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BERICHT/179: China zwischen den Welten - Hypotheken der Moderne (SB)


Liberalisierung um fast jeden Preis? Deutsche Wirtschaftsinteressen und Chinas Sozialkonflikte

GIGA Forum am 19. März 2014 in Hamburg



Der Januskopf deutscher Sicht auf Fernost nimmt China zwiegespalten ins Visier. Als zentrales Hindernis ungehemmter Expansion des kapitalistischen Verwertungsregimes in Ostasien bleibt dieses Land aufgrund seiner Gesellschaftsordnung ein ideologisches Feindbild erster Güte. Als Rettungsanker bundesrepublikanischer Exportstärke in Zeiten der Krise braucht man die Chinesen jedoch mehr denn je, woraus eine Haßliebe resultiert, die heute hofiert, was man morgen um so sicherer in die Knie zu zwingen hofft. China, das den Sozialismus im Schilde führt, während es dem Kapitalismus die Tore öffnet, manövriert zwischen den Welten, was eine weitverbreitete Unschärfe in der Einschätzung seiner Entwicklungslogik und Stärke zur Folge hat. Entscheidender Schlüssel zur Klärung dieser Fragen ist jedoch nicht der vorgeblich objektive, doch de facto von unausgesprochenen Absichten getrübte Blick auf die dortigen Verhältnisse, sondern die Analyse der hiesigen Begehrlichkeiten samt ihrer Instrumente. So erweisen sich Handel und Partnerschaft oder Bezichtigung und Drohung, wie sie wahlweise vorgehalten werden, als Wechselspiel und Etappen ein und derselben Strategie, sich chinesischer Arbeitskraft und Ressourcen zu bemächtigen.

China zögert als sogenannte Lokomotive der Weltwirtschaft die volle Wucht der ungebändigten Krise solange hinaus, wie seine hohen Wachstumsraten den Prozeß der Kapitalverwertung befeuern. Diese sind aus westlicher Sicht einerseits unverzichtbar, während man andererseits die Explosion des Pulverfasses sozialer Widersprüche aus demselben Grund fürchten muß. Der Aufstieg der Volksrepublik von einem agrarisch geprägten Entwicklungsland auf das Niveau eines der weltweit führenden Industriestaaten binnen weniger Jahrzehnte hat zwangsläufig eine extreme soziale Ungleichheit hervorgebracht. Die Möglichkeit einer maßvollen, an den materiellen Erfordernissen der gesamten Bevölkerung ausgerichteten, ortsbezogenen und ressourcenschonenden Entwicklung wurde endgültig obsolet, als man den neoliberalen Wettbewerbsstaat in den Rang der einzig gültigen Zukunftsoption erhob.

Seither vollzieht sich in China mit atemberaubender Dynamik, was den Neoliberalismus in aller Welt auszeichnet: Es werden ökonomische und soziale Disparitäten forciert, um Menschen und Regionen in erbitterte Konkurrenz um Verwertungspotentiale zu treiben. Im Zuge der daraus resultierenden Konzentration und Spaltung driften Arm und Reich, Stadt und Land, Ost und West, Residenten und Migranten in einem Maße auseinander, das das Gefüge der chinesischen Gesellschaft erschüttert und die staatliche Einheit gefährdet. Die Sonderwirtschaftszonen an der Ostküste fungieren als Schmelztiegel einer rasant verlaufenden nachholenden Industrialisierung des Landes, die auf frühkapitalistischen Ausbeutungsbedingungen gründet. Das Wachstumsmodell einer arbeitsintensiven Produktion, die mit anderen Anbietern von Niedriglohnarbeit in Ost- und Südasien konkurriert, ist mit einer massenhaften Proletarisierung der Landbevölkerung erkauft, die in einem gewaltigen Strom der Binnenmigration familiäre und regionale Herkunft zurückläßt, um dem Versprechen auf Teilhabe am wirtschaftlichen Aufstieg zu folgen, das doch weithin unerfüllt bleibt.

Die chinesische Führung steht vor dem Problem, die von ihr entfesselten Kräfte des Kapitals immer wieder einholen zu müssen, ohne sie derart zu dämpfen, daß sie die verheerenden Folgen der Ausbeutung billiger Lohnarbeit nicht länger mit Hilfe finanzieller und sozialpolitischer Zugeständnisse unter Kontrolle halten kann. Dem Interesse des transnationalen Kapitals an einer stetigen Verbesserung seiner Verwertungsbedingungen in China, also der entfesselten Liberalisierung des Wirtschaft, versucht sie auf einem Mittelweg zwischen staatlicher Regulation und kapitalistischer Akkumulation zu entsprechen. Mit diesem Spagat soll die Sprengkraft der Klassengegensätze eingehegt werden, die in einer rasant wachsenden Gruppe extrem reicher Kapitaleigner der neuen Bourgeoisie, der Ausbildung einer neuen Mittelschicht aus gutverdienenden Angestellten und kleinen Unternehmern sowie einer armen Landbevölkerung, die erst am Beginn der Proletarisierung steht und mit der städtischen Arbeiterschaft konkurriert, ihren Ausdruck finden. [1]

'Reform Roadmap' Folie der Referentin Nele Noesselt - Foto: 2014 by Schattenblick

Fahrplan der Kompromisse
Foto: 2014 by Schattenblick

"Zwischen Reform und Stillstand: China unter neuer Führung"

Am 19. März veranstaltete das German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Kooperation mit der Handelskammer Hamburg ein Forum zum Thema "Zwischen Reform und Stillstand: China unter neuer Führung". Unter Moderation der Politologin Corinna Nienstedt (Handelskammer) referierten die Sinologin und Politikwissenschaftlerin Dr. Dr. Nele Noesselt (GIGA), die Ökonomin Dr. Margot Schüller (GIGA) und der Sinologe und Sozialwissenschaftler Dr. Günter Schucher (GIGA) zu verschiedenen Schwerpunkten des Reformprozesses, den die neue chinesische Führung eingeleitet hat.

Wie Corinna Nienstedt, die Geschäftsführerin der Handelskammer Hamburg, einleitend hervorhob, seien sich die Experten einig, daß es sich bei den Beschlüssen des 3. Plenums des 18. ZK im November 2013 um die umfangreichsten Reformbemühungen seit 1978 handle. Die vielfältigen Zielvorgaben beträfen Sozialreformen, eine stärkere gesellschaftliche Kontrolle durch den Staat, die Stärkung des Privateigentums, die Zuweisung einer entscheidenden Rolle an die Privatwirtschaft und eine Neuausrichtung des Wirtschaftsmodells hin zu innovationsgetriebenem und nachhaltigem Wirtschaften. Dennoch bleibe die Frage, wie es sich mit der Umsetzung der Reformen in die Praxis verhält.

Am Stehpult - Foto: © 2014 by Schattenblick

Nele Noesselt
Foto: © 2014 by Schattenblick

Nele Noesselt, die insbesondere zu Governance-Fragen der VR China im nationalen und globalen Kontext arbeitet, durchleuchtete die Hintergründe der Reformbeschlüsse und ging auf die in diesem Zusammenhang geführten Debatten im Land ein. Wie sie ausführte, könne man die Suche nach einem neuen Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Politik an Fragen nach der idealen Regierungsweise, der Verfaßtheit des Staates und der Rolle des Herrschers anbinden, die in China seit jeher gestellt würden und in der Staatsphilosophie allgegenwärtig seien. Das dritte Plenum nach einem Führungswechsel habe in der Geschichte der KP Chinas stets eine einschneidende Bedeutung gehabt. So werde das dritte Plenum von 2013 gern mit dem dritten Plenum von 1978 verglichen, weil damals weitreichende Beschlüsse über Reform und Öffnung verabschiedet wurden, auf die das heutige Wirtschaftsmodell zurückzuführen ist. China wurde wieder für den internationalen Handel geöffnet und fing an, nach dem Prinzip "Vogel im Käfig" marktwirtschaftliche Elemente in das eigene Wirtschaftssystem zu integrieren: Der Vogel des Kapitalismus darf im Käfig der Planwirtschaft frei fliegen, diesen jedoch nicht verlassen.

Da die damalige Reform viele negative Folgen zeitigte, versuchte das 3. Plenum des 18. ZK in verschiedenen Bereichen gegenzusteuern. An diese Reform wurden große Erwartungen in der chinesischen Gesellschaft wie auch der internationalen Öffentlichkeit gestellt. Die Partei hat eine Kurskorrektur vorgenommen, die jedoch erst noch implementiert werden muß. Skeptiker bezweifeln, daß die Umsetzung überall gelingt, da Teile der Partei und Eliten der Wirtschaft um ihre Positionen und Privilegien fürchten müssen.

Das Reformdokument gliedert sich in 16 Abschnitte und 60 Kapitel, weshalb man auch von einem 60-Punkte-Plan spricht. Dieser sieht Reformen in Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Umwelt vor, wobei man von dem Modell ausgeht, daß jede Verschiebung in einem Teilbereich auch Veränderungen in anderen Bereichen nach sich zieht. Immer wieder erwähnt wird die Verteilung der Aufgaben von Staat und Markt, wobei der Markt künftig eine entscheidendere Rolle spielen soll, während die staatliche Kontrolle in der Politik gestärkt wird.

Die geplanten Reformen betreffen insbesondere die Bodennutzungsrechte auf dem Land, das Wuchersystem und die Freizügigkeit. Inzwischen leben über 50 Prozent der Bevölkerung in großen Städten, doch sind nicht alle Bewohner auch deren Bürger, da es sich bei vielen um informelle Migrantinnen und Migranten handelt. Um auch für sie ein System der sozialen Sicherung aufzubauen, sollen Überschüsse der Staatsunternehmen sehr viel stärker als bislang herangezogen werden. Im Reformdokument sind zudem neue Institutionen verankert worden. So steht eine Führungsgruppe, die sich mit der Umsetzung der Reformen befaßt, unter der direkten Kontrolle des Staatspräsidenten Xi Jinping. Dieser hat eine einflußreiche Funktion im Staat, da er auch Generalsekretär der Partei und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission wie auch in vielen Gremien involviert ist, die sich mit der Neuausrichtung Chinas beschäftigen.

Der Tendenz zur Rezentralisierung, wie sie etwa in der Einrichtung einer nationalen Sicherheitskommission zum Ausdruck kommt, steht eine Aufwertung deliberativer und konsultativer Verfahren gegenüber, mit deren Hilfe man gesellschaftliche Akteure einbinden und Probleme vor Ort lösen will. Zur Stärkung des Rechtssystems werden im ländlichen Bereich unabhängige Kontrollstellen eingerichtet, die Fälle von Amtsmißbrauch und Korruption überprüfen sollen. Unter dem Motto "Gegen Tiger und Fliegen vorgehen" werden Korruptionsverfahren gegen mächtige Kader wie Akteure auf niedrigeren Ebenen eingeleitet.

Im Jahr 2008 hatte der damalige Premierminister Wen Jiabao gewarnt: Ein Land, das nur ökonomische, aber keine politischen Reformen einleitet, ist zum Scheitern verurteilt. Xi Jinping drückte es so aus: Ein Land, das nur auf leerem Gerede beruht, wird zugrundegehen. Seit 2011 gehört zur Pflichtlektüre des Politbüros das Buch "Der alte Staat und die Revolution" von Tocqueville. Dieser schreibt über die Französische Revolution und die nachfolgenden Jahre, daß eine große Revolution Freiheit bedeute, aber viele nacheinanderfolgende Revolutionen die Freiheit wieder zunichte machten. In diesem Sinne sind Reformen in der politischen Führung Chinas ein zentrales Thema. Angesichts extremer Spannungen in der Gesellschaft wie auch zwischen verschiedenen Gruppen in der Partei hält man weitreichende Reformen für unabdingbar, um das System langfristig zu konsolidieren.

Am Stehpult - Foto: © 2014 by Schattenblick

Margot Schüller
Foto: © 2014 by Schattenblick

Margot Schüller, die sich vor allem mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Chinas, Innovationssystemen in Asien und der Internationalisierung chinesischer Unternehmen beschäftigt, stellte die ökonomischen Aspekte der Reform vor. Wie sie erläuterte, habe das traditionelle System auf einem investitionsgetriebenen Wachstum basiert, weshalb andere Bereiche zu kurz gekommen seien. Zwar sei es im Jahr der globalen Krise 2008 gelungen, das Wachstum durch Anlageinvestitionen rasch wieder zu erhöhen, doch seien dabei beträchtliche Überkapazitäten erzeugt worden. So seien die Investitionen immer ineffizienter und faule Kredite zu einem Riesenproblem geworden, da ein Großteil der Projekte auf lokaler Ebene über Bankkredite finanziert wurde.

In einem stark exportorientiertem Wachstum waren die Anreize für Innovation sehr niedrig, da das gängige Modell auf Übernahme von Technologie und deren Imitation beruhte, während innovative Produktionsprozesse, die China mit einer höheren Wertschöpfung in der Exportindustrie versehen würden, noch nicht existieren. Gleichzeitig vernachlässigte dieses Modell den privaten Konsum, weil die Menschen sparen mußten, um Lebensrisiken wie Alter und Krankheit abzusichern oder die Ausbildung ihrer Kinder zu finanzieren. Hinzu kommen gravierende Umweltprobleme wie die Verschmutzung von Luft und Wasser.

Demgegenüber ist das neue Modell stärker innovationsgetrieben, binnenmarktorientiert und nachhaltig im Sinne sozialer Kosten und Umweltfolgen. Der Staat soll sich aus der Güter- und Faktorpreisentwicklung zurückziehen, also nicht länger Zinssätze, Bodenpreise und Lohnkosten vorgeben. Generell gilt das Motto: Die Behörden sollen sich auf bestimmte Genehmigungsfunktionen beschränken und ansonsten heraushalten.

Ein zweiter wesentlicher Aspekt ist der Abbau von Monopolen des Staatssektors. Es gibt 6000 bis 7000 Staatsunternehmen, wobei etwa 120 Unternehmen, die direkt der Zentralregierung unterstellt sind, in allen wichtigen Bereichen wie etwa dem Energiesektor dominieren. Künftig sollen Privatunternehmen Zugang zu diesen Bereichen erhalten, was auch die Gründung privater Banken einschließt. Um Transparenz zu schaffen, werden Negativlisten eingeführt: Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt. So hätte jeder Zutritt zum Markt, sofern das nicht durch andere Regeln explizit verboten ist.

Um nachhaltiges Wachstum zu fördern, sollen die Kader Anreize erhalten, auf Ressourcenverbrauch, Arbeitssicherheit und lokale Verschuldung zu achten. Das könnte dazu führen, daß Überkapazitäten abgebaut und umweltverschmutzende Projekte nicht mehr genehmigt werden. Auf einer Sitzung der einflußreichen Provinzgouverneure im Februar hat sich eine klare Mehrheit bereiterklärt, das Wachstum herunterzufahren. Die Wachstumsraten von über 10 Prozent der Vergangenheit werden nicht mehr eintreten, so daß eine flachere Entwicklung die Zukunft sein dürfte.

Um den Binnenmarktkonsum zu stärken, werden die staatlichen Unternehmen stärker zur Finanzierung der sozialen Sicherung herangezogen. Während Staatsunternehmen bislang nur 0,7 Prozent ihrer Gewinne zum Sozialversicherungsfonds beisteuern, soll dieser Anteil auf 30 Prozent erhöht werden.

Wie die Referentin abschließend anmerkte, vermisse sie in diesem Reformprozeß die Setzung von Prioritäten wie auch eine Kontrolle seiner Umsetzung. So konzentriere man beispielsweise in Shanghai die Reformen und führe sehr viele Experimente auf einmal durch. Dies habe bereits dazu geführt, daß andere Städte genau dasselbe Modell einführen wollten. Wiederum kenne man aus der Vergangenheit eine sehr dynamische Verbreitung der Reform, indem nämlich die Provinz- und Lokalregierungen ähnliche Modelle sehr schnell übernahmen, ohne daß die Zentralregierung das verhindern konnte. Das wäre ein Schneeballeffekt, der sich erfolgreich durchsetzen könnte.

Am Stehpult - Foto: © 2014 by Schattenblick

Günter Schucher
Foto: © 2014 by Schattenblick

Günter Schucher befaßt sich insbesondere mit Fragen des sozialen Wandels in China. Er untersuchte in seinem Vortrag das Reformprojekt auf Veränderungen im sozialen und gesellschaftlichen Bereich. Hier seien die Erwartungen an das Plenum besonders hoch gewesen, wobei in der Presse insbesondere Lagerhaft, Haushaltsregistrierung, Privatisierung des Agrarlands und Ein-Kind-Politik hervorgehoben wurden.

Bislang konnten die Sicherheitsorgane Menschen ohne richterlichen Beschluß bis zu vier Jahre zur "Umerziehung" in Arbeitslagern einsperren. Das Plenum faßte den Beschluß, diese Lager aufzulösen, was überraschend zügig in allen Provinzen umgesetzt wurde. Der Referent bezweifelte jedoch, daß das wirklich so schnell möglich ist. Berichten zufolge fand man lokale Lösungen, wie beispielsweise mit "abnormalen Petitionären" umzugehen sei. Er vermute daher, daß nur dem Namen nach Alternativen geschaffen wurden, die de facto den Arbeitslagern ähneln.

Was die Haushaltsregistrierung betrifft, muß sich jeder Chinese an seinem Geburtsort registrieren lassen. Wenngleich inzwischen weitgehend Freizügigkeit herrscht, werden Migrantinnen und Migranten bei Lohnhöhe und Sozialleistungen benachteiligt, da sie nur ein befristetes Aufenthaltsrecht in den Städten haben. Mittlerweile sind 290 Millionen Menschen außerhalb ihres Herkunftsorts unterwegs, um zu arbeiten. Wolle man Ungleichheiten verringern und das Leben in den Städten attraktiver machen, müsse man mehr soziale Gerechtigkeit schaffen, so der Referent. Beschlossen wurde keine sofortige Aufhebung der Haushaltsregistrierung, sondern ein Dreistufensystem, das in Kleinstädten beginnt, sich in mittleren Städten fortsetzt und in einigen Jahren für die großen Städte gilt. Einwände erhoben vor allem die Lokalregierungen, die bei einer Gleichstellung der Migrantinnen und Migranten erhebliche Kosten auf sich zukommen sehen. Berechnungen zufolge erforderte die Gleichstellung aller Wanderarbeiterinnen und -arbeiter eine Summe von etwa 50 Milliarden Euro pro Jahr, wofür die Zentralregierung nicht aufkommen will.

Das Agrarland wird nicht privatisiert, sondern in Kollektiveigentum belassen. Allerdings sollen die Bauern bei Verkäufen durch die Lokalregierung stärker an den Einnahmen beteiligt werden. Auch soll es fortan nicht mehr so leicht sein, den Bauern das Land wegzunehmen. Zudem erhalten sie verbesserte Landnutzungsrechte, so daß sie diese beleihen oder auch verkaufen können. Einwände gegen diesen Beschluß haben wiederum die Lokalregierungen, die 80 Prozent der Ausgaben tätigen, aber nur 40 Prozent der Steuern beziehen. Sie erwirtschaften ein Drittel ihrer Einkünfte aus Landverkäufen, weshalb sie gegen deren Einschränkung opponieren.

Von der Ein-Kind-Familie gibt es längst viele Ausnahmen, ohne daß man ganz darauf verzichtet hätte. Da sie mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas assoziiert wird, scheut man sich, diese Erfolgsgeschichte zu beenden. Hinzu kommt, daß die Familienplanungsbehörden aufgelöst werden müßten, die beträchtliche Strafgelder eintreiben. Die demographische Entwicklung ist jedoch von einer rapiden Alterung gekennzeichnet, der Anteil der Arbeitskräfte ist seit zwei Jahren rückläufig und darüber hinaus sehen die Familien die Entscheidung über die Zahl der Kinder als Teil ihres Selbstbestimmungsrechts. Beschlossen wurde als eine weitere Ausnahme, daß Familien, in denen ein Elternteil aus einer Ein-Kind-Familie stammt, ein weiteres Kind haben können. Zuvor mußte das für beide Elternteile gelten. Der Beschluß betrifft lediglich 15 bis 20 Millionen Paare, von denen Umfragen zufolge die Hälfte ohnehin kein zweites Kind haben will.

Zusammenfassend wertete der Referent die Reformbeschlüsse als Signal der Bereitschaft, auf neue soziale Politiken umzuschwenken. Diese Fragen seien in jüngerer Zeit in den zentralen Gremien immer wieder aufgegriffen worden, doch gebe es starke Kräfte, die dem entgegenstehen. Viele lokale Kader versuchten zusammen mit örtlichen Unternehmen, ihre Interessen mitunter mafiaartig zu schützen. Sollen die Reformen nachhaltig durchgesetzt werden, müßten die Steuereinnahmen anders aufgeteilt werden und neue Anreize für Lokalkader geschaffen werden, nicht länger Wirtschaftswachstum oder Geburtenplanung an erste Stelle zu setzen. Hinsichtlich der Stabilität deuteten die Einzelheiten des Beschlusses darauf hin, daß man sich auf das traditionelle Verständnis versteift habe, Aufbegehren und Protest der Bevölkerung zu unterbinden.

Debatte auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Günter Schucher, Corinna Nienstedt, Margot Schüller, Nele Noesselt
Foto: © 2014 by Schattenblick

Kräfteverhältnisse in Partei und Gesellschaft

In der anschließenden Diskussion, die zunächst unter den Vortragenden und im zweiten Schritt unter Einbeziehung der Zuhörerschaft geführt wurde, ging Nele Noesselt auf die Kräfteverhältnisse in Partei und Gesellschaft ein. China halte am Prinzip der kollektiven Führung fest, so daß der Staatspräsident offiziell Primus inter pares sei. Die Schaltzentrale im Staat bleibe der Ständige Ausschuß des Politbüros. Allerdings finde eine gewisse Machtakkumulation in Händen Xi Jinpings statt, der neben seinen Führungsfunktionen auch über die Arbeitskreise und Kommissionen Einfluß ausübe. Als Sohn eines Altkaders gehöre er zu den sogenannten Prinzlingen, denen man besondere Privilegien nachsagt. Natürlich versuche die neue Regierung, ihre Anhänger in hochrangige Positionen zu bringen. Da Xi Jinping aber keiner Fraktionen eindeutig zuzuordnen sei, müsse er die verschiedenen Gruppen für sich gewinnen. Das mache ihn zu einem Kompromißkandidaten, der bei seinen Beschlüssen die unterschiedlichen Positionen zu berücksichtigen habe.

Bei den Fraktionen in der Partei handelt es sich um informelle Netzwerke der Interessenstrukturen. Der Streit zwischen den Neuen Linken und den Neoliberalen nahm im Zuge konkurrierender Kandidaturen und öffentlicher Debatten Kontur an, bis der führende Repräsentant der Neuen Linken, Bo Xilai, verschiedener Verbrechen angeklagt und aus dem Verkehr gezogen wurde. Seither hat die neoliberale Strömung eindeutig die Oberhand. Die Liberalisierer sehen die Notwendigkeit von Reformen, damit es nicht zu einer Umwälzung kommt. Allerdings können die Reformen auch dazu führen, daß die Liberalisierung der Kontrolle entgleitet. Das erklärt den Doppelcharakter der Reform, die Liberalisierung in bestimmten Bereichen mit einer starken Rezentralisierung in anderen verbindet.

Chinesische Historiker gelangen derzeit zu einer Neubewertung der Reformen in der späten Kaiserzeit. Diese wurde lange Zeit als ein erstarrtes System ohne Reformen dargestellt. Inzwischen heißt es, daß die späte Monarchie zusammengebrochen sei, weil sie Reformen geplant, aber nicht umgesetzt habe. Das ist gewissermaßen das Spiegelbild, mit dem man die Reformen in der Partei rechtfertigt. Allerdings könnte der Schritt, nicht nur Sonderwirtschaftszonen, sondern Freihandelszonen einzurichten, weitreichende Folgen für das ganze Land haben.

Die Referentin charakterisierte China als ein sehr flexibles autoritäres System, in dem im Zuge der Wirtschaftsliberalisierung eine ausgeprägte Dezentralisierung stattgefunden habe. Den lokalen Regierungen wurden viele Aufgaben zugewiesen, so daß ihr Einfluß gewachsen ist. Der Versuch, die Macht wieder stärker zu zentralisieren, erfolgt in einem Prozeß des Aushandelns, der beiden Seiten Kompromisse abverlangt. Nicht selten gehen die Provinzen strategische Partnerschaften ein, um ihre Interessen gegen die Zentralregierung durchzusetzen. Es handle sich definitiv um kein totalitäres, sondern ein offiziell sozialistisches, aber nicht machtzentralistisches System.

Auf die Frage, welche Prioritäten auf wirtschaftlicher Ebene die Reform setzen sollte, erwiderte Margot Schüller, der Staat sollte sich zurückziehen und die Anreize so gestalten, daß die Parteifunktionäre nicht mehr die Kontrolle, sondern die Freigabe als ihre wichtigste Aufgabe ansehen. Idealerweise müßten Staatsunternehmen ihre Monopolposition abbauen und die Privatunternehmen ungehinderten Zugang erhalten. Derzeit seien jedoch viele Sektoren durch den Richtlinienkatalog für ausländische Investitionen gesperrt oder nur teilweise geöffnet. Bei kapital- oder technologieintensiven Investitionen müssen Joint Ventures mit einem Zwangstransfer von Technologie abgeschlossen werden. Sie hielte es im Interesse deutscher Unternehmen für wünschenswert, die Reformen wie in der Freihandelszone Shanghai auf eine vollständige Öffnung auszurichten, so die Referentin.

Die Voraussetzungen für Innovation seien gegeben, da viele Studierende ins Ausland gehen und Forschungsansätze mit nach Hause bringen. Wichtig wäre jedoch auch Informationsfreiheit und ungehinderte Kooperation mit ausländischen Wissenschaftlern. Vor allem müßten die Unternehmen und nicht die staatliche Forschung Träger der Innovation sein. Neuere Berechnungen gingen davon aus, daß angesichts der gewachsenen Produktivität bei einem Wachstum von 5 Prozent ähnlich hohe Beschäftigungszahlen erzielt werden können wie heute. Wenn es sich um ein qualitatives Wachstum handelt, wären beispielsweise die ökologischen Folgekosten geringer, die man derzeit im Grunde abziehen müßte. China sei kein Billiglohnland mehr und lasse höhere Löhne zu. Wesentlich sei, daß das wachsende Einkommen stärker für den Konsum genutzt werden kann. Genau wie im Westen können auch die Politiker in China für eine Ordnung sorgen, die den Markt reguliert. Dieser Prozeß müsse nur entsprechend umgesteuert werden, was freilich schwierig sei.

Mit Blick auf die sozialen Folgen des Reformprozesses führte Günter Schucher vertiefend aus, daß nach der jüngst zu Ende gegangenen Sitzung des Nationalen Volkskongresses als wichtigste Ziele das Wachstum des Inlandsprodukts, die Kontrolle der Inflationsrate und Beschäftigung ausgewiesen wurden. Man rechne damit, daß jährlich 10 bis 13 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, um die neu auf den Arbeitsmarkt kommenden Menschen zu beschäftigen. Allerdings führe der demographische Wandel dazu, daß zunehmend weniger Arbeitsuchende nachrücken. Daher werde man Wachstum künftig nicht mehr so hoch hängen müssen und könne anderen Aspekten wie Innovation und Stärkung des Binnenkonsums auch unter sozialen Gesichtspunkten mehr Raum geben. Das Ziel für das BIP des nächsten Jahres heißt "ungefähr" 7,5 Prozent, und dieser Maßgabe schließen sich auch die Provinzen an, die vor zwei Jahren noch fast ausnahmslos ein zweistelliges Ziel angegeben hatten.

Im Reformdokument tauchen Begriffe wie soziale Ungleichheit oder sozialer Ausgleich nicht direkt auf. Es gibt aber einen Beschluß vom Februar 2013, der das Problem der sozialen Ungleichheit direkt anzugehen versucht. Auch nach offizieller Lesart ist der Unterschied zwischen Stadt und Land der gravierendste in China, wobei sich die Schere seit Mitte der 1990er Jahre ständig weiter geöffnet hat. 2006/2007 waren die städtischen Einkommen um das Dreieinhalbfache höher als die ländlichen. Seit Beginn der Krise 2007 flachte dieser Verlauf ab, so daß die Differenz gegenwärtig bei dem Dreifachen liegt. Wesentliches Moment ist dabei das jährliche Anheben der Mindestlöhne in den exportabhängigen Industrien der Ostprovinzen.

Um dem rapiden Alterungsprozeß der Gesellschaft mit einer sozialen Sicherung Rechnung zu tragen, müssen enorme Gelder aufgewendet werden. Kulturell gibt es zwar eine hohe Achtung vor dem Alter, die jedoch immer schwerer durchzuhalten ist. Wenige Junge müssen sich um viele Alte kümmern, obgleich sie an ihre eigene Karriere denken wollen oder müssen. Zudem reißt die Mobilität die Familien auch räumlich weit auseinander. Was die Menschen sparen, reicht statistisch gesehen gerade mal zwei Jahre. Derzeit gibt es unterschiedliche soziale Sicherungssysteme mit jeweils eigenen Gesetzen für die Städter, die Landbevölkerung und die Migranten. Diese drei Systeme sollen binnen weniger Jahre vereinheitlicht werden. Bislang sind jedoch nur 70 Prozent der Städter in einer Altersversorgung und nur 50 Prozent gesundheitsversichert. Auf dem Land werden höhere Zahlen erreicht, doch ist das Niveau der Versicherung dort weit niedriger.

Natürlich könne man drei Monate nach Verabschiedung eines derart weitreichenden Reformprogramms noch keine fundierten Aussagen über dessen tatsächliche Wirkung machen. Wesentlich sei ohnehin, daß sich wie nach 1978 auch jetzt viele Maßnahmen erst langfristig auswirken. Angesichts der vielen Hindernisse könnte es sich durchaus um einen realistischen Kurs handeln, der von einer stufenweisen Umsetzung ausgeht. Ob man jedoch für die Kader veränderte Anreize schaffen kann, die ihre Karriereaussichten neu strukturieren, bleibe eine offene Frage. Gelinge es nicht, soziale Stabilität wesentlich breiter als in der Vergangenheit zu fassen, sehe er schwarz für die Umsetzung dieses Reformprogramms, so der Referent.

Blick von hinten auf das Publikum - Foto: © 2014 by Schattenblick

Chinas Zukunft geht auch Hamburg an
Foto: © 2014 by Schattenblick

Widerstand gegen die Zumutungen des Lohnarbeitsregimes

Gegen das rigide Arbeitsregime in den gigantischen Fabrikkomplexen der Industrieareale, gegen Landenteignungen zugunsten wuchernder Megastädte und Unternehmensansiedlungen, gegen Umweltzerstörung und Korruption erwächst Widerstand. Während die Niederschlagung der Arbeiter- und Studentenproteste 1989 in Beijing westlicherseits die ideologiegetriebene Kritik an der Führung Chinas beflügelte, wird die Vielzahl regelmäßiger Proteste gegen die Zumutungen des Lohnarbeitsregimes, von dem auch deutsche Unternehmen profitieren, hierzulande kaum wahrgenommen. Mehr als 100.000 Streiks und andere Aktionen kollektiven Widerstands mit mehr als 300 Teilnehmern werden jährlich in China gezählt, und nicht selten haben die Belegschaften Erfolg wie etwa bei der großen Streikwelle in der Autoindustrie 2010. Die staatlichen Behörden halten sich mit repressiven Maßnahmen tendenziell zurück, da sich die KPCh rechenschaftspflichtig gegenüber dem Ungerechtigkeitsempfinden in der Bevölkerung sieht.

Ohne die Einführung sozialer Sicherungssysteme, die Stärkung von Arbeitsrechten und die Gewährleistung von Lohnsteigerungen, die mit den anwachsenden Lebenshaltungskosten Schritt halten können, ließe sich der Widerstand gegen Armut und Ausbeutung nicht im Zaum halten. So autoritär die Herrschaft der Partei sein mag, so sehr garantiert sie bislang noch eine relative soziale und ökonomische Sicherheit. Wenn die Regierungschefs, Vorstandsvorsitzenden und Banker westlicher Staaten auf eine immer größere Staatsferne und Liberalisierung des chinesischen Entwicklungswegs drängen, bedienen sie die Interessen des transnationalen Kapitals wie auch die Strategie einer inneren Delegitimation der KPCh. Sie legen jedoch die Lunte an ein Pulverfaß gesellschaftlicher Explosion, die einzudämmen sie am allerwenigsten willens und in der Lage sind.

Eingedenk der Fähigkeit chinesischer Arbeiterinnen und Arbeiter zur Selbstorganisation und zu kollektivem Widerstand ist dennoch nicht auszuschließen, daß ihre zahlreichen, doch bislang eher unverbundenen Aktionen zum Ausgangspunkt einer neuen Arbeiterbewegung werden, die sich mit Ausbeutung, Erniedrigung und Unterdrückung nicht mehr abfinden will. Dies könnte eine weitreichende Kurskorrektur begünstigen, die der Führung des Landes schlaflose Nächte bereitet, aber mehr noch zum Alptraum westlicher Kapitalinteressen wird, die China als Werkbank und Absatzmarkt brauchen wie die Luft zum Atmen.


Fußnote:

[1] BERICHT/017: Megacities - Marktaufbruch der Sieger und Verlierer (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0017.html

1. Mai 2014