegt hatte. Da die Realität eine gänzlich andere gewesen und bis heute geblieben ist, ließe sich dieser Vertrag unter die Kategorie "Tricksen und Täuschen", ohne deren Berücksichtigung sich Fragen der Kriegführung und sonstige militärische Belange wohl nicht zutreffend analysieren und bewerten lassen, subsumieren.

In dieser Sparte scheint auch der sogenannte "Raketenabwehrschirm" beheimatet zu sein, der keineswegs so defensiver Natur ist, wie es seine Namensgebung suggerieren möchte. Wären Nichtatomwaffenstaaten in der Lage, anfliegende und möglicherweise mit Atomwaffen bestückte ballistische Raketen außerhalb der Atmosphäre zu zerstören, könnte dies zu ihrer politischen Emanzipation beitragen, da auf diese Weise das Bedrohungs- und Einschüchterungspotential der Atommächte ihnen gegenüber neutralisiert werden könnte. Doch nicht die insofern wehrlosen Staaten stehen im Begriff, sich eine solche Technologie zu verschaffen, sondern die USA im Rahmen der NATO. Das Begründungsszenario ist so absurd, daß es einer auf den Lohn einer solchen Teilhaberschaft und Unterwerfungsbereitschaft abstellenden partiellen "Dummheit" bedarf, um die Kröte zu schlucken, daß von den zu "Schurkenstaaten" erklärten Ländern Iran oder auch Nordkorea eine Bedrohung ausgehe, gegen die die NATO sich durch die neue, in Europa aufgebaute Raketenabwehr schützen müsse.

Wenn die vorgeblichen Interessen, Motive und Absichten offenkundig im Widerspruch stehen zu den tatsächlichen, wie es auch beim Thema "NATO-Raketenabwehrschirm in Europa" der Fall zu sein scheint, ist Aufklärung im besten Wortsinn angebracht, um der Entwicklung und Stärkung streitfähiger Positionen Vorschub zu leisten. Zu den Zielen des Kongresses "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht", der vom 26. bis 28. April 2013 in Bremen stattfand, hatte es nach Ankündigung des Hauptveranstalters, der deutschen Sektion der "Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen" (IALANA), gehört, eine "offene Diskussion über zahlreiche brennende Fragen, die die Militär- und Sicherheitspolitik der NATO und ihrer Mitgliedstaaten betreffen, zu führen, anzustoßen und zu fördern" [1].

Der neue Anti-Raketenschirm der NATO in Europa konnte da nicht fehlen. Inzwischen ist er sogar in den Fokus wenn auch schnellebiger Schlagzeilen geraten, da die USA in Reaktion auf die Entscheidung der russischen Behörden, dem früheren US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden für mindestens ein Jahr Asyl zu gewähren, mit einer neuen Eiszeit in den Beziehungen zu Rußland drohen. Der frühere republikanische Präsidentschaftskandidat und Senator John McCain etwa forderte nicht nur, daß die NATO unverzögert in Richtung Osten ausgeweitet, sondern auch, daß das neue Raketenabwehrsystem in Europa nun ohne Rücksicht auf russische Bedenken durchgeboxt werden sollte [2]. Der von Republikanern wie Demokraten gleichermaßen erhobenen Forderung, das am Rande des im September bevorstehenden G-20-Gipfels in St. Petersburg anvisierte Spitzengespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin abzusagen, ist US-Präsident Barack Obama inzwischen nachgekommen.

Bevor im zweiten Teil dieses Berichts die Frage fokussiert wird, ob und inwiefern das NATO- bzw. US-Projekt "Raketenabwehrschirm in Europa" mit einem womöglich gar nicht vollständig "erkalteten Krieg" gegen Rußland oder auch China in Zusammenhang gebracht werden könnte, um die beiden Großmächte zu nennen, die der tatsächlichen Realisierung des Hegemonieanspruchs westlicher Staaten in militärischer Hinsicht im Weg stehen könnten, soll der "Schirm" erst einmal abgeklopft werden auf die politische, militärische und juristische Relevanz, die er für die Bundesrepublik Deutschland bereits entfaltet hat oder noch entwickeln könnte. Wie es um diese aktive Beteiligung Deutschlands am sogenannten Raketenabwehrschirm und dessen völker- und verfassungsrechtliche Beurteilung bestellt ist, war das zentrale Thema eines Eingangsreferats zu dem auf dem Bremer Kongreß unter dem Titel "Der neue Anti-Raketen-Schirm der NATO in Europa - Sicherheitspolitische Kalküle und das Recht" veranstalteten Forum.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Bernd Hahnfeld
Foto: © 2013 by Schattenblick

Bernd Hahnfeld, Jahrgang 1939, Richter im Ruhestand, Urgestein der bundesdeutschen Friedensbewegung seit den Protesten gegen die Nachrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles und Gründungs- wie Vorstandsmitglied der IALANA, machte in seinem Eröffnungsbeitrag gegen die Raketenabwehr der NATO juristische Bedenken aus materiell-rechtlicher Sicht, nämlich weil sie gegen das Völkerrecht verstoße, wie auch aus verfahrensrechtlichen Gründen geltend, weil die Einbeziehung der Bundeswehr und des deutschen Territoriums sowie die Errichtung der Kommandozentrale in Ramstein der Zustimmung des Bundestages bedurft hätten.

Zur Begründung führte der Referent zum ersten Punkt seiner Kritik an, daß der Raketenabwehrschirm einen Völkerrechtsverstoß darstellt, weil er die bindende Verpflichtung aus Art. 6 des Atomwaffensperrvertrags, ernsthaft über die vollständige nukleare Abrüstung zu verhandeln, verletzt. Um diesen Rechtsstandpunkt zu untermauern, zitierte er aus einem Gutachten, das der Internationale Gerichtshof in Den Haag auf Anfrage der UN-Vollversammlung 1996 erstellt hatte und in dem er zu dem Ergebnis gekommen war, daß die rechtliche Tragweite dieser Verpflichtung über eine reine Verhaltenspflicht hinausgeht. "Hier ist damit die Verpflichtung verbunden, zu einem präzisen Ergebnis zu kommen - atomare Abrüstung unter allen ihren Aspekten", zitierte der Referent aus dem Den Haager Gutachten von 1996. Hahnfeld merkte dazu an, daß diese Rechtspflicht nicht verhandelbar sei und auch nicht durch völkerrechtliche Verträge wie den NATO-Vertrag eingeschränkt werde, daß sich die Staaten jedoch völlig anders verhielten.

Der Referent stellte klar, daß der Raketenabwehrschirm entgegen der mit seiner Einführung und Installation verknüpften Behauptungen und Versprechungen nicht der vom Atomwaffensperrvertrag geforderten Abrüstung, sondern einer weiteren Aufrüstung den Weg ebnet. Zum besseren Verständnis erläuterte er die Situation aus Sicht der russischen Regierung, die die Effektivität ihrer strategischen nuklearen Interkontinentalraketen gefährdet sehe und befürchte, daß die NATO sich unverwundbar machen wolle. Aus diesen Gründen habe Rußland bereits Gegenmaßnahmen eingeleitet, ein Frühwarnsystem eingerichtet und Kurzstreckenwaffen stationiert, um ggf. Einrichtungen des "Abwehrschirms" angreifen zu können. Hahnfeld zufolge verstoßen auch diese Maßnahmen gegen Art. 6 des Atomwaffensperrvertrages, was jedoch durch das neue System der NATO erst ausgelöst worden sei.

Über diesen Rechtsstandpunkt ließe sich lange streiten. Bernd Hahnfeld vertritt gegenüber dem herrschenden Recht, das sich an dieser Stelle besonders deutlich als das Recht der Herrschenden erweist, einen kritischen, um nicht zu sagen gegensätzlichen Standpunkt. Nach Art. 6 des Atomwaffensperrvertrags gäbe es auch die Verpflichtung, alles zu unterlassen, was der unverzüglichen Aufnahme von Verhandlungen über eine vollständige (atomare und nicht-atomare) Abrüstung entgegenstünde. Da die deutsche Bundesregierung durch das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3 und Art. 25) an das geltende Völkerrecht und damit auch an den Atomwaffensperrvertrag gebunden ist, ist ihre Zustimmung zur Beteiligung Deutschlands am Raketenabwehrschirm nach Ansicht des Referenten rechtsfehlerhaft und müsse widerrufen werden.

Zum zweiten Punkt seiner in diesem Eingangsreferat gegenüber dem Raketenabwehrschirm deutlich gemachten rechtlichen Bedenken, der fehlenden Legitimation durch das Parlament, führte Hahnfeld aus, daß weder im NATO-Vertrag noch im Stationierungsvertrag für ausländische Truppen in Deutschland konkrete Waffensysteme benannt worden sind, so daß es, wie er es formulierte, "mehr als fraglich" sei, "ob völlig neue Waffensysteme wie ein System zur Abwehr ballistischer Raketen von der 1955 erteilten Zustimmung des Deutschen Bundestages noch gedeckt sind". Der Referent argumentierte zudem damit, daß die engen Verzahnungen zwischen den nationalen Befehlssträngen der USA und jenen der NATO auf den großen Einfluß Washingtons auf die Entscheidungen des Bündnisses sowie deren Durchsetzung hindeuteten. Das berge ein hohes Sicherheitsrisiko für die Bundesrepublik Deutschland in sich, zumal deutsche Dienststellen in eilbedürftigen Krisenfällen keinen Einfluß auf Einsatzentscheidungen hätten. Der in einem friedensbewegten (Un-)Ruhestand stehende Richter erklärte unmißverständlich, daß auf die Rechtstreue des NATO-Bündnispartners USA nicht vertraut werden kann. Als Beleg führte er den Irakkrieg an, in dem die USA ihre Militäreinrichtungen in Deutschland eigenmächtig für ihre völkerrechtswidrige Kriegführung genutzt hätten.

Wiewohl eine so klare und eindeutige Stellungnahme stets zu begrüßen ist, zeichnen sich an dieser Stelle - auch in friedenspolitischer Hinsicht - die Grenzen einer legalistischen Grundpositionierung ab, die ihre Streit- und Protestfähigkeit daran bemessen läßt, bis zu welchem Grad sie, etwa durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder internationaler Gerichtshöfe, rechtlich abgesichert werden könne. Auf dem Bremer Kongreß hatte am Vortag Martin Kutscha, Mitglied im Vorstand der IALANA und Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, in seinem Referat zum Thema "NATO-Strategie und das Recht" darauf aufmerksam gemacht, wie regierungskonform die Entscheidungen des höchsten deutschen und vermeintlich unabhängigen Gerichts gerade in diesen heiklen Fragen in der jüngeren Vergangenheit ausgefallen sind, um an dieser Stelle nur an dessen Urteil zum Neuen Strategischen Konzept der NATO vom 22. November 2001 zu erinnern [3].

Bernd Hahnfeld bezog sich in seinem Referat auf eine andere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008 [4], in der es entschieden hatte, daß sich die Verantwortung des Bundestages in politischer wie rechtlicher Hinsicht bei der Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen nicht nur auf den einmaligen Zustimmungsakt, sondern auch den Vollzug beziehe. Zwar sei die Bundesregierung ermächtigt, Verträge in den Formen des Völkerrechts fortzuentwickeln. Das Bundesverfassungsgericht habe aber entschieden, daß die unter Beteiligung der Bundesregierung vollzogene Fortentwicklung der NATO die Mitwirkungsrechte des Bundestages verletze, wenn sie über die einst mit dem Zustimmungsgesetz erteilte Ermächtigung hinausgehe, was nach Ansicht des Referenten beim Raketenabwehrschirm der Fall sei, da er "Deutschland politisch, militärstrategisch und völkerrechtlich in sicherheitspolitisch brisante Situationen bringen kann und das keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt".

Zum Abschluß seines Redebeitrags faßte Bernd Hahnfeld seine juristische Einschätzung noch einmal zusammen und erklärte, daß die Bundesregierung - unabhängig vom Einwand der Völkerrechtswidrigkeit - der Beteiligung Deutschlands am Raketenabwehrschirm, seiner Stationierung in Deutschland sowie der Errichtung einer Kommandozentrale in Ramstein nur zustimmen dürfe, wenn und insoweit der Bundestag dies zuvor per Gesetz so entschieden hätte. Für die deutsche Friedensbewegung allerdings könnte sich dieser Argumentationsstrang, falls sie sich im wesentlichen auf ihn stützen würde, als ein stumpfes Schwert erweisen. Da jede Bundesregierung über eine ausreichende parlamentarische Basis verfügen dürfte, für die kaum eine Veranlassung besteht, der eigenen Partei(führung) in einer so wichtigen Frage die Gefolgschaft zu verweigern, wäre es ihr voraussichtlich gut möglich, diese Hürde zu nehmen, ohne von ihrer Position auch nur um ein Jota abzuweichen.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Paul Schäfer
Foto: © 2013 by Schattenblick

Mit der Politik der deutschen Bundesregierung in Sachen Raketenabwehrschirm befaßte sich auf dem Kongreß-Forum auch der nächste Redner, der verteidigungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Linken, Obmann im Verteidigungsausschuß des Bundestages und Mitglied der parlamentarischen Versammlung der NATO, Paul Schäfer. Er stellte klar, daß die deutsche Bundesregierung der Erklärung des NATO-Gipfels in Lissabon im Jahre 2010 zugestimmt und gesagt hat, daß es eine zunehmende Bedrohung für die Bevölkerungen Europas durch die Proliferation - also Weitergabe - ballistischer Raketen gäbe. Zur Spezifizierung dieses Bedrohungsszenarios der NATO werde recht unspezifisch 'mal von 20, 'mal von 30 oder noch mehr Staaten gesprochen, worunter, wie Schäfer betonte, bemerkenswerterweise vor allem NATO-Verbündete seien.

Zu diesem Punkt hatten Bernd Hahnfeld und Dieter Deiseroth in einer in diesem Jahr erschienenen Publikation festgestellt, daß von den 32 Staaten, die ballistische Raketen besitzen, 27 NATO-Verbündete oder deren Freunde sind und daß darüber hinaus nicht erklärt werde, welcher der übrigen Staaten durch seine ballistischen Raketen, die mit Massenvernichtungswaffen bestückt werden können, NATO-Mitgliedstaaten bedrohe. Da weder Rußland noch China seitens der NATO in diesem Zusammenhang ausdrücklich genannt werden würden, blieben allein Nordkorea, Syrien oder der Iran übrig. Bei diesen drei Staaten hätten die Abwehrschirmbefürworter bislang allerdings noch keinen Nachweis dafür erbringen können, daß sie oder auch nur einer von ihnen die objektive Fähigkeit und die subjektive Absicht haben, ballistische Raketen, mit Massenvernichtungswaffen bestückt, zu Angriffszwecken einzusetzen. [5]

Wie auch Paul Schäfer erläuterte, steht das Bedrohungspotential des Iran auf wackeligen Füßen. Man wisse nicht, ob Teheran tatsächlich die Absicht verfolge, Atomwaffen zu entwickeln und wann der Iran überhaupt in der Lage sein könnte, die entsprechenden Trägerkapazitäten vorzuhalten. Gleichwohl gelte diese Bedrohung, gegen die man sich wehren müsse, bei der NATO als "gesetzt". Bemerkenswert sei auch, so Schäfer, daß die NATO davon spreche, daß nicht nur die europäischen Bevölkerungen und Staaten vor der wachsenden Gefahr durch ballistische Raketen beschützt werden sollen, sondern auch die Streitkräfte. Die Antwort auf die behaupteten Gefahren und Bedrohungen bestand in dem auf dem Lissabonner NATO-Gipfel von 2010 angenommenen Angebot der USA, in einem 4-Phasen-Modell eine Raketenabwehr in Europa zu stationieren, was bis 2020 geschehen soll.

In der ersten Phase wurde 2011 auf bereits bestehende Waffensysteme, SM-3-Raketen mit einer Reichweite von 800 bis 1200 Kilometern, die anfliegende gegnerische Raketen zerstören können sollen, in Südspanien zurückgegriffen. Die dafür erforderlichen Radaranlagen wurden in der Türkei aufgestellt. Die zweite Phase sieht bis 2015 die Aufstellung eines Radarsystems und dementsprechender Abfangraketen in Südrumänien vor, während in einer dritten Phase, die zwischen 2018 und 2020 realisiert werden soll, die Reichweite der SM-3-Raketen durch weitere, in Polen stationierte Raketen so weit erhöht werden soll, daß auch im Anflug befindliche Interkontinentalraketen zerstört werden können sollen. Ab 2020 werden weitere Abfangraketen auf Schiffen eingesetzt.

Der Referent wies in Ergänzung zu dem 4-Phasen-Plan des neuen Raketenabwehrschirms darauf hin, daß sich die Bundesrepublik Deutschland bereits 2005 an dem von der NATO beschlossenen Raketenabwehrschirm auf dem Gefechtsfeld beteiligte. Dieses Programm, genannt "Active Layered Theatre Ballistic Missiles Defense" (ALTBMD), befindet sich derzeit noch in der Umsetzung. Es war zwischenzeitlich ins Stocken geraten, da die USA einseitig ausgestiegen waren, bis im März dieses Jahres Präsident Obama "die fehlenden Milliönchen" bewilligt habe. Bereits bei diesem Programm sei die NATO-Philosophie, die eigenen Streitkräfte zu schützen, wenn es darum gehe, irgendwo zu intervenieren, deutlich geworden. Schäfer erläuterte an diesem Beispiel den engen Zusammenhang zwischen Defensiv- und Offensivsystemen. So werde behauptet, daß der Raketenabwehrschirm entwickelt werden müsse, um die eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten.

Nach Angaben von Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière wolle die Bundesregierung die in Deutschland bereits vorhandenen Patriot-Abfangraketen mittlerer Reichweite auch für den neuen Abwehrschirm zur Verfügung stellen, obwohl diese eher für eine Punktziel-, nicht jedoch eine weitflächige Territorialverteidigung geeignet wären. Diese Zusage habe einen eher symbolischen Aussagewert, da diese Systeme bereits in die Gefechtsfeldabwehr eingebunden sind. Würde man sie zur Abwehr der behaupteten Bedrohung aus dem Iran einsetzen wollen, müßten sie wohl an einem anderen Ort stationiert werden. Wie der Referent erklärte, werde die Frage, ob sich Deutschland an der räumlichen Verteilung (Dislozierung) der SM-3-Raketen, die sich bereits auf US-Aegis-Schiffen im Mittelmeer befinden, durch ihre Stationierung auf deutschen Fregatten beteiligt, noch diskutiert. Bislang habe diese Rüstungsentscheidung als "zu teuer" gegolten, wozu der Linkspolitiker allerdings anmerkte, daß sich die erforderlichen Mittel zumeist doch finden ließen, sobald es hieße, eine Beschaffung sei "abschreckungspolitisch zwingend".

Die Kosten der deutschen Nachrüstung auf den Fregatten würden, wie der Referent anführte, erheblich sein. Wir hätten es mit neuen Beschaffungszyklen zu tun, in denen zwei Elemente, Drohnen und Raketenabwehr, überragend wären. Dies sind, worüber noch viel zu wenig gesprochen werde, die Zukunftsprojekte, an denen die Rüstungswirtschaft viel verdienen wolle. Haushaltspolitisch sei es zwingend, daß der Bundestag darüber entscheiden müsse, sollte es zu einem Folgeprojekt zu den Patriot-Raketen kommen, also der SM-3-Stationierung auf deutschen Fregatten. Dies wäre nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz zustimmungspflichtig. Die Bundesregierung habe in diesem Punkt eingelenkt, nachdem die Linkspartei erklärt habe, das gehe ja nun gar nicht. Außerdem habe das Bundesverfassungsgericht im Awacs-Urteil entschieden, daß die Zustimmungspflicht im Zweifelsfall parlamentsfreundlich auszulegen sei.

Im Parlament werde die Diskussion um den Raketenabwehrschirm der NATO in Europa bestenfalls als eine Fachpolitikdebatte geführt. Der Bundestag in Gänze würde sich kaum damit beschäftigen, während die kritische Öffentlichkeit auf das Reizthema Drohnen fokussiert ist. Zwar gäbe es im Vorfeld von Gipfeltreffen jede Menge Erklärungen und Entschließungsanträge der Bundesregierung und der Fraktionen. Der Raketenabwehrschirm sei dabei jedoch stets ein untergeordneter Punkt, weil der Krieg in Afghanistan und andere Themen ihm gegenüber im Vordergrund stünden. Seiner Wahrnehmung nach, so Schäfer, würde die Debatte zudem stark beengt auf den Aspekt Rußland, wobei es gewisse Differenzen zwischen Regierung und Opposition gäbe in der Frage, wie stark Rußland in eine gemeinsame Raketenabwehr eingebunden werden sollte.

Zwar erkläre die Bundesregierung, mit Rußland kooperieren und für mehr Transparenz sorgen zu wollen, weshalb Moskau "ganz generös" gemeinsame computergestützte Simulationen und Übungen sowie ein Datenaustausch angeboten werde, doch auf die von Schäfer als "durchaus ganz plausibel" bezeichnete Forderung Rußlands nach einer rechtsverbindlichen Absicherung, daß der Raketenschirm nicht die Zweitschlagskapazität Rußlands aushebelt, gehe die Bundesregierung nicht ein. Zwar werde gesagt, daß die Geschwindigkeiten, die Reichweite und die Stationierungsbedingungen des Systems definiert werden müßten, doch explizit habe sich keine der Parteien und Fraktionen die Position der Russischen Föderation zu eigen gemacht. So werde zwar zugestanden, daß "mehr Sensibilität" im Umgang mit Rußland angezeigt wäre, doch gingen die Positionen auch bei der SPD und den Grünen nicht so weit, den Standpunkt Rußlands, auf gleicher Augenhöhe an einem gemeinsamen Projekt beteiligt zu werden oder die genannte Garantieerklärung zu erhalten, für völlig richtig zu halten.

Die Position der Linkspartei sei da ohnehin noch eine andere, wie ihr verteidigungspolitischer Sprecher erläuterte. Der Raketenabwehrschirm, gegen den seine Partei prinzipielle Argumente habe, werde durch die Beteiligung Rußlands nicht viel besser. Mit ihrer Argumentation sei die Partei allerdings noch weit von einer hegemoniefähigen Position entfernt, weshalb noch viel Aufklärungsarbeit über dieses Projekt zu leisten sei. Es bestehe die große Gefahr, gerade auch in Hinblick auf den Iran, daß das Militärische die Diplomatie verdränge und nur noch überlegt werde, wie der Konflikt militärisch durch Abschreckung oder Intervention gelöst werden könne, anstatt alle Anstrengungen auf eine diplomatische Lösung zu konzentrieren. Paul Schäfer bezeichnete den Raketenabwehrschirm als ein sehr gefährliches Projekt, das schon heute die Rüstungsspirale gefördert und angeheizt habe. Es sei doch eine Schizophrenie, daß eine gezielte Proliferation in Spannungsgebiete stattfindet von denselben Staaten, die mit dem Argument, gegen die Proliferationsgefahr etwas unternehmen zu wollen, ein solches Raketenabwehrsystem entwickeln.

Mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl erklärte der Referent, daß seine Fraktion wohl nicht mehr die Kraft habe, dafür zu streiten, daß die Zustimmungspflicht des Bundestags sich auch auf die Etablierung einer Kommandobehörde, wie beim Raketenabwehrschirm in Ramstein im Rahmen des NATO-Vertrags geschehen, den noch niemand als völkerrechtswidrig angegriffen habe, erstrecken müsse. Das halte er zwar für schwierig, doch dies sei sozusagen sein Steckenpferd. "Da müssen wir mehr machen", so Schäfer und deutete an, daß seine Fraktion dieses Thema möglicherweise in der nächsten Legislaturperiode noch einmal aufgreifen werde. Selbstverständlich sei es insgesamt wichtig, bei den bevorstehenden zentralen Beschaffungsentscheidungen, die den Raketenabwehrschirm betreffen und mit denen sich auch der Bundesrat befassen werde, aus dem Parlament heraus eine möglichst große, kritische Öffentlichkeit herzustellen und den Widerstand gegen das gefährliche Raketenabwehrprogramm zu verstärken. Da stehen wir, so bekannte der Referent freimütig und an das rundum interessierte Publikum gewandt, erst am Anfang.


Fußnoten:

[1] Einführung, Konferenzinformationen "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht", WWW.IALANA.DE (DIN-A4-Broschüre), S. 3

[2] http://www.t-online.de/nachrichten/specials/id_64786210/edward-snowden-russland-laesst-barack-obama-eiskalt-auflaufen.html

[3] Siehe dazu den Bericht im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/156: Quo vadis NATO? - vorbei am Grundgesetz (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0156.html

[4] Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 7.5.2008 - 2 BvE 1/03 -, BVerfGE 121, 135 (S. 161 ff., Rn. 64); Fundstelle zit. aus: Rüstung ohne Recht: Der neue Raketenabwehrschirm der Nato, von Dieter Deiseroth und Bernd Hahnfeld, Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2013, S. 38

[5] Rüstung ohne Recht: Der neue Raketenabwehrschirm der Nato, von Dieter Deiseroth und Bernd Hahnfeld, Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2013, S. 35f


Bisherige Beiträge zum Kongreß "Quo vadis NATO?" im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/148: Quo vadis NATO? - sowohl als auch ... (SB)
BERICHT/149: Quo vadis NATO? - gedehntes Recht und Kriege (SB)
BERICHT/150: Quo vadis NATO ... Schluß damit! (SB)
BERICHT/152: Quo vadis NATO? - Wandel der Feindschaften? (SB)
BERICHT/153: Quo vadis NATO? - Abgründe der Kriegsrechtfertigung(SB)
BERICHT/154: Quo vadis NATO? - Das Auge der Wahrheit (SB)
BERICHT/156: Quo vadis NATO? - vorbei am Grundgesetz (SB)
BERICHT/157: Quo vadis NATO? - Die Drohnenfront (SB)
INTERVIEW/166: Quo vadis NATO? - Handgemacht und kompliziert (SB)
INTERVIEW/167: Quo vadis NATO? - Zügel für den Kriegseinsatz - Gespräch mit Otto Jäckel (SB)
INTERVIEW/168: Quo vadis NATO? - Interventionsgefahren (SB)
INTERVIEW/169: Quo vadis NATO? - Desaster der Mittel - Hans-Christof Graf von Sponeck im Gespräch (SB)
INTERVIEW/170: Quo vadis NATO? - Was keiner wissen will - Bernhard Docke im Gespräch (SB)
INTERVIEW/171: Quo vadis NATO? - Hegemonialschaft USA - Nikolay V. Korchunov im Gespräch (SB)
INTERVIEW/172: Quo vadis NATO? - Der Friedensstandpunkt - Gespräch mit Eugen Drewermann (SB)
INTERVIEW/174: Quo vadis NATO? - Hegemonialmißbrauch, Hauke Ritz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/176: Quo vadis NATO? - Empire exklusiv - Bill Bowring im Gespräch (SB)
INTERVIEW/177: Quo vadis NATO? - Aufklärungsmangel und Demokratiemüdigkeit - Jörg Becker im Gespräch (SB)
INTERVIEW/178: Quo vadis NATO? - Recht bleibt Recht - Karim Popal im Gespräch (SB)
INTERVIEW/179: Quo vadis NATO? - Kriegsvorwände, Tobias Pflüger im Gespräch (SB)
INTERVIEW/180: Quo vadis NATO? - Trümmerrecht und Pyrrhussiege, Prof. Dr. Werner Ruf im Gespräch (SB)
INTERVIEW/181: Quo vadis NATO? - Cyberwar, Wissenschaftsethik, Chancen, Prof. Dr. Hans-Jörg Kreowski im Gespräch (SB)
INTERVIEW/183: Quo vadis NATO? - Wege zum Anstandsmilitär, Dr. Thomas Henne im Gespräch (SB)
INTERVIEW/184: Quo vadis NATO? - Blinde Kriege, Volker Eick im Gespräch (SB)


14. August 2013