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BERICHT/194: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (3) (SB)


Glaubensfragen zwischen Religionskritik und Befreiungskampf

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015



Beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Rojda Yildirim
Foto: © 2015 by Schattenblick

Rojda Yildirim hat für ihren Kampf zur Befreiung der Frauen vom Joch gesellschaftlicher Unterdrückung und für die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes in der Türkei zehn Jahre im Gefängnis gesessen. Ausgehend von der Frage, warum das westliche Modell des Säkularismus in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens durch die Rückbesinnung auf religiöse Werte immer mehr verdrängt, der Laizismus der Türkei unter Erdogan zunehmend aufgeweicht und in Syrien und im Irak das im Grunde feudalrechtliche Kalifat durch den Islamischen Staat wiedereingeführt wird, beschäftigte sie sich in ihrem Vortrag mit der Bedeutung der Religion in der Zivilisationsgeschichte des Menschen.

Etwas befremdlich für die Zuhörer im Audimax, für die die Restauration der Religion gleichsam einen Bruch mit der linken aufklärerischen Tradition darstellt, geißelte sie keineswegs die verstärkte Hinwendung der Menschen des islamischen Kulturkreises zur Religiosität, wie man es von einer Streiterin der Frauenemanzipation vielleicht erwartet hätte. Weder kam sie mit dem Schwert, noch stellte sie Vernunft und Religion, wie in bürgerlich etablierten Kreisen üblich, in einen unversöhnlichen Gegensatz, um mit dem Kehricht des Rückständigen zugleich auch den Gottesglauben, den Sinn der Gebote bzw. im islamischen Kontext den Weg des Propheten Mohammed als Relikte unterwürfiger Geisteshaltungen zu entsorgen. Statt dessen stellte sie sich couragiert auf den Standpunkt, daß ein Diskurs über rituelle Praktiken und die Orientierung an religiösen Werten nichts anderes bedeute, als sich mit dem Leben der Menschen im Spannungsfeld zwischen kultureller Identität und den Herausforderungen der Moderne ebenso kritisch wie sachlich zu konfrontieren. Begriffe man die Religion zudem als eine frühe Form der Auseinandersetzung des Menschen mit den Widersprüchen einer ihm fremd und unerklärlich gegenüberstehenden Wirklichkeit, so ginge der Stoß, der Religion fehle es aufgrund ihrer Nähe zu primitiven Glaubensvorstellungen an fundierter Rationalität und praktischem Nutzen, ins Leere.

Daß Religion in sogenannten aufgeklärten Kreisen prinzipiell als etwas Negatives, gewissermaßen als rückständige und antiemanzipatorische Kraft verstanden wird, hat in Deutschland Tradition. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bedienten sich vor allem Liberale und Nationale des Antiklerikalismus als Waffe gegen die sich formierende sozialistische Arbeiterbewegung und deren klassenkämpferische Perspektive. Den katholischen Süden als ungebildet, fromm und aufklärungsfeindlich wie überhaupt den Katholizismus ganz allgemein als Hemmstein für Fortschritt, Liberalismus und moderne Kultur zu stigmatisieren, sollte vor allem die Masse des Proletariats aus der politischen Bühne herausdrängen. Der damit lancierte Spaltungsversuch der Arbeiterbewegung, der sich im Gestus einer fortschrittlichen Denkungsart als Religionskritik maskiert hatte, zielte in erster Linie auf die Beseitigung aller Hindernisse für das kapitalistische Vormachtstreben auf allen gesellschaftlichen Ebenen.

Zwar sahen Anarchisten und Atheisten aller Couleur in der Religionskritik vor allem eine Kritik an der Kirche als gesellschaftlichem Machtfaktor, aber sie machten sich dennoch die Mühlen der liberalen Propaganda zunutze, um ihrer erklärten Gegnerschaft zum Papstum Gewicht zu verleihen. Dem entgegen waren Karl Marx und Friedrich Engels nicht bereit, die Arbeiterklasse an konfessionellen und religiösen Linien aufbrechen zu lassen, weil sie die religionskritischen Auswüchse ihrer Zeit auf den politischen Nenner zurückführten und als Ausdruck eines naiven kleinbürgerlichen Defätismus rundweg ablehnten. Daß Liberale die Religionshetze für sich instrumentalisierten, um ganz andere Motive als die der Aufklärung zu verwirklichen, verwundert nicht, wenn man bedenkt, daß ihr Klassenprivileg ganz entschieden von der Ausbeutung der Arbeitskraft abhing. Für das Ziel einer schrankenlosen Ökonomisierung der Gesellschaft mußte zunächst die bestehende Kultur samt ihrem Rückhalt in der Religion entwurzelt und den Interessen industrieller Verwertungsdynamik angepaßt werden. Religiöse Feiertage und ein christliches Bekenntnis zu Nächstenliebe und sozialer Mildtätigkeit standen schon damals dem Geschäftssinn der vornehmlich protestantischen Kapitalistenklasse im Wege. Ungeachtet dessen, daß die Papstkirche Sozialismus und Kommunismus als Teufelswerk bis aufs Blut bekämpfte und dies desto aggressiver tat, als die eigene Vormachtstellung nach der militant antiklerikalen Zeit wieder restauriert wurde, versammelten sich unter ihrem Dach immer auch Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit von den Armut zur Tugend erhebenden Franziskanern, den sozialreformerischen Jesuiten bis zur modernen Befreiungstheologie. Dabei stellte die katholische Sozialethik auch eine Reaktion auf das Vordringen klassenkämpferischer Bewegungen dar, deren Anliegen, die Eigentumsfrage schon im Diesseits zu stellen, die Hoffnung auf Erlösung im Jenseits wirksam unterminierte.


Podium mit David Harvey, Thomas Jeffrey Miley und Rojda Yildirim - Foto: © 2015 by Schattenblick

Keine Berührungsängste mit kontroversen Fragen
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Religionskritik ist auch immer eine Frage des Zeitpunkts. Sie kommt und geht mit dem Wandel der gesellschaftlichen Prioritäten. Mal ist sie, wenn konservative Bastionen erstürmt werden sollen, eine schicke Geisteshaltung, mal hält man sich, wenn die Werte des christlichen Abendlandes gegen die angebliche Islamisierung Europas in Stellung gebracht werden, damit bescheiden zurück. Wenn der millionenfache Protest französischer Katholiken gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe aufbrandet, wenn Würdenträger der Kirche gegen die Pluralität im Sexualkundeunterricht wettern oder US-amerikanische Missionare in Uganda die Todesstrafe für Homosexualität propagieren, dann rücken auch christliche Kirchen ins Visier zivilgesellschaftlicher Kritik. Demgegenüber hat der antimuslimische Rassismus zu allen Jahreszeiten Konjunktur, ist er doch integraler Bestandteil kolonialistischer und imperialistischer Legitimationsstrategien.

Gott läßt sich ebensowenig verbieten wie verordnen, und wenn religiöse Gebote individuelle Freiheitsrechte einschränken, dann unterwirft der antiklerikale Liberalismus das Individuum seinerseits einer Vielzahl gesellschaftlicher Konditionen und sozialer Notstände von ganz materieller Art. Im Zentrum jeder Aufklärung steht die Emanzipation des Individuums nicht allein von der Religion, sondern von jedweder Fessel, die selbständiges Denken verhindert. Yildirim machte dennoch unmißverständlich klar, daß vor allem die Frauen im Namen der religiösen Vorschriften am meisten und nachhaltigsten unterdrückt werden. Sie sind die Leidtragenden einer in Religion und Gottgläubigkeit verwurzelten Hierarchie der Geschlechter. Wenn man die Religionsgeschichte bewerte, dürfe man ihr zufolge jedoch nicht den grundsätzlichen Fehler machen und Ursache und Wirkung miteinander verwechseln. Zur Aufklärung gehört eben auch, daß die Entstehung der Religion in der frühen Phase der Ausbildung sozialer Strukturen eine gesellschaftliche Notwendigkeit gewesen sei. Dies zu wissen und im selben Gedankengang nicht zu leugnen, daß Religion als Mittel des Machtmißbrauchs instrumentalisiert werde, mache erst den Kopf frei für weiterführende Fragen.

So würde es nicht weiter helfen, die Religion als ein Übel zu verwerfen, denn für sich genommen sei nicht der Glaube das eigentliche Problem. In diesem Sinne machten es sich die Sozialwissenschaften zu leicht, wenn sie in der Religion einen immanenten Mechanismus zur Unterdrückung feststellten und damit im Grunde den Blick des säkularen Staates reflektierten, der in der Religion stets einen Konkurrenten um Macht und Einfluß gesehen hat. Daß dies mehr mit dem liberalen Denken zu tun hat als mit den Mustern religiöser Weltanschauung, war ihr wichtig hervorzuheben. Denn so leichtfertig es ist, die Religion als unvernünftig und reaktionär zu bezeichnen, so schwerwiegend ist es im umgekehrten Sinne, im Gottesglauben das einzig Wahre zu postulieren. Nach Ansicht Yildirims fußten beide Gegensätze auf dem Boden ein und derselben dogmatischen Geisteshaltung, die in der Abwertung der Gegenseite die eigene Behauptung zu legitimieren versucht. Rechthaberei nütze keinem Menschen und vergifte von vornherein jede sachliche Debatte.

Zwar habe der Marxsche Ausspruch, daß Religion Opium für das Volk sei, durchaus seine Berechtigung aus Sicht einer Analyse historischer und gesellschaftlicher Prozesse, aber die Verkürzung auf eine formelhafte Sentenz birgt dennoch die Gefahr, daß die Kritik auf unfruchtbaren Boden fällt. Solange der Glaube an eine höhere Welt oder unverhandelbare Prinzipien fest in den Menschen verwurzelt ist, muß die Stigmatisierung der Religion auf seiten der Aufklärer zu Verallgemeinerungen und zu trotziger Gegenwehr bei den Gläubigen führen. Yildirim machte darauf aufmerksam, daß die Religion im Kontext ihrer gesellschaftlichen Genese durchaus zum besseren Verständnis der Welt beigetragen und bei der Ausbildung humanistischer Ideale eine wichtige Rolle gespielt habe. Lange vor der Entstehung der Klassengesellschaft, als die Menschen aus der archaischen Not heraus, sich gegen Naturgewalten und Gefahren schützen zu müssen, ein Zusammenleben organisierten, habe die Religion versöhnend auf die Rivalitäten und Motive der Rache gewirkt, damit ein Gemeinschaftssinn überhaupt entstehen konnte. Die Referentin verwies in diesem Sinne auf den animistischen Glauben und die Totemkultur, die den Menschen als Teil der Natur begreifen und damit einen pfleglichen Umgang mit den Ressourcen und Lebensvoraussetzungen praktizieren, was man durchaus als ökologischen Ansatz verstehen könnte. Auch bei den Clans und anderen frühen Gesellschaftsformationen habe die Religion egoistische Bereicherung einzelner auf Kosten der übrigen Mitglieder stets in Grenzen gehalten.


Engagierter Beitrag der Referentin - Foto: © 2015 by Schattenblick

Im Spannungsfeld zwischen kultureller Herkunft und gesellschaftlicher Zukunft
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Die Referentin betonte in diesem Zusammenhang, daß der Mensch sowohl ein materielles wie auch metaphysisches Wesen sei. Aufgrund dessen müßte die Beziehung zwischen Mensch und Religion auf der Basis von Vernunft geleiteter Argumente neu bewertet werden. Vor allem jedoch müsse man aus heutiger Sicht hinterfragen, ob Religionen in der Menschheitsgeschichte tatsächlich unvermeidlich zu Konflikten, Kämpfen oder gar Kriegen geführt haben und der essentielle Grund für Unterdrückung, Vertreibung und Zerstörung waren. Ihrer Auffassung zufolge habe die Religion an und für sich keinen Anlaß zu Massakern und Verwüstungen gegeben, da sich ein Glauben nicht von vornherein als Gegenentwurf und in Abgrenzung zu anderen Glaubensformen definiere. Die religiöse Identität basiere vielmehr auf friedvollem Umgang und Toleranz gegenüber Menschen mit anderen Ansichten über die Welt, auch wenn im Namen der Religion und durch ihre Instrumentalisierung im Interesse der Herrschenden vielfach die schlimmsten Greuel und Exzesse begangen wurden.

So sei der Glaube in vorzivilisatorischen Lebensgemeinschaften nicht konfliktträchtig gewesen, sei aber im Zuge der Herrschaftsentwicklung und der Aufspaltung der Menschen in Klassen und Hierarchien zu etwas mißbraucht und degradiert worden, was nicht mehr der Suche nach der Wahrheit oder dem Umgang mit dem Göttlichen verpflichtet war. Am religiösen Fundamentalismus und Aufhetzen der Religionen gegeneinander hätten in erster Linie die Herrschenden ein Interesse, um darüber die Kontrolle über die Gesellschaft besser ausüben zu können. In dem Maße, wie Gott in den Himmel gehoben wurde, sei auch die Herrschaft über den Menschen vertieft und der Mensch de facto zum Sklaven herabgestuft worden. Das Festzurren der Unterschiede in Rasse, Religion, Herkunft und gesellschaftlichem Stand sei eine Grundvoraussetzung für das Ausüben von Macht und Herrschaft.

Wer den Glaubensinhalten einer Religion die Bedeutung der Ausgrenzung gebe, schlage sich auf die Seite der Herrschenden. Erst mit dem Gegensatz kam die Herrschaft. Eine frühe Form dessen war das Patriarchat, das vor allem die Frauen versklavt hat. Der Bau der Pyramiden im alten Äygpten hatte der Referentin nach keine andere Bewandtnis, als die Frau an den Rand der Gesellschaft zu drücken und noch besser ausbeuten zu können. Die Gottkönige sind Ausdruck dieser Entwicklung zum Staat und der Vertiefung der Ausbeutung. Die Gründung der Staaten wird gerne an den Anfang der Geschichte gestellt, aber es gab auch eine Zeit davor. Erst wenn dies vergessen gemacht werde, entstünde der Eindruck, daß der Staat immer schon existiert habe. Der Glaube sollte für die Menschen und nicht für die Herrschenden sein, die sich als das Gesicht Gottes auf Erden präsentiert und selbst heiliggesprochen hätten. Die in linken Kreisen neben dem Vorwurf der Irrationalität erhobene Kritik, daß die in den Religionen praktizierte Disziplinierung der Gläubigen einen gleitenden Übergang geschaffen habe zum Herrschaftsinstrument des Staates gegenüber seinen Untertanen, entbehre daher nicht einer gewissen Stimmigkeit, wenngleich der Urquell dessen, was später in der Zivilisationsgeschichte Religion genannt wurde, möglicherweise ein anderer war.

Die Kriege, die im Namen des Glaubens zum Beispiel im Mittleren Osten geführt werden, dienten der Zementierung von Ausbeutung und Unterdrückung und in letzter Konsequenz dem Kapitalismus. Die kapitalistische Moderne instrumentalisiere die Religion, um auch das Metaphysische am Menschen und damit die Möglichkeit, über sich selbst hinauszuwachsen, dem Verwertungsprozeß zu unterwerfen. Der Islamische Staat (IS) betrachte sich zwar als die radikalste Form des Islams, aber er sei nur der Ausdruck des kapitalistischen Systems im Mittleren Osten. Religion ist eine Kultur, religiöser Fundamentalismus dagegen ein Mittel zur Herrschaft. Wer sich berufen fühle, die demokratische Moderne zu verteidigen, müsse gegen den religiösen Fundamentalismus kämpfen, und mehr noch gelte dies für die Frauen, die unter dem Fundamentalismus am meisten litten. Die Frauenbefreiung und der Aufbau der demokratischen Moderne sind in ihrer Zielsetzung nicht verschieden. Der Kampf der Frauen für eine geschlechterbefreite Gesellschaft könnte nach Ansicht Rojda Yildirims, die ein heikles, weil vorurteilsbeladenes Thema mit viel Umsicht referiert hat, zu einer Kraft werden, die alle reaktionären und patriarchalen Formen im Zusammenleben der Menschen aufhebt.

(wird fortgesetzt)


Bisherige Beiträge zum Hamburger Kongreß "Die Kapitalistische Moderne herausfordern II - kapitalistische Moderne sezieren - demokratischen Konföderalismus aufbauen" vom 3. bis 5. April 2015 im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/190: Kurdischer Aufbruch - fortschrittlicher Beginn (SB)
BERICHT/192: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (1) (SB)
BERICHT/193: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (2) (SB)
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2. Juni 2015


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