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BERICHT/216: EU-Umlastkonverter - Wertschöpfungskolonie Griechenland ... (SB)


Nationale Statthalter des imperialistischen Übergriffs

"Griechenland, EU und Euro in der Krise" - Veranstaltung am 6. November 2015 in Hamburg-Wilhelmsburg


Um die in der jüngeren Geschichte beispiellose Unterwerfung eines europäischen Staatswesens unter das Diktat der Europäischen Union oder besser gesagt deren Führungsmächte in seinen maßgeblichen Dimensionen auszuloten, bedarf es nicht zuletzt einer Analyse des spezifischen Charakters der herrschenden Klasse in Griechenland. Untersucht man die Dominanz stärkerer Staaten und ihrer Kapitalfraktionen über schwächere, stößt man in letzteren zwangsläufig auf die Beteiligung einheimischer Eliten an dieser Unterwerfung und Ausplünderung. Der griechischen Bourgeoisie ist das Hemd des eigenen Machterhalts in der Klassengesellschaft stets näher als der Rock einer möglichen Abwehr ausländischer Einflußnahme, was in der Konsequenz dazu führt, daß sie den imperialistischen Übergriff ihrer "Schutzmächte" zu Hilfe ruft oder gewähren läßt, soweit das ihren eigenen Interessen dient.

Das gilt in besonderem Maße für Griechenland, dessen Staatsgründung sich nicht einem aufstrebenden Bürgertum und dessen ökonomischer Entfaltung in Gestalt einer einsetzenden Industrialisierung verdankte, sondern das Resultat territorialer Auseinandersetzungen konkurrierender Großmächte war. In einem ersten signifikanten Bruch der 1815 auf dem Wiener Kongreß vorgezeichneten Aufteilung der Einflußsphären versenkten im September 1827 die Flotten Britanniens, Frankreichs und Rußlands bei Navarino die türkisch-ägyptische Flotte und öffneten so den Weg zur Gründung des griechischen Königreichs. Britannien und Rußland mit ihren diametral entgegengesetzten Zielsetzungen hinsichtlich des Osmanischen Reichs schmiedeten die Kompromißlösung, die Unabhängigkeit Griechenlands zu unterstützen, damit keine der beiden rivalisierenden Großmächte das exklusive Privileg der Schutzmacht für sich in Anspruch nehmen konnte. [1]

Der 1830 gegründete griechische Staat wurde von hochrangigen deutschen Beamten aufgebaut, die den Begleittroß des ersten Königs, des bayerischen Prinzen Otto, gebildet hatten. Die Zentralisierung wurde mittels einer Armee aus europäischen Söldnern gegen den Widerstand einer Gesellschaft durchgesetzt, deren Lebensweise politisch, institutionell und kulturell osmanisch geprägt war, die mithin verstreut und in Netzwerke eingebunden lebte. Der Aufbau eines modernen Staates wurde während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts unter wechselnden Erfolgen und Rückschlägen weiter vorangetrieben. Um der ländlichen Bevölkerung das widerspenstige Brigantentum auszutreiben, fungierte der Staatsapparat einerseits als Repressionsinstrument und andererseits als ein System zur Verteilung einer Art Rente oder Tribut. Zur wichtigsten Tauschwährung entwickelte sich eine Anstellung in der Verwaltung, die mit gewissen Privilegien verbunden war und mit Unterwerfung, später dann durch ein bestimmtes Wahlverhalten abgegolten wurde. [2]

Die Handelsbourgeoisie im Osmanischen Reich war traditionell auf eine internationale Geschäftstätigkeit im östlichen Teil des Mittelmeers orientiert und nicht so sehr an einem Nationalstaat interessiert. Daher hatte die griechische Aufklärung mit Zentren in Wien und Leipzig beträchtliche Schwierigkeiten, die Reeder und Handelshäuser für die Idee der nationalen Befreiung und die Konstituierung eines nationalen Wirtschaftsraums zu begeistern. Die wesentliche Kapitalakkumulation erfolgte nie durch industrielle Tätigkeit in Griechenland selbst, sondern durch Handelsgewinne, und dieses Geschäftsmodell wurde durch die Gründung des griechischen Staates nicht wesentlich verändert.

Da keine Emanzipation des Bürgertums im eigentlichen Sinn stattfand, zeichnete die herrschende Klasse eine oftmals brüchige Identität aus. Sie konstituierte keinen starken politischen, sozialen und ideologischen Block, woraus ein schwaches, autoritäres, wenig integratives und in seinen Institutionen unzulänglich ausgestaltetes Staatswesen resultierte. Die nationale Unabhängigkeit wurde eher von den Mittel- und Unterschichten erkämpft, was dazu führte, daß die griechische Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert in hohem Maße politisiert war und erhebliche Teile der Bevölkerung der Obrigkeit ablehnend bis feindselig gegenüberstanden. War schon die von den Großmächten installierte Monarchie ein gezielt eingesetztes Mittel, aufrührerische Bestrebungen in Schach zu halten, so galt dies auch für die sich bildenden Parteien. Sie waren nicht im klassischen Sinn bürgerliche Parteien, die sozialökonomische Interessen vertraten, sondern eher konkurrierende Klientelverbände, die sich an eine der Großmächte anlehnten. Ihre Zielsetzung erschöpfte sich darin, zwischen den einheimischen Interessen und jenen der dominierenden ausländischen Mächte zu vermitteln und ansonsten den Staatsapparat zu benutzen, um sich zu bereichern.


Beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Gregor Kritidis und Moderator Manfred Klingele
Foto: © 2015 by Schattenblick


"Zum Charakter der herrschenden Klasse in Griechenland"

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" [3] referierte und diskutierte der Politikwissenschaftler Dr. Gregor Kritidis auf Einladung der Marxistischen Abendschule MASCH e.V. und der Gruppe Arbeiterpolitik im Bürgerhaus Wilhelmsburg über das Thema "Zum Charakter der herrschenden Klasse in Griechenland". Wie er ausführte, wickle die von einigen wenigen Familienclans kontrollierte Reederei als maßgeblichste Sparte der griechischen Bourgeoisie mit ihrer Flotte gegenwärtig 18 Prozent des internationalen Handels ab. Diese spezifische Funktion im Rahmen des Weltkapitalismus finde ihren äußeren Ausdruck in Büros in New York, London, Luxemburg oder der Schweiz wie auch engen personellen Verzahnungen mit politischen und wirtschaftlichen Kreisen insbesondere in den USA und Großbritannien, aber auch Saudi-Arabien und anderen arabischen Ländern. So sei die Beziehung der Familien Onassis und Kennedy legendär, Spiros Latsis habe an der London School of Economics zusammen mit José Manuel Barroso studiert, dem späteren EU-Kommissionspräsidenten. EU-Fördermittel wurden über die Latsis-Bank abgewickelt, an deren Konsortium auch die Deutsche Bank beteiligt sei. Trotz aller Konkurrenzverhältnisse seien die Dynastien verwandtschaftlich miteinander verbunden.

In der Regel zeichnete die Reeder ein sehr dynamischer Aufschwung aus. Aristoteles Onassis habe sein Vermögen in Argentinien gemacht und sei erst dann wirtschaftlich in Griechenland tätig geworden. Stavros Niarchos stieg in das Geschäft seines Onkels ein und bekam nach 1945 von der US-Navy günstig Tanker, worauf er im Zuge des Korea- und Ölbooms zu einem der reichsten Reeder des Landes aufstieg. Das gehe teilweise auch mit halblegalen, illegalen und riskanten Geschäftspraktiken wie dem Ölimport aus Kriegsgebieten oder unter Umgehung von Embargos einher.

Um die Reederei gruppierten sich weitere Geschäftsfelder wie Werften und Schiffsausrüstungen, aber auch Raffinerien, der Handel mit Mineralölprodukten und Tankstellennetze, nicht zuletzt Banken und Industriebeteiligungen. Typisch für die Betätigung einflußreicher Familien seien zudem Beteiligungen an Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendern, die die öffentliche Meinung in hohem Maße prägen. Hinzu komme Immobilienbesitz vor allem im Tourismus. Führende Reeder haben Stiftungen gegründet, über die sie Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit beeinflussen. Bezeichnenderweise verhielten sich die Reeder eher wie ausländische Investoren, die in Griechenland Kapital anlegen, Bergbauunternehmen betreiben oder für den Eigenbedarf Werften bauen. Zudem erfolgten Investitionen über den Staatsapparat in die Infrastruktur wie die Eisenbahn oder den Kanal von Korinth. Das habe sich bis in die Gegenwart fortgesetzt, wenn man an den Bau von Autobahnen, Flughäfen oder die Olympischen Spiele denke. Andere Familiendynastien betrieben aber auch Industriekonsortien etwa im Stahl- und Aluminiumbereich, in der Metallverarbeitung, auf dem Energiesektor oder im Bau- und Rüstungsgeschäft.

Angesichts mangelnden Interesses der herrschenden Eliten, die Ökonomie in Griechenland selbst zu entwickeln, zeichne sich der Ausbau einer industriellen Gesellschaft tendenziell durch Stagnation aus. Dies zeige sich beispielsweise in der Schulbildung, der eine polytechnische Ausbildung lange fremd war. Die nationale Ideologie gleiche einem Konglomerat aus Antikenverehrung und orthodoxem Christentum, zumal die historische ideologische Klammer eines Griechenlands der fünf Meere und zwei Kontinente mit dem verlorenen Krieg von 1921 gegen das Osmanische Reich oder dann die jungtürkischen Revolutionäre in die kleinasiatische Katastrophe mündete, bei der 1,3 Millionen Flüchtlinge nach Griechenland strömten.


Gregor Kritidis beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Einblick in die Anatomie einer Bourgeoisie
Foto: © 2015 by Schattenblick


Kampfbedingungen der griechischen Arbeiterklasse

Wie der Referent weiter ausführte, sei die griechische Arbeiterbewegung von dieser Problemlage stark beeinflußt, zumal die industrielle Entwicklung auf relativ niedrigem Niveau schon rein zahlenmäßig zu beschränktem Einfluß der Arbeiterschaft geführt habe. Auch arbeiteten viele Bauern gleichzeitig in der Industrie wie etwa der Tabakverarbeitung, so daß sie weder ein Arbeiterbewußtsein noch ein bäuerliches Bewußtsein in Reinform ausbildeten. Die Kombination von abhängiger Beschäftigung mit Selbständigkeit sei eine bis heute existierende Erwerbsweise, etwa in der Verbindung von Landwirtschaft und Tourismus oder einer Beschäftigung im Staatssektor kombiniert mit Kleinhandel. Daraus resultiere eine breite Mittelschicht, die jedoch häufig prekäre Formen der Selbständigkeit beinhalte.

Im Unterschied zu anderen europäischen Staaten erlebte die griechische Arbeiterbewegung lange Zeit keinen Reformismus, sondern orientierte sich an ausländischen Strömungen, zuerst am Anarchismus, dann an der Zweiten Internationalen, worauf 1918 aus verschiedenen kleineren Gruppierungen die Sozialistische Arbeiterpartei gegründet wurde, aus der dann die Kommunistische Partei hervorging. Gleichzeitig wurde der griechische Gewerkschaftsbund ins Leben gerufen, wobei man sich naheliegenderweise an der erfolgreichen Oktoberrevolution orientierte. So habe sich ein revolutionärer Kern in der Arbeiterbewegung gebildet, während der Sozialstaat sehr schwach entwickelt war und die sozialen Konflikte häufig militant ausgetragen wurden.

Dabei sei es in Krisenzeiten immer wieder zu Bündnissen zwischen der Arbeiterbewegung und breiten Teilen der Mittelschicht gekommen. Zum ersten Mal habe dies während der deutschen Besatzung bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs, also von 1941 bis 1945, stattgefunden. Unter Führung der Kommunistischen Partei umfaßte die breite Befreiungsfront auch sehr viele Vertreter aus dem Lager der Liberalen und aus der Mittelschicht. Als dieses Bündnis durch die britische Intervention unter Druck geriet, brach es auseinander. Für die griechische Linke sei dies eine Katastrophe gewesen, zumal es militärisch und politisch eine Alternative gegeben hätte, da die Partisanen wesentlich stärker als anderswo waren. Der Konflikt mit den Westmächten und in gewisser Weise auch der Sowjetunion wurde jedoch vermieden.

Anfang der 60er Jahre habe unter Führung der linksliberalen Zentrumsunion unter Giorgos Papandreou zwischen 1961 und 1967 soziologisch gesprochen ein Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Mittelschichten existiert, das ebenfalls in die Katastrophe führte, nämlich die Diktatur von 1967. Nach deren Fall kam es zu einer Neuauflage dieses Bündnisses mit dem Aufstieg der PASOK, wobei man das Ende dieses Bündnisses etwa auf 1985 datieren kann, als die Reformeuphorie dieser Partei zum Erliegen kam. 1986 gab es erstmals wieder ein Austeritätsprogramm unter dem Wirtschaftsminister Kostas Dimitis. Es kam zur Spaltung der Gewerkschaftsbewegung, als sich eine Mehrheit gegen das Sparprogramm formierte. Nachdem dieser Angriff noch abgeschlagen werden konnte, kam es dann spätestens nach dem Tod des PASOK-Vorsitzenden Andreas Papandreou, von dem Spötter sagen, er sei schon vor dem biologischen Ableben tot gewesen, Anfang der 90er Jahre zum Ende der Bewegung. Die PASOK transformierte sich in eine Partei, welche die neoliberale Agenda durchsetzte, so Kritidis.

Die griechische Gewerkschaftsbewegung zeichne sich durch eine extreme Zersplitterung in 3400 teils sehr kämpferische Basisgewerkschaften einerseits und weitgehend systemkonforme Dachverbände andererseits aus. So habe jede Partei ihre eigene Richtungsgewerkschaft, die Mitglied in den Dachverbänden ist. Der Staat setze des öfteren Gewerkschaftsführungen ab, was zur Spaltung in einen offiziellen Apparat und die deutlich radikalere Basis führe. In den 70er Jahren sei ein Aufschwung der Arbeitskämpfe teilweise von der PASOK absorbiert worden, die damals ihre Richtungsgewerkschaft PASKE gründete, die vor allem im öffentlichen Dienst und den verstaatlichten Industrien stark war. Als es zum ersten Kürzungspaket der PASOK kam, spaltete sich die PASKE, wodurch deren inoffizielle Richtung zusammen mit den Kommunisten plötzlich über die Mehrheit im Dachverband verfügte. Daraufhin setzte die Regierung die Gewerkschaftsführung ab. Es gebe zahlreiche weitere Beispiele, wie Arbeitskämpfe mit staatlichen Mitteln unterbunden wurden, so der Referent.

Der größte Betrieb Griechenlands hat nur rund 1500 Beschäftigte, wovon ein Drittel Leiharbeiter sind. In den Häfen sind durch den Privatisierungsprozeß bis zu 80 Prozent der Beschäftigten freigesetzt worden. Ein Teil von ihnen bekam das Angebot, mit einem Bruchteil des früheren Lohns in Höhe von rund 500 Euro weiterzuarbeiten. Wenngleich die zahlreichen Einzelgewerkschaften in Arbeiterzentren zusammengefaßt sind, gestaltet sich jeder Abstimmungsprozeß ungeheuer langwierig. Ungeachtet dieser Zersplitterung weist die Basis doch eine Kampfbereitschaft auf, die weit höher als die der deutschen Gewerkschaften ist. So kam es in den Stahlwerken, in denen die kommunistische Gewerkschaft PAME verankert ist, 2012 zu einem langen Streik.


Imperialistischer Trittbrettfahrer im Windschatten stärkerer Mächte?

Lebhaft diskutiert wurde die Frage, ob die Rolle der herrschenden Klasse Griechenlands eher die eines Statthalters ausländischer Interessen oder Griechenland ein imperialistisches Land mit einer ebensolchen Bourgeoisie sei, wie dies die KKE postuliert. Für deren These, wonach es sich um eine Form des Imperialismus handle, spricht die Expansion insbesondere nach dem Ende des Kriegs in Jugoslawien. So findet ein Kapitalexport in der Telekommunikation, im Bankensektor und in zahlreichen weiteren Bereichen wie etwa Werften in Rumänien statt. Der Bobolas-Konzern als größtes Bauunternehmen des Landes ist in hohem Maße mit Beteiligungen wie auch Aktivitäten in Rußland, den Balkanstaaten, der Türkei und im arabischen Raum international aktiv.

Wenngleich also Kapitalexport als ein wesentliches Element des Imperialismus stattfindet, wandte der Referent ein, daß kein Zugriff auf ausländische Staatsapparate und keine relevanten Machtmittel existierten, die eigenen Interessen durchzusetzen. So seien die Konflikte mit Albanien und der Teilrepublik Mazedonien auf internationalen Druck hin relativ schnell beigelegt worden. Daher neige er zu der Einschätzung, daß Griechenland eher ein imperialistischer Trittbrettfahrer im Windschatten stärkerer Mächte sei.


Buch von Kritidis [4] auf Veranstaltungsplakat - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Modell Syriza - Befriedung bis zur Kapitulation

Als bislang letzten Fall eines Bündnisses von Unter- und Mittelschicht könne man Syriza seit 2012 einstufen, wobei sich das definitive Ende dieser Bestrebungen mit dem Sommer 2015 eindeutig datieren lasse. Mit der Kapitulationsurkunde sei das Modell Syriza gescheitert, denn danach eine Reformpolitik betreiben zu wollen, gliche einer Quadratur des Kreises. Man könne nicht gleichzeitig das Getriebe und der Sand darin sein, so Kritidis.

Daran schließe sich die Frage an, welche Alternativen es gegeben hätte. Wenn es heißt, die Syriza-Regierung sei von den Gläubigern erpreßt worden, treffe das einerseits zu. Andererseits setze eine Erpreßbarkeit voraus, daß man sich auf gleicher Ebene mit den Erpressern trifft. Syriza und die Unabhängigen Griechen als ihr Koalitionspartner wollten nicht den Konflikt mit den Gläubigern und noch viel weniger den mit der einheimischen Bourgeoisie riskieren, so die Einschätzung des Referenten. Das habe sich schon frühzeitig abgezeichnet, als etwa die gesetzliche Einschränkung der Bildung von Genossenschaften von Syriza nicht aufgehoben wurde, obgleich dies mit den Gläubigern nichts zu tun hatte. Es ließen sich noch diverse weitere Beispiele anführen, die belegten, daß es die Syriza-Regierung nicht gewagt habe, die Machtpositionen der nationalen Eliten strukturell anzugreifen.

Als es nach der Abschaltung des staatlichen Rundfunks 2013 zur Besetzung kam, versprach Syriza, die alte Rundfunkgesellschaft wiederzugründen. Die Besetzer, die den Sendebetrieb lange weitergeführt hatten, formulierten klare Forderungen nach einer demokratischeren Struktur dieses Senders. Die Syriza-Regierung brachte jedoch die alte Führungsriege zurück und erfüllte die Forderungen nicht. Auch die Bildungsreformen führten zu keiner wesentlichen Verbesserung. Ein weiteres Beispiel seien die privaten Medien, die keine Steuern zahlen und in der Regel nicht einmal über eine Sendelizenz verfügen. Es wäre mit staatlichen Mitteln ein Leichtes gewesen, die öffentliche Meinungsbildung zu demokratisieren, was Syriza jedoch unterließ. Vollends unangetastet blieben die Reeder, die seit der Diktatur qua Verfassung von Steuern befreit sind. Das gängige Argument gegen eine Besteuerung war stets, daß die Reeder dann ihre Aktivitäten endgültig ins Ausland verlegen würden. Natürlich könnte man sie angesichts ihrer Raffinerien oder Tankstellennetze trotzdem besteuern, wovon seitens der Syriza-Regierung jedoch keine Rede war.

Man muß daher davon ausgehen, daß die EU frühzeitig wußte, womit sie es bei Syriza zu tun hatte und wie sie sich ihrer bedienen könnte. Dem von dieser Sammlungsbewegung in Aussicht gestellten Keynesianismus zur Stabilisierung der Gesellschaft wurde eine Absage erteilt. Im Grunde hat Syriza wie im Zeitraffer eine sozialdemokratische Politik vorexerziert und die Massenbewegung neutralisiert, deren Druck sie in den Parlamentarismus einhegte und entsorgte. Diese Befriedung des Aufbegehrens durch ein reformistisches Parteienbündnis war um so wirkmächtiger, als in der griechischen Gesellschaft ausgeprägte kommunistische und sozialistische Strömungen aktiv sind und ein radikaldemokratisches Bewußtsein weit verbreitet ist, das immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen drängt. Mit der Kapitulation vor den Gläubigern endete der vermeintliche Aufbruch gegen die Verelendung, in den zahllose Menschen ihre Hoffnung gesetzt hatten. Der Schock sitzt tief, doch setzen bereits wieder Proteste ein, die sich gegen die Regierung richten. Ob Syriza eine Niederlage bezogen oder im Gegenteil insofern gewonnen hat, als der Zug auf kürzestem Wege in die reformistische Sackgasse gelenkt worden ist, steht als eine Frage im Raum, deren Beantwortung maßgeblich über die Zukunft des Widerstands gegen die herrschenden Gesellschaftsverhältnisse in Griechenland entscheiden wird.


Fußnoten:

[1] http://www.griechenland-blog.gr/2015/04/griechenlands-geopolitische-waffe/2134889/

[2] https://www.lettre.de/beitrag/prévélakis-georges_der-griechische-knoten

[3] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[4] Gregor Kritidis
Griechenland - auf dem Weg in den Maßnahmestaat?
Autoritäre Krisenpolitik und demokratischer Widerstand
Offizin-Verlag, Hannover 2014
148 Seiten, 15,00 EUR
ISBN 978-3945447024


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20. November 2015


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