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BERICHT/211: Amerikas Machenschaften - außer Kontrolle ... (SB)


Ex-CIA-Analysten zur Rolle der Geheimdienste in der Außenpolitik

Ray McGovern und Elizabeth Murray am 14. September in Hamburg


Anfang 2003 wurde in den USA die Gruppe Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS) ins Leben gerufen, um die Öffentlichkeit vor dem Mißbrauch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse durch die Regierung von US-Präsident George W. Bush zwecks Rechtfertigung des bevorstehenden Einmarsches in den Irak zu warnen. In ihrem allerersten Memorandum wiesen die "Nachrichtendienstveteranen für den gesunden Menschenverstand" auf inhaltliche Mängel bei der berüchtigten Präsentation hin, mit der US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York die Welt im allgemeinen und die amerikanische Bevölkerung im besonderen über die angebliche Bedrohung durch das Regime Saddam Husseins im Irak zu täuschen versucht hatte. Damals prognostizierten die VIPS richtig, daß ein vom Westen mit militärischen Mitteln erzwungener Machtwechsel in Bagdad Chaos im Nahen Osten verursachen und das Problem des "islamistischen Terrorismus" um ein Vielfaches verschlimmern würde.

Seitdem haben die VIPS durch neue aufsehenerregende Memoranden angesichts weiterer akuter Kriegsgefahren infolge manipulierter Geheimdienstinformationen immer wieder Alarm geschlagen, wie beispielsweise im August 2010 vor einem israelischen Überraschungsangriff auf die iranischen Atomanlagen oder im September 2013 vor einer Strafaktion des Pentagons gegen die Syrische Arabische Armee (SAA) wegen eines angeblichen Chemiewaffeneinsatzes in Ghouta, einem von Rebellen kontrollierten Stadtteil von Damaskus. Ihre bislang 38 öffentlichen Briefe haben die VIPS in der Regel an Amtsträger in den USA - sei es im Weißen Haus, im Kongreß, in den Ministerien oder Geheimdiensten - gerichtet. Zur einzigen Ausnahme kam es im August 2014, als sich die Gruppe speziell an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Ermahnung wandte, auf dem NATO-Gipfel im September im walisischen Cardiff gegenüber westlichen Satellitenphotos, die eine angeblich geplante Invasion russischer Bodentruppen im Osten der Ukraine belegen sollten, Skepsis walten zu lassen.


Die beiden Ex-CIA-Agenten sitzen nebeneinander am Tisch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ray McGovern und Elizabeth Murray
Foto: © 2015 by Schattenblick

Im Rahmen einer mehrtägigen Deutschland-Rundreise, die von der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) organisiert wurde, hielten die beiden VIPS-Mitglieder Ray McGovern und Elizabeth Murray am 14. September an der Universität Hamburg einen Vortrag über "Die Rolle von Geheimdiensten in der Außenpolitik". McGovern, der von 1963 bis 1990 als Analytiker bei der CIA arbeitete und zuletzt das Daily Presidential Briefing (DPB) erstellt und den Vorsitz bei der Zusammenfassung sogenannter National Intelligence Estimates (NIE) geführt hatte, hat die VIPS 2003 gegründet. Murray arbeitete 27 Jahre lange bei der CIA, zuletzt als Nahost-Expertin beim National Intelligence Council (NIC), bis sie Ende der Nullerjahre ausstieg und sich der VIPS anschloß. Als Gastgeber der gutbesuchten Veranstaltung in der Edmund-Siemers-Allee I - West fungierten Dietrich Meyer-Ebrecht vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) und Michael Brzoska vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). In ihren Begrüßungsworten hoben die beiden Professoren die zunehmende Bedeutung der Informationstechnologie (IT) in der modernen Kriegführung hervor wie beispielsweise beim Einsatz von Aufklärungs- und Kampfdrohnen oder bei der Anwendung von Cyberwaffen und Hackerangriffen.

Eingangs kam McGovern auf das aktuell alles überragende Thema der Abertausenden Flüchtlinge zu sprechen, die aus dem Nahen Osten und Nordafrika - entweder über den Balkan oder das Mittelmeer - nach Europa kommen. Natürlich stehe das Problem zur Bewältigung der Flüchtingskrise im Vordergrund der gesellschaftspolitischen Debatte; gleichwohl müsse man die Frage klären, wie der gigantische Menschenstrom entstanden sei, so McGovern. Als Hauptursache sieht er die Kriege in Syrien und im Irak. Aus diesem Grund müßten deren Ursprünge untersucht und verstanden werden, sonst befasse man sich lediglich mit Symptomen. McGovern führte die aktuelle Krise im Nahen Osten auf die Entscheidung der USA und Großbritanniens zurück, 2003 in den Irak einzumarschieren. Vordergründig sei es um Massenvernichtungswaffen und Terrorismus gegangen, dahinter steckte jedoch die Absicht, Saddam Hussein zu stürzen und einen "Regimewechsel" in Bagdad herbeizuführen. Jene hochumstrittene Entscheidung Washingtons und Londons sei ein Paradebeispiel dafür, wie westliche Politiker mittels Lügen, Täuschung und Propaganda einen Krieg vom Zaun brechen, den sie aus ganz anderen als den von ihnen behaupteten Gründen führen wollten, so McGovern.

Der ehemalige Sowjetanalytiker, der in den Dienst der CIA trat, als John F. Kennedy noch Präsident der Vereinigten Staaten war, berichtete rückblickend auch von Spannungen im US-Sicherheitsapparat während des Vietnamkrieges. Damals glaubten die Generäle, massive Bombenangriffe auf den Ho-Chi-Minh-Pfad würden ausreichen, um den Nachschub für die Aufständischen im Süden zu unterbinden und den Krieg zu gewinnen. Die Geheimdienstanalytiker hielten diese Strategie jedoch für völlig aussichtslos, denn der Ho-Chi-Minh-Pfad sei keine reguläre Straßenverbindung, sondern eher eine ungenaue Beschreibung diverser Nachschubrouten zwischen Nord- und Südvietnam über den Osten Kambodschas gewesen. Hinzu kommt, daß die US-Militärs den Konflikt als Teil einer Konfrontation mit dem weltweiten Kommunismus - Stichwort: Dominotheorie - auffaßten und nicht begriffen, daß die Vietnamesen einen antikolonialen Befreiungskampf führten. Ähnlich wie damals in Vietnam haben die CIA-Drohnenangriffe der letzten Jahre in Pakistan, Somalia, Jemen, Irak, Syrien und Libyen gezeigt, daß solche Bewegungen nicht aus der Luft zu bezwingen sind.

Als die CIA 1947 auf Anordnung von Präsident Harry Truman gegründet wurde, ging es ausdrücklich darum, einen erneuten Überraschungsangriff ähnlich dem der kaiserlichen japanischen Marine auf Pearl Harbor sechs Jahre zuvor zu verhindern. Darum sollten die Informationen der US-Nachrichtendienste aus dem In- und Ausland "zentralisiert" gebündelt und gegeneinander ausgewertet werden. Laut McGovern kam es damals jedoch zu einem schwerwiegenden Strukturfehler, weil man es nicht beim Aufbau einer dem Präsidenten unterstellten Behörde für Nachrichtenanalyse beließ, sondern innerhalb der neuen Institution auch eine Abteilung für Sonderoperationen schuf.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wußte man in Washington zunächst nicht, was mit jenen Agenten/Soldaten geschehen sollte, die während des Krieges als Mitglieder des Office of Strategic Services (OSS) Aktionen hinter feindlichen Linien unternommen hatten. Da man Leute brauchte, die über Kontakte im kommunistischen Machtbereich und in der Dritten Welt verfügten, um mißliebige Regierungen stürzen zu können, brachte man die alten OSS-Akteure in der CIA-Operationsabteilung unter. Traditionell wird dieser Teil der CIA von der analytischen Abteilung strikt getrennt gehalten. Erst dieser Tage gibt es Bemühungen, beide im Rahmen der sogenannten "Mission Centres" zusammenzulegen, was McGovern für einen Fehler hält, weil die Analytiker dadurch unter Druck geraten, Lageberichte nach den Wünschen der Operationsleute zu erstellen. Wie sich so etwas auswirken kann, zeigte sich am Verhalten von George Tenet, der in den Jahren 2002 und 2003 von George W. Bush, Vizepräsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld praktisch gezwungen wurde, Gründe für den geplanten Krieg gegen den Irak zu erfinden.


Elizabeth Murray am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Elizabeth Murray
Foto: © by 2015 by Schattenblick

An dieser Stelle übernahm Elizabeth Murray das Wort, weil sie damals im Regierungsdienst stand und Zeugin der Geheimdienstmanipulationen wurde. Als Leiterin der Nahost-Abteilung beim National Intelligence Council wurde sie von Rumsfelds Vize Paul Wolfowitz 2002 ersucht, Hinweise auf eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und Osama Bin Ladens Al Kaida zu finden. Murray und ihre Mitarbeiter haben alle ihnen zur Verfügung stehenden Materialien, darunter auch solche aus arabischen Medien, durchsucht, ohne fündig zu werden. Dennoch bedrängte sie Wolfowitz über Wochen immer wieder mit demselben Anliegen, was Murray als "politischen Druck" empfand. In der Annahme, daß man beim Verteidigungsministerium etwas wußte, wovon sie keine Kenntnis hatte, bat Murray schließlich darum, die Gründe für den Verdacht bzw. dessen Quellen zu erfahren. Mit der Auskunft hätte sie ihre Suche präzisieren können. Doch auf ihre Anfrage hat sie keine Antwort erhalten, was Murray zu der Annahme verleitete, daß der Verdacht völlig unbegründet war. Dafür spricht auch die Tatsache, daß Bush, Cheney, Rumsfeld und Tenet gefangengenommene Islamisten wie Ibn Sheich Al Libi so lange foltern ließen, bis sie aus purer Verzweiflung Geschichten über eine Zusammenarbeit zwischen Bagdad und Al Kaida auf dem Feld der Massenvernichtungswaffen erfanden. Nach der späteren Auslieferung an Libyen kam Al-Libi dort 2009 unter mysteriösen Umständen im Gefängnis ums Leben - vermutlich, damit er sein Wissen über das CIA-Folterregime nicht preisgeben konnte, so Murray.

Die falschen Geständnisse, die durch schwerste, monatelange Mißhandlung aus Al-Libi und dem Saudi Abu Zubaidah herausgepreßt wurden, bildeten die Grundlage für jenen "finsteren Nexus" zwischen Saddam Hussein und dem Al-Kaida-"Netzwerk" Bin Ladens, von dem General a. D. Colin Powell im Februar 2002 vor dem UN-Sicherheitsrat fabuliert hatte. McGovern erzählte dann, wie er Verteidigungsminister Rumsfeld bei einem Auftritt in Atlanta 2006 mit seiner Behauptung vom September 2002, die CIA verfüge über "kugelsichere Beweise" für die Zusammenarbeit zwischen dem irakischen Geheimdienst und Al Kaida, konfrontierte. Seine selbstsichere Formulierung konnte der Pentagon-Chef peinlicherweise genauso wenig erklären wie seine unsinnige Äußerung Ende März 2003 im US-Fernsehen, man wisse, wo Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen versteckt seien, nämlich "im Gebiet um Tikrit und Bagdad und im Osten, Westen, Süden und Norden irgendwie".

Im letzteren Fall hatte Rumsfeld ursprünglich auf Aufnahmen von US-Spionagesatelliten verwiesen. Dies bewies McGovern, daß eine ergebnisoffene Analyse solchen Bildmaterials unerläßlich sei. Leider sei dies bei der CIA nicht mehr zu erwarten. Daran sei nach Ansicht McGoverns der frühere CIA-Chef John Deutsch schuld. In der Hoffnung, von Bill Clinton zum Pentagon-Chef ernannt zu werden, habe Deutsch, so McGovern, erlaubt, daß die CIA-Abteilung für Bildauswertung mit ihren rund 800 Mitarbeitern dem Verteidigungsministerium unterstellt wurde. Dort geriet sie ab 2001, also noch in der Amtszeit von George W. Bush, unter die Aufsicht von James Clapper, dem Leiter der National Geospatial-Intelligence Agency (NGIA). In dieser Position hat Clapper wissen müssen, daß es keine Massenvernichtungswaffen im Irak gab. Dennoch hat er diese Erkenntnis, welche der Propaganda der Bush-Regierung widersprochen hätte, unter Verschluß gehalten. Später hat Clapper behauptet, die irakischen Massenvernichtungswaffen seien kurz vor dem angloamerikanischen Einmarsch nach Syrien ausgelagert worden.

Für seine Dienste bei der Wahrheitsverdrehung wurde Clapper 2006 von Bush zum Chef des Militärgeheimdienstes und 2010 von Obama sogar zum Director of National Intelligence (DNI) ernannt. Als US-Geheimdienstkoordinator hat Clapper bekanntlich am 12. März 2013 bei einer Anhörung vor dem Geheimdienstausschuß des Senats und damit unter Eid auf die Frage, ob die National Security Agency (NSA) "Daten über Millionen oder Hundertmillionen Amerikaner" sammle, gelogen, als er erklärte: "Nicht bewußt." Als wenige Wochen später Edward Snowden das wahre Ausmaß der NSA-Spionage publik machte, sah sich Clapper bloßgestellt. Bis heute ist sein beispielloser Akt antidemokratischen Fehlverhaltens jedoch ungeahndet geblieben, stellte McGovern deprimiert fest. McGovern kritisierte den früheren NSA-Chef Michael Hayden ebenfalls aufs schärfste. Der einstige Vier-Sterne-Luftwaffengeneral habe nicht nur durch die massive Ausweitung der NSA-Spionagetätigkeit nach dem 11. September 2001 die verfassungsmäßigen Rechte der US-Bürger mit Füßen getreten, sondern dies nach der Bekanntmachung Ende 2005 durch James Risen in der New York Times durch die abenteuerliche These, die 9/11-Flugzeuganschläge hätten "alles verändert", zu rechtfertigen versucht.

Hayden habe später als CIA-Direktor für die US-Geheimdienste reklamiert, mittels der großflächigen Ausspähung 54 "Terrorkomplotte" aufgedeckt zu haben. Bei näherer Betrachtung habe dies nur in einem einzigen Fall gestimmt, nämlich bei der Verhaftung eines Taxi-Fahrers in San Diego, der Geld an einen Verwandten in Somalia, der mit der dortigen Al-Shabaab-Miliz in Kontakt stand, überwiesen hatte. Das Sammeln und die Erfassung von Daten verhindere kein Verbrechen, sondern trage bestenfalls zu dessen Aufklärung bei; das habe man spätestens bei der Einführung des Fingerabdrucks durch FBI-Chef J. Edgar Hoover gelernt, gab McGovern zu bedenken.

Er bedauerte, daß der Geheimdienstapparat in den USA von einem "Haufen Krimineller" geführt werde, die vor Folter nicht zurückschreckten. In den letzten Jahren habe es immerhin einige aufrechte Datenanalysten gegeben, die sich dem Trend zum Polizeistaat widersetzt haben. Dazu zählte McGovern Edward Snowden sowie die beiden früheren NSA-Abteilungsleiter Thomas Drake und William Binney. Letztere hätten wegen des Vorwurfs der Korruption bei der NSA schwere staatliche Drangsalierung erleiden müssen. Drake und Binney hatten in den neunziger Jahren intern bei der NSA ein Spionageprogramm namens ThinThread entwickelt, das größere Datensätze nach verdächtigen Inhalten durchsucht, ohne jedoch die Privatsphäre von Normalbürgern zu verletzen. Obwohl ThinThread leistungsstark und extrem preiswert war, hat sich die NSA-Führung nach dem 11. September 2001 für das Programm Trailblazer entschieden, das die Privatsphäre nicht schützt und an deren Entwicklung Boeing, SAIC und Booz Allen Hamilton beteiligt waren. 2006 mußte Trailblazer trotz eines Milliardenaufwands aufgegeben werden. Als der Skandal im selben Jahr über die Presse an die Öffentlichkeit durchsickerte, haben FBI und Justizministerium gegen Binney und Drake wegen Geheimdienstverrats ermittelt. Drake drohten 30 Jahre Gefängnis. Die Anklage wurde 2011 jedoch überraschend fallengelassen.


Ray McGovern am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ray McGovern
Foto: © 2015 by Schattenblick

Drake und Binney sind 2011 bzw. 2015 mit dem von McGovern kreierten Sam Adams Award für Integrität im Geheimdienstbereich ausgezeichnet worden. Beide Whisteblower waren für Edward Snowden ein Vorbild. Die Art und Weise, wie die Behörden mit Drake umgingen, veranlaßte Snowden 2013 dazu, sich nach seiner spektakulären Enthüllung über die NSA-Umtriebe vorerst nach Hongkong abzusetzen. Gleichwohl konnte sich Snowden nur mit Hilfe von Julian Assanges Wikileaks-Organisation der Verhaftung in der ehemaligen britischen Kronkolonie entziehen. Bereits 2010 hatte Assange, der aus Angst vor einer Auslieferung an die USA seit mehr als drei Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London festsitzt, den Sam Adams Award erhalten. 2013 wurde er an Edward Snowden verliehen. Im selben Jahr sind McGovern und Drake nach Moskau gefahren, um Snowden die Auszeichnung zu überreichen. Sie waren damit die ersten Amerikaner, die den Freiheitshelden in seinem unfreiwilligen russischen Exil besuchten. Snowden soll über die Begegnung mit den Männern, deren Mut er seit Jahren bewundert hatte, sehr gerührt gewesen sein.

Im Anschluß an die Präsentation wollte ein Besucher der Veranstaltung zunächst wissen, ob das während der Bush-Ära zerstörte Vertrauen in die Arbeit der Geheimdienste unter Obama wiederhergestellt worden sei und welche Bedeutung dem Atomabkommen mit dem Iran zukomme. Dazu meinte McGovern, die Vereinbarung sei wichtig, schließlich seien nicht nur die USA und der Iran, sondern auch die anderen vier UN-Vetomächte China, Frankreich, Großbritannien, Rußland sowie Deutschland daran beteiligt. McGovern bezeichnete die National Intelligence Estimate (NIE) als Schlüsselelement auf dem Weg zur Beilegung des Atomstreits mit dem Iran. Darin wurde festgehalten, daß die Iraner bereits 2003 alle militärisch relevanten Forschungsaktivitäten eingestellt hatten. Dazu sei es nur gekommen, weil Thomas Fingar, der frühere Chef des Nachrichtendienstes des State Departments, des Bureau of Intelligence and Research (INR), nach der Irak-Blamage darauf bestand, keinerlei politische Einmischung zuzulassen. Drei Wochen vor der Veröffentlichung jener NIE hatte Bush behauptet, die Iraner seien "an der Schwelle" zum Bau einer eigenen Atombombe. In seinen 2010 erschienenen Memoiren "Decision Points" räumte er ein, daß die NIE ihn daran gehindert habe, gegen den Iran militärisch vorzugehen. Seitdem ist die Feststellung der NIE, der Iran betreibe keine Atomwaffenforschung, jedes Jahr erneuert worden. Dies zeige, so McGovern, wie ehrliche und objektive nachrichtendienstliche Arbeit zur internationalen Entspannung beitragen könne. Elizabeth Murray erklärte, das Atomabkommen mit dem Iran sei um so erstaunlicher, wenn man die Stärke derjenigen Kräfte in den USA bedenke, die "die Mullahs" in Teheran weiterhin aus dem Weg räumen wollen. Dazu zählte sie die konservativen Medien sowie den militärisch-industriellen Komplex.

Auf die Frage nach der Rolle der IT und deren Einfluß auf die strategische Rüstungskontrolle äußerte McGovern, daß die Gefahr einer zwischenstaatlichen Konfrontation durch Hackerangriffe und Cyberwaffen gestiegen sei, weil man sich vor Hackern kaum schützen könne und deren Identität nicht ohne weiteres festzustellen sei. McGovern verwies auf die Sorge Rußlands angesichts des Ausbaus des Raketenabwehrsystems der NATO in Osteuropa. Aufgrund der Cyberwaffen müsse der Kreml inzwischen befürchten, die Kontrolle über seine Atomraketen verlieren zu können. Während sich JFK und KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow einst in weiser Voraussicht auf eine Nicht-Militarisierung des Weltalls geeinigt hatten, haben die USA und Israel 2010 mit Stuxnet erstmals ein Computerprogramm als Waffe gegen den Iran eingesetzt. Laut McGovern wäre vor diesem Hintergrund ein internationales Abkommen zum Verbot derartiger Technologien enorm wichtig.

Gefragt nach nach der Involvierung eines "staatlichen Akteurs" in den 11. September, was in den ersten Jahren nach 2001 Saddam Hussein unterstellt wurde, hat McGovern den offiziellen Bericht der 9/11- Kommission als Vertuschungsaktion dargestellt und dabei auf die Aussagen der beiden Kovorsitzenden Thomas Keane, dem Ex-Gouverneur von New Jersey, und Lee Hamilton, dem Ex-Kongreßabgeordneten aus Indiana, verwiesen. Demnach waren ihnen vom Pentagon und der CIA wichtige Dokumente, unter anderem bezüglich des Versagens der US-Luftwaffe sowie der Foltergeständnisse verhafteter, mutmaßlicher Teilnehmer des Komplotts wie des Pakistaners Khalid Sheikh Mohammed (KSM), nicht ausgehändigt worden. McGovern plädierte für eine neue, unabhängige Untersuchung und nahm die sogenannten "Verschwörungstheoretiker" in Schutz, da sich diese immerhin um Aufklärung bemühten und nicht mit der halbgaren offiziellen Version der Ereignisse zufriedengaben. Murray meinte ihrerseits, daß die Vorstellung, daß Osama Bin Laden und 19 Flugzeugattentäter den gigantischen US-Sicherheitsapparat in eigener Regie überlisten konnten, mehr als abwegig sei.


McGovern mit Mikrophon in der Hand spricht, während Murray neben ihm interessiert zuhört - Foto: © 2015 by Schattenblick

Der Aufklärung verpflichtet - Alle Fragen werden beantwortet
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Eine weitere Besucherin der Veranstaltung wollte wissen, wie McGovern und Murray die These von Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen Nationalen Sicherheitsberater Jimmy Carters, bewerten, wonach ein "politisches Erwachen" der Massen die größte potentielle Bedrohung der herrschenden kapitalistischen Ordnung darstelle. Sie fragte auch danach, ob die gestiegene NSA-Spionageaktivität nicht letztlich dazu diene, ein solches Erwachen zu verhindern. Elizabeth Murray meinte dazu, dank des Internets würden sich sehr viele Menschen Informationen verschaffen, welche der Linie der großen Konzernmedien zuwiderlaufen. In diesem Zusammenhang lobte sie die Nachrichtenverbreitung über die sozialen Medien wie Facebook und Twitter. Beim israelischen Angriff im letzten Sommer auf den Gazastreifen mußte die reguläre Presse immer wieder Meldungen korrigieren, nachdem Privatpersonen Gegenbeweise im Internet gepostet hatten. Den Befürchtungen der Fragestellerin bezüglich der NSA konnte Murray nur zustimmen. Sie erinnerte an das neue milliardenteure Datenzentrum, das die NSA in Utah errichtet. Dort werden künftig alle Daten über jeden gesammelt. Tauche man irgendwann bei der NSA auf dem Radar auf, habe man ein Riesenproblem, so Murray.

Laut McGovern hat sich während seiner 52jährigen Dienstzeit die Politik der USA enorm verändert. Im Vergleich zu früher gäbe es heute keine freie Presse mehr. Die Vierte Gewalt, welche der Exekutive, Legislative und Judikative auf die Finger schauen sollte, sei tot. Deshalb plädiere er für eine fünfte Gewalt aus selbstbewußten Bürgern, die sich über das Internet gegenseitig informieren. Er führte die Tatsache, daß Obama im Herbst 2013 seine angedrohten Raketenangriffe auf die syrische Armee nicht durchführen konnte, auf den öffentlichen Widerstand in Großbritannien und den USA zurück. In London hätte das Parlament Premierminister David Cameron die Gefolgschaft in der Kriegsfrage verweigert, während in Washington Generalstabschef Martin Dempsey Obama eröffnen mußte, daß die Sarin-Proben aus Syrien nicht auf eine Urheberschaft des Assad-"Regimes" hinweisen. Auf beiden Seiten des Atlantiks sei dennoch der Druck der Straße für das Ausbleiben der westlichen Militärintervention entscheidend gewesen. Murray stimmte dem zu und rief ihrerseits zu verstärkten Protesten gegen die Nutzung des US-Militärstützpunkts Ramstein als Koordinierungstelle für CIA-Drohnenangriffe im Ausland auf.

Zum Schluß wollte eine der Anwesenden wissen, was McGovern und Murray von der Einschätzung Julian Assanges in seinem Buch "Cyberpunks", die Nachrichtendienste seien dazu da, die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu verlangsamen, halten. McGovern stimmte dem zu und verwies dabei auf die gesellschaftlichen Konsequenzen durch den Umstand, daß die Hälfte des Staatshaushalts für Militär und Geheimdienste statt für Bildung, Gesundheit und Soziales ausgegeben wird. Nicht zufällig sei beispielsweise die Infrastruktur in den USA - Straßen, Bahnlinien, Brücken et cetera - marode. Er machte alle Anwesenden auf die Tatsache aufmerksam, daß er und Murray auf einer ähnlichen Veranstaltung in den USA wegen ihrer Kritik an der US-Regierungspropaganda vom Militär als "feindliche Kombattanten" festgenommen und auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden könnten. So sieht es das neue Kriegsrecht des US-Verteidigungsministerium vor. Zum Schluß meinte McGovern, die USA hätten keine Erfahrung mit dem Faschismus, daher seien die Amerikaner auf die Hilfe ihrer Freunde in Europa angewiesen, welche die dunkle Zeit der Nazi-Herrschaft noch in Erinnerung haben, um die Entwicklungen wieder zum Guten zu wenden. Ansonsten, so der CIA-Veteran, sei die Weltlage heute bedrohlicher als zu jeder anderen Zeit des letzten Dreivierteljahrhunderts.


Sandsteinfassade des modernen Hochschulgebäudes in Hamburg - Foto: © 2015 by Schattenblick

Veranstaltungsort Edmund-Siemers-Allee I - West
Foto: © 2015 by Schattenblick

23. September 2015


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